Lateinamerika

Brasilien: Militärischer Dauereinsatz in Rio de Janeiro befeuert Angst vor Rückkehr der Diktatur

Brasiliens De-facto-Präsident Michel Temer beorderte am 16. Februar die Armee in die Straßen von Rio de Janeiro. Offiziell soll sie dort die wachsende Kriminalität bekämpfen. Doch die Furcht vor einer Rückkehr der Diktatur ist längst wiedererwacht.
Brasilien: Militärischer Dauereinsatz in Rio de Janeiro befeuert Angst vor Rückkehr der DiktaturQuelle: Reuters © REUTERS/Pilar Olivares

von Maria Müller

Am 20. Februar stimmten die Abgeordnetenkammer und der Senat in Brasilia für den Antrag des Präsidenten, die Armee in die Metropole zu entsenden. Der Ausnahmezustand in Rio de Janeiro soll bis zum 31. Dezember des Jahres andauern.

Temer und die Befürworter dieses riskanten Schrittes argumentieren, dass im Bundesstaat Rio de Janeiro ganze Landstriche und große städtische Zonen unter der Kontrolle von Organisationen der Drogenmafia stehen. Diese liefern sich untereinander blutige Kämpfe. Allein im vergangenen Jahr seien über 6.000 Menschen in den Drogenkriegen ums Leben gekommen. Das müsse nun ein Ende haben. Luiz Fernando Pezao, der Gouverneur von Rio und Parteigänger von Temer, hat den Einsatz des Militärs akzeptiert.

Doch bisherige Initiativen dieser Art haben in den vergangenen Jahren keine wirklichen Veränderungen gebracht. Vor allem auch, weil Millionengelder für begleitende soziale und Bildungsmaßnahmen in den Taschen der örtlichen Verwaltungsleiter verschwanden. Auch sei der angebliche Schutz unbeteiligter Bürger in den kritischen Zonen nur vorübergehend vorhanden. Nach dem Abzug der Truppen bleibt alles beim Alten.

Politik der harten Hand als einzige Chance für Temer

Kritische Stimmen innerhalb der Streitkräfte sehen unterdessen sogar Gefahren, die mit dem längeren Einsatz des Militärs im Kampf gegen das organisierte Verbrechen verbunden seien. Die Soldaten würden über kurz oder lang selbst davon "infiziert", das Verbrechen könne in die inneren Strukturen der Armee vordringen.

Kritiker versichern auch, dass es in den vergangenen Monaten keine Gewaltexzesse gegeben habe, die aus dem bisherigen Panorama hervorstechen und eine spezielle Reaktion solcher Art rechtfertigen würden.

Beim Karneval von Rio gab es wie jedes Jahr mehrere Zwischenfälle mit Todesfolgen. Auch in der Nähe des Stadions, in dem die Umzüge stattfinden, fielen Schüsse. Dennoch sehen zahlreiche Bürger das Ganze eher als einen Versuch Temers, sein Ansehen zu verbessern. Ein energisches Durchgreifen in Sicherheitsfragen könnte ihm Punkte einbringen und sein miserables Zustimmungsrating von mittlerweile nur noch vier Prozent erhöhen.

Doch der Karneval war dieses Jahr besonders stark politisch geprägt. Es gab Sprechchöre und massive Kritik an Michel Temers Führung, ihn selbst stellte man ironisch als Vampir dar. Es sei eine klare Veränderung in der politischen Stimmungslage sichtbar geworden. Die Reaktion des ungeliebten Präsidenten kam drei Tage nach Ende des Volksfestes, das in Brasilien auch ein soziales und politisches Barometer darstellt.

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Militär gibt einmal erlangte Machtbefugnisse nur ungern her

Manche Medien weisen darauf hin, dass auch Dilma Rousseff im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 die Armee in den "Favelas", in den gefährlichen Armenvierteln Rios, eingesetzt habe. Im Unterschied zu heute unterstanden die Truppen damals jedoch stets den zivilen Regierungsautoritäten vor Ort. Heute übernimmt ein General, Souza Braga, zivile Befugnisse, mithilfe derer er Soldaten in öffentlichen Institutionen stationieren kann. So auch in Schulen, Krankenhäusern, Fußballstadien, Kirchen, in den Gefängnissen und auf den Straßen. Er kann auf unbegrenzte Zeit nächtliche Ausgangssperren ausrufen.

