In den Augen der westlichen Medien ist der G20-Gastgeber Indien immer noch eine schmutzige Kolonie
Von Ullekh N. P.
Vorurteile und alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer aufgeben. Deshalb konnten sich auch feudale Vorurteile aus dem 19. Jahrhundert noch bis in den von Big-Tech-Unternehmen gesteuerten Überwachungskapitalismus hinein erhalten. Kein Wunder, denn in amerikanischen Städten wie Seattle, New York, Rialto oder Memphis kann schon der Anblick eines Schwarzen in einem weißen Viertel einen verzweifelten SOS-Ruf an die Polizei auslösen. Anthropologen und Verhaltensökonomen haben über dieses Phänomen, das von Angst und Misstrauen hervorgerufen wird, eine Fülle von Abhandlungen verfasst. Aber für manche ist die pathologische Stereotypisierung von Menschen – und ja, auch von Ländern – eine unwiderstehliche Gewohnheit.
Wie prophetisch war Alexis de Tocqueville – im übertragenen Sinne – als er in Democracy in America (1835) schrieb: "Manchmal schreitet der Mensch so schnell voran, dass die Wildnis hinter ihm wieder auftaucht."
Worüber die Privilegierten unter den Homo sapiens im stillen Kämmerlein reden, geht niemanden etwas an (das fällt in die Gewinn-und-Verlust-Rechnung der Tech-Giganten, die de facto die Spionage betreiben). Aber wenn seriöse Berufe wie der Journalismus Stereotypen verinnerlichen, ist das sehr besorgniserregend. Wir brauchen nicht weit zu schauen: Dass die westlichen Medien darauf getrimmt sind, die Länder des Globalen Südens als vertraute Fremde zu betrachten, ist in ihrer Berichterstattung über das zweitägige G20-Treffen in Indien, das am 9. September beginnt, unübersehbar. Das Klischee von Indien als Land mit Millionen von Armen und einer superreichen Elite ist allerdings scheinheilig, denn das ist auch die Normalität in den meisten Ländern des Westens. Die Einkommensungleichheit im Westen ist auf einem Rekordhoch. Bringt die Typisierung mehr Klicks oder ist sie aufgrund der kolonialen Denkweise unausweichlich? Für einen ehemaligen Kolonisator wie Großbritannien ist es natürlich, diesen Fehler zu begehen, aber was ist mit den USA, die den britischen Kolonialismus abwehren konnten? Interessanterweise feiern die Amerikaner in diesem Jahr das 200-jährige Bestehen der Monroe-Doktrin, einer Politik, die darauf abzielte, die Kolonialherren in Europa in Schach zu halten.
Zwar ist ganz normal, dass sich Journalisten auf die Armen und Mittellosen konzentrieren und daher darüber berichten, wie die indischen Behörden im Vorfeld des G20-Gipfels eine "Verschönerungsaktion" zur Räumung von Slums durchgeführt haben. Doch die Beschränkung der Berichterstattung auf solche negativen Geschichten allein ist ein Beweis dafür, wie einfach es war und immer noch ist, über nicht westliche Länder zu schreiben. Auch indische Journalisten haben ausführlich darüber berichtet, dass die Organisatoren beim Umgang mit Slumbewohnern und streunenden Hunden – der mit Pfeil-und-Bogen-Methoden erfolgte – auf Widerstände gestoßen sind. Aber sie haben auch über die umfangreichen Vorkehrungen berichtet, die für den Gipfel getroffen wurden; und darüber, wie sichergestellt wurde, dass alles Indische, einschließlich der traditionellen indischen Kunst, zur Geltung kam. Die indische Zentralregierung wurde für die Vorbereitungen des G20-Gipfels sogar von einem unwahrscheinlichen Rivalen gelobt: der Aam Aadmi Party (AAP), die im Bundesstaat Delhi an der Macht ist.
Bevor Indien im Dezember die Präsidentschaft an Brasilien abgibt, werden 220 G20-Treffen in 60 indischen Städten in allen 28 Bundesstaaten und acht Unionsterritorien stattgefunden haben, was die Veranstaltung zu einer großartigen integrativen Veranstaltung macht. Natürlich hat der Gipfel, wie die meisten anderen auch, seine Schwächen, aber er hat auch Anerkennung dafür verdient, dass er den Menschen in den Mittelpunkt stellt und große Gruppen von Menschen einbezieht, die sonst nie die Gelegenheit gehabt hätten, an solchen globalen Zusammenkünften teilzunehmen.
