Wie Indien seine weltweite Balance im Ukraine-Konflikt wahrt

Nachdem Russland am 24. Februar seine militärische Sonderoperation in der Ukraine begonnen hatte, verurteilte der Westen diese umgehen und verhängte weitere Sanktionen. Indien aber weigerte sich, Russlands Militäroperation in der Ukraine zu verurteilen und betreibt seither eine vielseitig ausgerichtete Außenpolitik zu seinem Vorteil.

Eine Analyse von Alexei Arora

Ob die Sitzungen bei den Vereinten Nationen, die Treffen der EU oder gar Gipfeltreffen der NATO-Staaten – alles wurde zur Bühne gemacht, auf denen westliche Länder und ihre Statthalter ihr Treueversprechen gegenüber den Vereinigten Staaten erneuern durften. Allerdings gibt es noch immer einige Länder, die sich zwar nicht direkt auf die Seite Russlands stellten, aber dessen Militäroperation auch nicht verurteilen. Während westliche Kommentatoren, Denkfabriken und Bürokraten von Chinas Haltung nicht überrascht waren, fanden sie es einigermaßen schockierend, dass Indien ähnlich reagierte wie China.

Anträge gegen Russland im UN-Sicherheitsrat und in der Generalversammlung der UNO sahen eine Enthaltung Indiens. Dem wurde von den üblichen Verdächtigen im Westen, die Indien aufgrund seines historischen Misstrauens gegenüber China aus irgendeinem Grund für eine US-amerikanische Kolonie halten, mit Schock, Wut und Abscheu begegnet. Es scheint, dass diese westlichen "Intellektuellen" Wesentliches der Geschichte vergessen haben.

Indien und die Blockfreiheit

Indien war Mitbegründer der Bewegung der Blockfreien Staaten, zusammen mit der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien unter Josip Broz Tito, mit Ägypten unter Gamal Abdel Nasser, Ghana unter Kwame Nkrumah und Indonesien unter Sukarno. Das Ziel dieser 1961 nach der Konferenz im indonesischen Bandung gegründeten Organisation war deren Widerstand, in bestehende Bündnisse sowohl mit den USA als auch mit der UdSSR hineingezogen zu werden. Aber angesichts der Affinität Amerikas und Großbritanniens während des Kalten Krieges zu Pakistan – die sogar so weit ging, Pakistan in eine Art "NATO Asiens" namens CENTO aufzunehmen – hatte Indien keine andere Wahl, als sich der UdSSR zuzuwenden und damit ein Bündnis einzugehen, das mit der Zeit weiter vertieft wurde. Die chinesisch-sowjetische Spaltung wiederum führte seinerzeit dazu, dass China – damals noch unter Mao Zedong – sich Pakistan und den USA annäherte.

Die Beziehungen zwischen Indien und der UdSSR umfassten auch Waffenlieferungen, gemeinsame Satelliten- und Weltraumprogramme, Technologietransfer und ausgedehnte Handelsbeziehungen. Den Höhepunkt erreichten diese Beziehungen wahrscheinlich während des Befreiungskrieges von Bangladesch im Jahr 1971, als die sowjetische Marine Indien zu Hilfe eilte, nachdem die USA und die Briten ihre Kriegsschiffe in den Golf von Bengalen entsandt hatten, um Indien einzuschüchtern und Pakistan zu unterstützen. Dies führte schließlich dazu, dass der Westen aus dieser Region vertrieben wurde und Bangladesch auch dem Orbit Pakistans entzogen werden konnte. Während dieser Zeit unterstützte die UdSSR Indien auch in der UNO bei Angelegenheiten in Bezug auf den Kaschmir-Konflikt.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 ließ Indien ohne einen solch verlässlichen Partner auf der internationalen Bühne zurück. Russland erlebte unter Jelzin seine eigenen katastrophalen Tragödien, und es schien, dass die USA zum Sheriff auf dem ganzen Globus geworden wären. Indien musste sich mit dieser Realität abfinden. Die Liberalisierung der indischen Märkte und der Aufbau einer technologiestarken Industrie führten dazu, dass globale Investitionen, insbesondere auch US-amerikanische, nach Indien strömten. Aber das bedeutete nicht, dass die USA und Indien in eine Hochzeit der Flitterwochen segelten.

