Lateinamerika

Venezuelas Wirtschaftskrise: Kritik an regierenden Sozialisten wächst – auch in den eigenen Reihen

Stimmen aus der Regierungspartei in Venezuela fordern eine offene Diskussion über Wirtschaftsmaßnahmen. Verzögerte Reformen, Wirtschaftskriminalität und Sanktionen sind eine gefährliche Mischung für die Entwicklung im Jahr 2019.
Venezuelas Wirtschaftskrise: Kritik an regierenden Sozialisten wächst – auch in den eigenen Reihen Quelle: Reuters

von Maria Müller 

In den vergangenen Wochen sprachen mehrere populäre Persönlichkeiten aus dem Lager der Chavisten vor der Verfassungsgebenden Versammlung (ANC) in Caracas über die Wirtschaftsprobleme des Landes. So fand die Rede des 80-jährigen Julio Escalona, Ex-Guerillero und hochrangiger Abgeordneter der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), eine große Resonanz in der Bevölkerung.

Escalona kritisierte, dass die Verfassungsversammlung (ANC) ihre Sonderrechte bisher nicht entschieden genug dafür eingesetzt habe, strukturelle Wirtschaftsreformen durchzusetzen:

Wir Abgeordneten der Verfassungsversammlung haben bisher die Erwartungen nicht erfüllt, die wir in der Bevölkerung geweckt haben.

Die im Juli 2017 gewählte Versammlung sollte mit einer reformierten Verfassung dazu beitragen, das von gewalttätigen Protesten erschütterte Land zu befrieden. Kritiker sehen in ihr ein Parallelparlament, das die von der Opposition beherrschte Nationalversammlung faktisch kaltstellte.

Der zweite Vizepräsident der Verfassungsversammlung, Dr. Isaías Rodríguez, äußerte sich in dem Pressemedium Hinterlaces über die damals mit der Wahl verbundenen Erwartungen. Nach seiner Ansicht brachten die gut acht Millionen Stimmen für dieses Sonderparlament, in dem alle gesellschaftlichen Kräfte vertreten sind, den Wunsch nach einer grundlegenden Lösung der Krise zum Ausdruck. Man habe sich erhofft, dass das neue Gremium ein nationales Notprogramm in Zusammenarbeit mit der Opposition erstellen würde. 

Ein solcher Plan mit breitem politischen Konsens hätte die Wirtschaft aus der Krise holen können, glaubten Millionen Venezolaner. Doch die Parteienallianz der oppositionellen MUD (Tisch der demokratischen Einheit) verweigerte jede Zusammenarbeit, wodurch das wichtigste Ziel des gewählten Verfassungsorgans schon zu Beginn zum Scheitern verurteilt war. Die wirtschaftliche Talfahrt beschleunigte sich zusehends.

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Dadurch büßte zwar die Opposition mit ihrer sichtbaren Abhängigkeit von ausländischen Mächten viel an politischer Glaubwürdigkeit ein. Doch auch das Regierungslager verliert an Vertrauen. Die Analytikerin und Journalistin Eva Golinger bestätigte Ende Dezember in ihrem RT-Artikel allerdings, dass in der Bevölkerung das Projekt einer sozialen Wirtschaft nichts an Anziehungskraft eingebüßt habe. Vielmehr wachse der Zweifel an der Fähigkeit und dem politischen Willen der gegenwärtigen politischen Führungskräfte von links und rechts, dies zu verwirklichen. 

Oscar Schémel, ein bekannter Fernsehjournalist und Vertreter der Unternehmerschaft in der Verfassungsversammlung, zählt ebenfalls zu den kritischen Stimmen. Seiner Meinung nach verschärfen die US-Finanzsanktionen zwar die Krise, doch hausgemachte Probleme würden ebenso dazu beitragen. 

