Lateinamerika

UNO-Bericht: "Schwere Menschenrechtsverletzungen" in Chile

Der UN-Bericht zu den jüngsten Sozialprotesten in Chile führt schwere Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär auf. Die Regierung weist die Vorwürfe zurück und plant neue Sicherheitsgesetze sowie eine Reform der Verfassung aus der Zeit der Pinochet-Diktatur.
UNO-Bericht: "Schwere Menschenrechtsverletzungen" in ChileQuelle: AFP © Martin BERNETTI

Der Mitte Dezember veröffentlichte Bericht der Mission der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, in Chile kommt zu dem Schluss, dass es "gute Gründe für die Feststellung gibt, dass es seit dem 18. Oktober 2019 eine hohe Zahl schwerer Menschenrechtsverletzungen gegeben hat".

Die von der chilenischen Regierung eingeladene Mission begutachtete vom 30. Oktober bis zum 22. November sieben Regionen (Antofagasta, Araucanía, Biobío, Coquimbo, Maule, Metropolregion und Valparaíso) des südamerikanischen Landes.

Während ihres Besuchs überprüfte sie die Menschenrechtssituation im Zusammenhang mit den Protesten und dem von Präsident Sebastián Piñera verhängten Ausnahmezustand, registrierte die wichtigsten Muster und Ausrichtungen der begangenen Menschenrechtsverletzungen, analysierte die Reaktion des Staates und gab Empfehlungen ab.

Zuvor veröffentlichten bereits Amnesty International und Human Rights Watch Berichte, die die Kritiken aus der chilenischen Zivilgesellschaft am Vorgehen der Sicherheitskräfte bestätigen.

Auch das chilenische Nationale Institut für Menschenrechte (INDH) kommt in seinem inzwischen veröffentlichten jährlichen Bericht zu gleichlautenden Einschätzungen der jüngsten Vorgänge in Chile. Demzufolge kam es beim Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten zu "den schwersten Menschenrechtsverletzungen seit 1989", dem Ende der Diktatur von Augusto Pinochet:

Neben anderen Rechten wurde auf schwerste Weise das Recht auf Leben und physische wie psychische Unversertheit verletzt.

Repressives Vorgehen der Militärpolizei

Nach Angaben des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) haben sich die Militärpolizei und die Armee nicht an internationale Normen und Standards gehalten.

Was die Aktionen der staatlichen Sicherheitskräfte betrifft, so stellte er fest, dass die Militärpolizei während des friedlichen Protests mit "nicht tödlicher Gewalt" reagierte und unverhältnismäßig häufig Waffen zur Aufstandsbekämpfung einsetzte sowie Munition aus Bleischrot abfeuerte, die nicht für Einsätze dieser Art zugelassen waren.

Tote bei den Protesten

Die chilenische Staatsanwaltschaft berichtete am 19. November von 26 Ermittlungsverfahren gegen "im Rahmen von sozialen Protesten getötete Personen", die am 18. Oktober begonnen hatten.

Die UN-Mission bestätigte Informationen über elf dieser Fälle, die zeigten, dass: vier Todesfälle mit willkürlichen und rechtswidrigen Handlungen von staatlichen Einsatzkräften verbunden waren; eine Person an Schüssen starb, die von einem Zivilisten in Verbindung mit einem Soldaten abgefeuert wurden; ein Demonstrant bei einem der Proteste an einem Herzinfarkt starb; eine Person angeblich Selbstmord auf einer Polizeistation beging; vier Todesfälle mit Brandstiftung und Plünderung verbunden waren.

Verletzungen und Läsionen der Augen

Hinsichtlich der Verletzten erklärt der Bericht, dass die Zahl je nach Quelle unterschiedlich ist. So gibt beispielsweise das INDH an, dass 3.449 Menschen verletzt wurden; das Justizministerium vermeldete, dass vom 19. Oktober bis zum 6. Dezember 3.590 Menschen (1.300 Zivilisten und 2.705 Polizisten) verletzt wurden; das Gesundheitsministerium berichtete, dass es vom 18. Oktober bis zum 7. Dezember in 12.738 Fällen medizinische Notfallversorgung leistete.

Der OHCHR hat mehrere Fälle von Augenverletzungen dokumentiert, die auf Schüsse von Militärpolizisten aus Gewehren zur Aufstandsbekämpfung, die Verwendung von chemischen Reizmitteln und die Auswirkungen von Tränengaspatronen zurückzuführen sind.

Die Chilenische Gesellschaft für Augenheilkunde stellte im Zusammenhang mit den Demonstrationen für den Zeitraum vom 19. Oktober bis zum 3. Dezember fest, dass 345 Menschen Verletzungen mit Augentraumata erlitten haben, während der INDH zwischen dem 17. Oktober und dem 6. Dezember 352 Personen mit solchen Schädigungen ermittelte.