Indien und die multipolare Ausrichtung

Unter Präsident Bill Clinton und seiner Außenministerin Madeleine Albright erlebte Indien dann die fortgesetzte unverblümte Unterstützung für Pakistan durch die USA – in Gestalt von Sanktionen für Indien wegen atomarer Tests (was fairerweise auch für Pakistans Test galt), aber auch die US-Unterstützung  für Pakistans Ansprüche im Kaschmir. Dies alles, zusammen mit der Abhängigkeit der indischen Armee von russischer Verteidigungsausrüstung, bedeutete, dass Indien seine Einsätze angemessen absichern musste.

Dies war der Zeitpunkt, so glaube ich, als Indien seine Blockfreiheit aufgaben, aber wenigstens zu vermeiden versuchte, auf der Seite einer Supermacht gegen eine andere gestellt zu werden und deshalb seine multipolare Ausrichtung in die Wege geleitet hat. Das bedeutete für Indien dann, diplomatische Beziehungen zu Ländern auf ganz eigenständiger Basis zu unterhalten und auf gemeinsame Interessen hinzuarbeiten, während es zugleich versucht, bestehende Differenzen anzuerkennen und zu respektieren.

Somit wurden die Sanktionen der USA gegen Indien aufgehoben, es wurde ein Nuklearabkommen unterzeichnet, der indisch-amerikanische Handel blühte auf und Indien begann, auch Waffen aus US-Produktion zu kaufen. Indien und die USA haben ähnliche Bedenken, dass China martialisch im Indopazifik auftreten könnte, und das Wiederaufleben des vierseitigen Sicherheits-Dialogs QUAD zwischen Indien, den USA, Australien und Japan unter Präsident Donald Trump signalisierte weitere Fortschritte bei den Beziehungen zwischen diesen beiden größten Ländern. Indien begann auch, bessere Beziehungen zu Großbritannien und zur Europäischen Union (EU) zu pflegen, wobei es sich hauptsächlich auf die Verbesserung der Handelsbeziehungen konzentrierte, aber auch den Kauf von französischen Waffen vorantrieb, wie zum Beispiel mit dem jüngsten Deal zum Erwerb von französischen Kampfflugzeugen des Typs Rafale von Dassault. Heute sind Indiens größte Handelspartner die USA, die EU – und China.

Aber gleichzeitig unterhielt Indien weiterhin auch enge Beziehungen zu Russland. Geschäfte über Kampfflugzeuge, die gemeinsame Entwicklung von Marschflugkörpern wie den BrahMos, Technologietransfers, die Lizenzproduktion von russischen T-90-Panzern und zuletzt der Kauf von S-400-Luftverteidigungssystemen und möglicherweise in Zukunft sogar von S-550 beweisen die guten Beziehungen zwischen Neu-Delhi und Moskau – zumindest in Bezug auf die Kooperation im Bereich der Verteidigung. Indiens Beziehungen zu Russland haben so gut wie keine Erschütterungen erlebt. Darüber hinaus sind beide Staaten auch Teil der BRICS-Wirtschaftsorganisation und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), was den Balanceakt von Neu-Delhi und seine multipolare Ausrichtung weiter absichert.

Das alles sind ziemlich gewichtige Gründe, weshalb Neu-Delhis neutrale Haltung gegenüber dem Konflikt in der Ukraine den Westen keineswegs überraschen dürfte, zumal der Westen in Bezug auf Problemfelder wie etwa Pakistan niemals auf Indiens Seite gestanden hat. Aber die oben genannten Gründe waren nicht einmal die einzigen, warum sich Neu-Delhi nun dafür entschieden hat, in der UNO seine Stimmenthaltung zu zeigen. Für Indien stand noch mehr auf dem Spiel.