Er vertritt vehement die These, Venezuela müsse dringend zu einem flexiblen Wechselkurs übergehen. Die staatliche Kontrolle des Wechselkurses als auch der Preise könnte in manchen Situationen sinnvoll sein, dürfte jedoch nicht zur Grundregel werden. Sonst würde sie die Inflation und die Korruption verstärken, die Produktivität hingegen schwächen. 

Der stark überbewertete Wechselkurs habe bisher die Importe so billig gemacht, dass es bequemer war, alles aus dem Ausland zu importieren anstatt selbst zu produzieren. Die Unternehmer erhalten verbilligte Dollars vom Staat, um Maschinen und Rohstoffe international einkaufen zu können und damit die nationale Produktion zu verbessern.

Doch die Fabrikanten überweisen diese Dollars stattdessen lieber auf ihre Off-Shore-Konten, verstärken somit die Kapitalflucht und lassen die Preise in die Höhe schnellen. Ihre angeblichen Importe von Gütern zur Entwicklung der Eigenproduktion haben sich häufig als Betrugsmanöver entpuppt – die Container waren leer.

Das Portal amerika21.de schreibt dazu:

Die anerkannte Firma Ecoanalítica errechnete, dass zwischen 2003 und 2012 rund 69,5 Mrd. US-Dollar über betrügerische Importe geraubt wurden. Exporteure aus der Freihandelszone aus Panamá stellten 1,4 Mrd. US-Dollar für Sendungen nach Venezuela in Rechnung; panamaische Funktionäre versicherten, dass hiervon 937 Mio. Betrug waren. Die Firmen hatten Rechnungen für Produkte ausgestellt, die nicht existierten.

Die seit 2015 drastisch gefallenen Erdölpreise haben dem Staatshaushalt und der Privatwirtschaft Venezuelas die wichtigste Einnahmequelle entzogen. Der Einbruch sorgt für wachsende Finanzierungsdefizite in der subventionierten Wirtschaft. Dazu kommt ein bedeutender Rückgang der Erdölfördermenge. Spätestens hier wurden dem bisherigen System die Grundlagen entzogen, seine Schwächen offenbart. Doch radikale Reformen blieben aus.

"Warum halten wir immer noch an einem festgelegten Wechselkurs fest, wenn er in der Praxis nicht funktioniert?", war die entscheidende Frage von Julio Escalona vor der Verfassungsversammlung. 

Bislang gibt es dafür verschiedene Hypothesen. Mögliche negative soziale Folgen mit Verlusten an der politischen Basis scheinen dabei eine Rolle zu spielen. Doch vor allem die Furcht vor einer unkontrollierbaren internationalen Manipulation der Währung hat dabei Gewicht. Der Menschenrechtsexperte der UNO, Alfred-Maurice de Zayas, bemerkte in seinem Bericht über Venezuela im August 2018:

Währungsspekulation ist eines der bevorzugten Instrumente, um gezielt Volkswirtschaften zu destabilisieren.

Die Bedingungen des gegen Venezuela entfachten Wirtschaftskrieges machen solche Maßnahmen riskant, die unter normalen Verhältnissen naheliegend wären. Doch das alternativlose Festhalten am Status quo war offenbar genauso schädlich wie das bedrohliche Risiko. Eine rechtzeitige Kursänderung hätte es ermöglicht, Reformschritte etappenweise anzugehen und ihre Folgen abzufedern. Heute ist die Inflation Venezuelas außer Kontrolle und die höchste der Welt.  

Die Einführung des "Petro", einer mit den reichen Rohstoffreserven Venezuelas abgesicherte "Kryptowährung", an die der Bolivar gebunden wurde, versprach zwar anfänglich einen Weg aus der Finanzkrise. Die USA haben jedoch rasch Sanktionen gegen den Petro eingeführt. In Washington will man der venezolanischen Wirtschaft keinen Ausweg lassen.  