Allein aus der Sicht der westlichen Länder hätten sich deren Medien auf den Zeitpunkt dieses Gipfels konzentrieren sollen. Die wirtschaftliche Vormachtstellung des Westens ist bedroht, und mehr Länder als je zuvor neigen nach dem Ende des Kalten Krieges dazu, sich von einer US-zentrierten Weltordnung abzuwenden. Willkürliche Sanktionen des Westens haben auch andere verärgert, die sich zusammentun, um es mit der Macht der fortgeschrittenen Länder und ihrer Agenturen aufzunehmen. Auf die G20-Mitglieder entfallen derzeit mehr als 80 Prozent des weltweiten BIP, 75 Prozent des Welthandels und 60 Prozent der Weltbevölkerung. Dabei sind die sogenannten Industrieländer heute mehr auf die Zusammenarbeit mit den nicht westlichen Mitgliedern des Forums angewiesen als bei seiner Gründung im Jahr 1999 nach einer Wirtschaftskrise.
Die Washington Post hat ihrerseits eine Geschichte darüber veröffentlicht, wie der indische Premierminister Narendra Modi die globale Veranstaltung als Re-Branding-Übung genutzt hat. In dem Artikel heißt es: "Das Gesicht des Premierministers prangt auf Plakatwänden im ganzen Land. Die Botschaft ist einfach: Indem Indien die führenden Politiker der Welt beherbergt, ist es als Weltmacht angekommen, mit Modi als der Person, die das Land dorthin gebracht hat" (die Wahrheit ist ein bisschen weniger beeindruckend: die G20 haben eine einjährige, rotierende Präsidentschaft; Indonesien war im letzten Jahr Gastgeber).
Man könnte argumentieren, dass Politiker auf der ganzen Welt solche Veranstaltungen und Anlässe nutzen, um sich bei den Staats- und Regierungschefs anderer Länder und bei ihren Wählern beliebt zu machen. In Indien läuft die erfolgreiche Kampagne Incredible India! seit Anfang der 2000er-Jahre. Globaler könnten indische Kampagnen nicht sein. Politiker gehören zu der Sorte Mensch, die sich jeder Situation gewachsen zeigen, sei es bei einer globalen Konferenz oder einer Naturkatastrophe. Pomp und Show gehören zum Berufsbild. Warum sollte man sie also missgönnen?
So wie Indien ein Problem mit der Armut inmitten des Überflusses hat, zeigen Videos, die die Obdachlosigkeit im Silicon Valley und anderswo sowie die grassierende Drogensucht in amerikanischen Städten vor Augen führen, dass es in der fortgeschrittenen Welt ernstere Probleme gibt. Die meisten Städte in Europa haben mit Einwanderung und Arbeitsplatzverlusten zu kämpfen. Die Krise der Lebenshaltungskosten auf dem Kontinent hat zu einer Verschiebung der politischen Mehrheiten und den damit einhergehenden Schwierigkeiten geführt.
Natürlich ist das alles nicht neu für Indien. Als die amerikanische Historikerin und Forscherin Katherine Mayo 1927 ein Buch mit dem Titel "Mother India" veröffentlichte, nachdem sie durch Indien gereist war und sowohl die Reichen als auch die Armen getroffen hatte, löste sie im damaligen Indien einen Aufschrei aus. Selbst heute noch würde die Verachtung, die die Autorin Indien und seiner Kultur entgegenbringt, jeden Inder vor Abscheu erschaudern lassen. Es war eine Zeit, in der Indien inmitten des Widerstands gegen die britische Herrschaft außergewöhnliche politische Umwälzungen erlebte. Deshalb kommentierte Mahatma Gandhi: "Es (Mayos Buch) ist der Bericht eines Abflussinspektors, der mit dem einzigen Ziel ausgesandt wurde, die Abflüsse des Landes zu öffnen und zu untersuchen, um darüber zu berichten oder eine anschauliche Beschreibung des Gestanks zu geben, der von den geöffneten Abflüssen ausgeht."
Indien hat sich seither ebenso drastisch verändert wie die geopolitische Landschaft. Was die Welt von Reportern und Forschern erwartet, ist sicherlich nicht die Beschönigung von Problemen, sondern ein bisschen Fairness. Es ist einfacher, Gesellschaften in gute oder schlechte Schubladen zu stecken, aber es ist der Weg des Faulenzers zum beruflichen Ruhm. In einer Zeit, in der die arbeitenden Klassen des Westens – vom medizinischen Personal bis hin zu Hollywood-Autoren – über ausbeuterische Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne klagen, ist es eine knallharte Doppelzüngigkeit, sich herablassend nur auf die Armut und die politischen Ambitionen der Führer der Entwicklungsländer zu konzentrieren.
Aus dem Englischen.
Ullekh N. P. ist ein in Neu-Delhi lebender Schriftsteller, Journalist und politischer Kommentator. Er ist Chefredakteur der Wochenzeitung "Open" und Autor von drei Sachbüchern – War Room: The People, Tactics and Technology Behind Narendra Modi's 2014 Win; The Untold Vajpayee: Politician and Paradox; und Kannur: Inside India's Bloodiest Revenge Politics.
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