Dividende für Indiens Außenpolitik

Eines der Top-Zielländer für indische Studenten, wenn sie im Ausland Medizin studieren wollen, sind die Ukraine und andere ehemalige Sowjetrepubliken. Als dieser Krieg begann, galt Indiens oberste Priorität natürlich der Evakuierung seiner Bürger, die nun in einem Kriegsgebiet festsaßen. Indien hatte in der Vergangenheit bei ähnlichen Evakuierungen – wie zum Beispiel aus Kuwait, dem Jemen und aus Libyen – beachtlichen Erfolg, und zwar nicht nur für seine eigenen Bürger, sondern manchmal auch für Bürger von Nachbarländern, wie etwa aus Nepal. Mit seiner Enthaltung bei den Vereinten Nationen wollte Indien eigentlich Neutralität signalisieren, um es beiden Kriegsparteien zu ermöglichen, bei der Evakuierung den indischen Staatsangehörigen eine sichere Passage zu gewähren.

Hier kam Indien seine multipolar ausgerichtete Außenpolitik zu Hilfe. An die Ukraine grenzende Länder wie Polen, Rumänien, Ungarn und die Slowakei unterhalten allesamt gute Beziehungen zu Neu-Delhi. Sie halfen schnell bei der Aufnahme indischer Studenten auf ihrem jeweiligen Territorium, wobei Polen seine Hand so weit ausstreckte, dass Beschränkungen bei der Visaerteilung für indische Staatsbürger kurzerhand aufgehoben wurden. Viele indische Studenten wurden auch mit Hilfe Moskaus und der russischen Armee evakuiert. Es häuften sich jedoch Berichte über Schikanen ausgerechnet seitens der ukrainischen Armee und der dortigen Neonazi-Milizen – nicht nur gegen Inder, sondern auch gegen Afrikaner. Letztlich gelang allen indischen Studenten die Flucht, weil Indien zu allen Seiten freundschaftliche Beziehungen pflegt.

Ein weiterer Bereich, in dem sich Indiens Außenpolitik als hilfreich erwies, war beim Kauf von Erdöl. Aufgrund der Sanktionen gegen Russland wurde der Import von Öl schwieriger und verschärfte sich zudem weiter, als Öl auf dem Weltmarkt teurer wurde, etwa die für Europa wichtigste Öl-Sorte Brent am 8. März fast 140 Dollar pro Barrel erreichte. Indien musste seine Ölabhängigkeit diversifizieren und auch nach billigeren Rohstoffquellen suchen. Weil Indien jahrzehntelang seine Neutralität bei den Vereinten Nationen und auch freundschaftliche Beziehungen zu Russland aufrechterhielt, bot Russland Indien schließlich einen Rabatt von 20 Prozent auf den Ölpreis an, ein Angebot, das die staatliche Indian Oil Corporation dankend annahm. Jetzt deuten Berichte darauf hin, dass Russland Indien Öl einem Preis von 35 Dollar pro Barrel (gegenüber dem Vorkriegspreis von etwa 65 Dollar pro Barrel) mit einem Rupie-Rubel-Zahlungsmechanismus angeboten hat, den der russische Außenminister Lawrow bei seinem letzten Besuch in Neu-Delhi ausgehandelt hatte.