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Ein weiteres Problem sind die staatlich festgesetzten Preise für subventionierte Konsumgüter des täglichen Bedarfs und für Medikamente. Das System sollte eigentlich die Versorgung der bedürftigen Gesellschaftsschichten in Venezuela sichern. Doch die Waren werden von den großen Verteilerketten häufig versteckt, künstlich knapp gehalten und dann überteuert angeboten. Auch das große Leerkaufen für das Verschieben in den Schwarzmarkt ist ein beliebtes Geschäft - nur dort finden sich die Dinge zu Höchstpreisen wieder. 

Die subventionierten Billigwaren für das Volk boten gleichzeitig den Anreiz für einen massenhaften Schmuggel in die teureren Grenzregionen der Nachbarländer. Dort können Tausende von venezolanischen Grenzgängern dann all das kaufen, was aus den leergefegten Regalen ihrer eigenen Geschäfte verschwunden ist – samt der notwendigen Medikamente, die oft auf der Straße angeboten werden. 

Auch der bis vor kurzem vom venezolanischen Staat extrem niedrig gehaltene Benzinpreis (der billigste der Welt) provozierte eine seit vielen Jahren zur Routine gewordene Schmuggelwirtschaft in die Nachbarregionen. Die verarmten kolumbianischen Grenzgebiete hängen zum großen Teil von diesem massenhaften Raub beim Nachbarn ab. Im August erhöhte die venezolanische Regierung zum ersten Mal seit 20 Jahren den internen Benzinpreis.   

Präsident Nicolás Maduro beschwört in seinen Reden schon seit Jahren die Notwendigkeit, die "Importwirtschaft" zu beenden. Die passive Abhängigkeit vom Rohölverkauf als hauptsächliche Einnahmequelle müsse in eine aktive und vielfältige Eigenproduktion umgewandelt werden. Auf seine Initiative hin kommt es immer wieder zu Verhandlungen und Treffen mit Firmeninhabern, auf denen stets neue Pläne mit Anreizen vorgestellt werden, um die Produktivität Venezuelas anzukurbeln. Sie zeigen jedoch nicht den gewünschten Erfolg. 

Die Investitionsanreize uferten in manchen Fällen zu einem wahren Transfer der Erdölerlöse in den Privatsektor aus", kritisierte der frühere Guerillero Julio Escalona in seiner Rede vor der ANC.

Unter diesen Bedingungen entfernt sich die subventionierte Wirtschaft immer weiter von einem solidarischen Entwicklungsmodell und wird zum reinen Verlustgeschäft. Die weit verbreitete Wirtschaftskriminalität trägt mit zum Aderlass der venezolanischen Ökonomie bei. Die Staatsschulden wachsen. Erst recht, seitdem die US-Sanktionen im Finanzbereich die Importe komplizieren und extrem verteuern.

Zum Schluss seien noch die seit Amtsantritt des neuen Staatsanwaltes William Saab im August 2017 auf Hochtouren laufenden Ermittlungen gegen Korruptions- und Betrugsringe genannt. 

Die staatliche Ölgesellschaft PDVSA ist davon stark betroffen. Seit dem Amtsantritt von Saab im August 2017 wurden 616 Personen wegen Korruption verurteilt. Auch ausländische Firmen und deren Angestellte beteiligen sich an Korruptions- und Betrugsaktionen, die dem Land einen Schaden von mehreren Milliarden Dollar einbrachten. Darunter auch Mitarbeiter der US-Ölfirma Chevron oder der Direktor der schweizerischen Bankengruppe Julius Bär, die alle heute vor US-Gerichten stehen. Gegenwärtig seien rund hundert Personen inhaftiert, darunter 20 hochrangige PDVSA-Funktionäre.  

Julio Escalona beendete seine Rede vor der Verfassungsversammlung mit einer Warnung vor den Konsequenzen dieser Entwicklungen:

Das venezolanische Volk… ist standhaft und wählt die PSUV. Es sind Menschen voller Vertrauen. Aber wissen wir was passiert, wenn Menschen ihren Glauben verlieren? Faschismus… Der Faschismus ist uns nahe, in Brasilien, aber auch in Kolumbien. Wir müssen diese Beispiele sehen und sehr ernst nehmen.

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