Informationen über Folterungen

Der OHCHR sammelte Daten über 133 Folter- und Misshandlungsakte, die angeblich von Angehörigen der Militärpolizei und der Armee während der Verhaftung, der Verbringung in Haftanstalten oder der Inhaftierung begangen wurden.

Zu den Formen der Misshandlung gehören Schläge, Tritte und Strangulierungen, Überfahren mit Militärfahrzeugen oder Motorrädern sowie psychologische Folterungen.

In dem Bericht wird aufgeführt, dass die Staatsanwaltschaft 44 Ermittlungsverfahren wegen Folter eingeleitet hat und dass das INDH vom 18. Oktober bis zum 6. November 544 Beschwerden im Zusammenhang mit 633 angeblichen Fällen von Folter und Misshandlung eingereicht hat.

Darüber hinaus sammelte die UN-Mission Informationen über 24 Fälle sexueller Gewalt im Rahmen der Proteste. Betroffen waren 14 Frauen, sechs Männer, drei Mädchen und ein Junge. Das INDH seinerseits reichte 108 Folterbeschwerden ein, die sich auf Vorwürfe in 166 Fällen solch sexueller Übergriffe bezogen.

Verhaftungen

Dem Bericht zufolge wurden nach Angaben des Justizministeriums zwischen dem 19. Oktober und dem 6. Dezember 28.210 Personen verhaftet. Zum Zeitpunkt des Berichts befanden sich 1.615 Personen in Untersuchungshaft, während die anderen freigelassen wurden.

Zu den Beschwerden, die dem Hochkommissar zugegangen sind, gehörten rechtswidrige Inhaftierungen durch Mitglieder der Sicherheitskräfte ohne Ausweis, die Verfolgung von Demonstranten, die Zurückhaltung ihrer Dokumente und Schläge nach der Verhaftung.

Es wurden auch Gewalttaten gegen Beamte dokumentiert. Nach Angaben des Innenministeriums wurden zwischen dem 18. Oktober und dem 6. Dezember 2.705 Mitglieder der Sicherheitskräfte verletzt.

Schlussfolgerungen

  • Es besteht Grund zur Annahme, dass es eine große Zahl schwerer Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßige Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte gegeben hat.
  • Es gibt eine "alarmierend hohe" Anzahl von Menschen mit Augenverletzungen.
  • Der OHCHR dokumentierte vier Fälle willkürlicher und rechtswidriger Todesfälle, in die staatliche Akteure verwickelt sind.
  • Es gab zahlreiche Verhaftungen ohne besonderen Grund, die als willkürlich angesehen werden konnten.
  • Frauen, Mädchen und LGBTI-Personen haben spezifische Formen sexueller Gewalt erlebt.
  • Jugendliche und junge Erwachsene stellen die Mehrheit der mutmaßlichen Opfer von Menschenrechtsverletzungen dar.

Empfehlungen

Zu den 21 Empfehlungen des OHCHR gehört die Forderung, sicherzustellen, dass die Menschen ohne unnötige und unverhältnismäßige Einschränkungen oder Risiken für ihre körperliche Unversehrtheit und andere Menschenrechte demonstrieren können.

Es ist zu gewährleisten, dass die Sicherheitskräfte die internationalen Normen für den Einsatz von Gewalt einhalten und nicht wahllos Waffen zur Aufstandsbekämpfung bei der Sicherung von Protesten einsetzen.

Darüber hinaus ist zu garantieren, dass die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit zivilen Polizeikräften vorbehalten ist, und sicherzustellen, dass der Staat alle Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen untersucht.

Reaktion der Regierung

Die Regierung von Präsident Sebastián Piñera weist darauf hin, dass der UN-Bericht "eine große Anzahl von falschen Nachrichten bestätigt hat, die weit verbreitet wurden, obwohl sie von der Staatsanwaltschaft oder den Gerichten zurückgewiesen wurden".

Laut chilenischer Regierung sind folgende Punkte des UN-Berichts zu präzisieren:

Todesfälle

Vier von 26 Todesfällen gehen zwar auf Handlungen staatlicher Sicherheitskräfte zurück, doch die anderen Todesfälle sind "auf andere Ursachen zurückzuführen, die meisten davon im Zusammenhang mit Plünderungen und Bränden, und stehen in keinem Zusammenhang mit den friedlichen Demonstrationen".

Augenverletzungen

Die im Bericht genannten Zahlen berücksichtigen nicht die Angaben des Gesundheitsministeriums, wonach zwischen dem 18. Oktober und dem 2. Dezember 239 Patienten behandelt wurden, von denen 75 keine Einschränkungen der Sehkraft aufweisen, 16 auf einem Auge erblindet sind und 148 unter Beobachtung des Heilungsprozesses stehen. Zwei weitere Personen haben ihr Augenlicht vollständig verloren.