Obwohl das ursprüngliche Geschäft nur drei Millionen Barrel umfasste – Indiens täglicher Verbrauch liegt bei etwa 4,5 Millionen Barrel – hat das dazu beigetragen, den Weg für zukünftige Geschäfte und Verträge zu ebnen, die zu günstigen Bedingungen für beide Seiten ausgehandelt werden können. Andere Unternehmen wie Hindustan Petroleum und Nayara Energy haben Berichten zufolge ebenfalls damit begonnen, russisches Öl zu kaufen. Es gibt Überlegungen, wie Indien in diesem Jahr allein durch Zahlungen in Rubeln  mehr als 15 Millionen Barrel aus Russland importieren könne, wobei es aber 2021 insgesamt 16 Millionen Barrel bezog und allein im ersten Quartal dieses Jahres bereits fast 13 Millionen Barrel importiert hat.

Die Fortsetzung dieser engeren Beziehungen könnte der indischen Industrie aufgrund niedrigerer Vorproduktkosten und des Zugangs indischer Bürger zu billigerem Kraftstoff einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, während weltweit die Produktionskosten und die Inflation in ungeahnte Höhen schießen. Parallel zu dieser Entwicklung prüft Indien diesen Rupie-Rubel-Zahlungsmechanismus auf den gesamten Handel zwischen Russland und Indien auszuweiten, während Russland sogar eine Alternative zum Finanztransaktionssystem SWIFT für die Durchführung von Banktransfers angeboten hat. Dies könnte das Ende der Vorherrschaft des US-Dollars und der amerikanischen Finanzindustrie näher rücken lassen.

Während all dies geschah, wurde der Westen verständlicherweise immer wütender. Die latente postkoloniale herablassende Haltung gegenüber Indien steigerte sich zum einem Fieberschub. Indem Indien russische Energie kauft, würde es laut schlecht informierten Meinungsäußerungen in der westlichen Presselandschaft "in den Autoritarismus abgleiten" – ungeachtet dessen, dass selbst die EU fleißig weiter russische Energieträger kauft. Die britische Außenministerin Liz Truss übte auch auf Indien zunächst Druck aus, Russland gefälligst für dessen Aktionen in der Ukraine zu verurteilen. Und dies sogar, nachdem sie sich nur fünf Monate zuvor geweigert hatte, den Terrorismus aus Pakistan auf indischem Boden gegenüber den Medien in Indien zu verurteilen! Auch vom US-Präsidenten Biden gab es wieder einmal seltsame Bemerkungen, indem er beispielsweise meinte, Indien verhalte sich in Bezug auf die Ukrainekrise "wackelig".

Aber abgesehen von solchen Äußerungen, an die sich die meisten Inder und die indischen Außenpolitiker inzwischen vermutlich gewöhnt haben, gab es (bislang noch) keine konkreten Maßnahmen des Westens gegen Indien. Während US-Sanktionen für den Kauf russischer S-400 durch Indien noch auf dem Tisch liegen, gab es bereits eine stillschweigende Akzeptanz, dass Indien seinen geopolitischen Einfluss geltend macht und einfach seine eigenen Interessen sichert, was den positiven Aspekt der multilateral ausgerichteten indischen Außenpolitik noch einmal deutlich macht.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass Indien durch die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu fast allen Konfliktparteien nicht nur seine Bürger weitgehend sicher aus der Ukraine evakuieren konnte, sondern auch den Kauf von vergünstigtem russischem Rohöl eingeleitet hat und die Entwicklung des Rupie-Rubel-Zahlungsmechanismus fortsetzen wird. Indien musste somit keine nennenswerten Rückschläge aus dem Westen hinnehmen, sondern hat stattdessen eine hilfreiche aktive Unterstützung für seine Bürger in EU-Ländern wie Polen, Ungarn und Rumänien erfahren. Dies zeigt, dass Indien auf dem richtigen Weg ist, sowohl als Mitglied der BRICS-Organisation wie auch als Mitglied des QUAD voranzukommen, um auf der Welt seine eigenen Interessen zu seinen eigenen Bedingungen zu bewahren.

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Übersetzung aus dem Englischen

 Alexei Arora ist ein Kommentator, der über Geopolitik, globale politische Ökonomie und politische Theorie schreibt. Man kann ihm unter Substack folgen.

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