"Außergesetzliche Hinrichtungen"

Kritisiert wird die Verwendung des Begriffs "außergerichtliche Hinrichtungen" im UN-Bericht, "in einem Land, in dem die Rechtsstaatlichkeit voll verwirklicht ist" und in dem die "staatlichen Behörden wegen Tötungen gegen zwei Angehörige der Sicherheitskräfte ermitteln".

Verhaftungen

Von den im UN-Bericht zwischen dem 19. Oktober und dem 6. Dezember genannten 28.120 Verhaftungen betreffen laut Regierung weit mehr als die Hälfte zeitlich vorangegangene Fälle. Hinsichtlich der "willkürlichen" Verhaftungen "bleibt klarzustellen, dass 95,1 Prozent aller seit dem 18. Oktober erfolgten Verhaftungen von den Gerichten für rechtmäßig erklärt wurden".

In einer öffentlichen Rede sagte die Unterstaatssekretärin für Menschenrechte Lorena Recabarren, dass sie die Aussagen des UN-Berichts "gebührend zur Kenntnis genommen" hätten, insbesondere in Bezug auf die Frage der Polizeiaktionen, hier seien bereits Schritte unternommen worden.

Die Regierung hat über ihre Ministerien und in Abstimmung mit der Zivilgesellschaft die Verpflichtung übernommen, denjenigen zu helfen, die als Opfer von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen gemeldet wurden", so Recabarren.

In der Zwischenzeit hat die Regierung Piñera neue Gesetzesvorhaben zum Schutz der Sicherheitskräfte auf den Weg gebracht. Die sogenannten "Anti-Vermummungs-Gesetze" und "Anti-Barrikaden-Gesetze" beinhalten deutliche Strafverschärfungen für im Rahmen von Demonstrationen begangene Delikte, in denen die Zivilgesellschaft eine Kriminalisierung der Proteste und einen Freibrief der Straflosigkeit für das Vorgehen der Sicherheitskräfte sieht.

Anklage wegen Menschenrechtsverbrechen

Ein Strafgericht in der chilenischen Hauptstadt Santiago ließ vergangene Woche eine Klage gegen Präsident Piñera und weitere hochrangige Regierungsmitglieder und die Oberkommandierenden von Polizei und Armee zu, in der ihnen Menschenrechtsverbrechen im Zusammenhang mit den Übergriffen der Staatsgewalt während der Sozialproteste vorgeworfen werden.

Sollte das Verfahren erfolgreich sein, drohen dem chilenischen Präsidenten bis zu 20 Jahre Gefängnis", sagte Senator Alejandro Navarro, der die Klage eingereicht hatte.

Ebenfalls in der vergangenen Woche hat die chilenische Abgeordnetenkammer eine Verfassungsbeschwerde gegen Piñera wegen Menschenrechtsverletzungen im Rahmen jüngster Proteste abgewiesen. Ein Erfolg dieser Beschwerde hätte die Amtsenthebung des Präsidenten und eine Suspendierung von öffentlichen Ämtern für fünf Jahre bedeutet.

Sozialproteste und Verfassungsreform

Anfang Oktober begannen in Chile Proteste gegen eine Erhöhung der Fahrscheinpreise für die Metro von Santiago, die später von Präsident Piñera zurückgenommen wurde.

Die Proteste weiteten sich aus und umfassten zunehmend weitere soziale Forderungen. Es kam zu Bränden, Zerstörungen mehrerer U-Bahn-Stationen und Dutzenden von Demonstrationen an verschiedenen Orten in Chile.

Beim Nationalen Institut für Menschenrechte Chiles gingen Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen durch das Vorgehen von Polizei und Militär ein, die ihnen Folter, Machtmissbrauch, Schläge und willkürliche Verhaftungen vorwarfen.

Angesichts der massiven Proteste einigte sich Präsident Piñera auf ein "Friedens"-Abkommen mit der Opposition zur Reform der Verfassung, die seit 1980 in Kraft ist und damit noch aus der Zeit der Diktatur von Augusto Pinochet stammt.

Am 26. April 2020 sollen die Chilenen darüber abstimmen, ob sie eine Verfassungsänderung unterstützen oder nicht. Sollte eine Verfassungsänderung beschlossen werden, dann haben die Wähler zwischen zwei Mechanismen der Ausarbeitung einer neuen Verfassung zu entscheiden: einer Verfassungsgebenden Versammlung, die sich allein aus Bürgern zusammensetzt, oder einem gemischten Verfassungskonvent, in dem Bürger und Parlamentarier je die Hälfte der Teilnehmer stellen.

Die Wahl der Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung wäre dann für Oktober 2020 vorgesehen, zeitgleich zu den Regional- und Kommunalwahlen. In einem abschließenden Referendum mit Wahlpflicht müsste diese neue Verfassung dann bestätigt werden.

Mehr zum Thema - Das wiederholte Scheitern der IWF-Rezepte – Strategie oder Irrtum?

Weiterführende Informationen

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.