Die Geheimdienste werden nun von Offizieren beaufsichtigt. Auch die örtliche Polizei und die Feuerwehr sind ihnen unterstellt.

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Immer mehr kritische Stimmen verurteilen das Vorgehen Temers und bezeichnen es als einen neuen "Putsch im Putsch". Der Militäreinsatz und die Übernahme ziviler Befugnisse sei ein Testfall, um auszuloten, wie die brasilianische Gesellschaft darauf reagiert. In anderen Bundesstaaten wird bereits befürchtet, dass unter dem Vorwand der Drogenbekämpfung auch dort bald die Armee entscheidende Machtpositionen übernehmen wird - gerade angesichts der anstehenden Präsidentschaftswahlen.

Die Übergabe der zivilen Macht an die Streitkräfte beginnt schrittweise, doch danach ist es schwer, sie wieder zurückzuholen…",

kommentierte der brasilianische Journalist und Herausgeber der Zeitschrift Forum die Vorgänge.

Viele Brasilianer befürchten gar, dass die Präsidentschaftswahlen nicht mehr stattfinden werden. Denn eine Wahlniederlage der rechten, konservativen und ultrarechten Kandidaten zeichnet sich ab.

Soll populärem Linkskandidaten Lula der Sieg genommen werden?

Der Fernsehmoderator Luciano Huck ist ein Kandidat der neoliberalen Kräfte in Brasilien und wird vom Medienimperium O Globo favorisiert. Er trat in dieser Woche von seiner Kandidatur zurück, nachdem Anschuldigungen gegen ihn laut geworden waren, staatliche Gelder für den Kauf eines Privatjets verwendet zu haben. Zwei weitere Anwärter für das Präsidentenamt, der Gouverneur von Sao Paulo, Geraldo Alckmin, und der Ex-Militär Jair Bolsonaro, ein weit rechts angesiedelter Einpeitscher mit Rückhalt im Militär, verlieren an Terrain. Sie bleiben laut Umfragen immer weiter hinter dem Ex-Präsidenten Luiz Ignacio da Silva von der brasilianischen Arbeiterpartei PT zurück, dessen Zustimmung in der Bevölkerung wächst.

Der neu eingesetzte, ebenfalls stark rechtslastige Präsident des Wahlgerichtes, Luiz Fux, hat bereits deutlich gemacht, dass ein verurteilter Kandidat wie im Falle von da Silva nicht zu den Präsidentschaftswahlen zugelassen wird.

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Im Klartext: Wenn keiner der rechten Kandidaten eine Gewinnchance hat, wird der institutionelle Putsch im brasilianischen Staat weiter vertieft. Diesem Ansatz zufolge werden dann die möglicherweise in verschiedenen Bundesstaaten nach dem gleichen Modell bereitstehenden Truppen dazu benutzt, um die Wahlen zu verhindern oder zu verschieben und Proteste dagegen im Keim zu ersticken.

Bereits im September vergangenen Jahres erklärte der General Antonio Martins Mourão, dass das Oberkommando der Streitkräfte die Möglichkeit einer militärischen Intervention für den Fall prüfe, dass die politische Krise nicht vermittels der Institutionen gelöst werden kann.

Diese unmissverständliche Drohgebärde kam in dem Augenblick, als der frühere Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot bereits zum zweiten Mal Präsident Temer der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Behinderung der Justiz anklagte.  

Der Oberkommandierende selbst, der General Eduardo Villas Boas, wollte seinen Untergebenen deswegen nicht disziplinieren, um Solidaritätseffekte zu vermeiden. Er fügte stattdessen noch hinzu, die Streitkräfte Brasiliens hätten "ein Mandat, um angesichts eines unmittelbar drohenden Chaos" zu intervenieren.n Die Verfassung von 1998 verbietet dem Militär jedoch, in politische Auseinandersetzungen einzugreifen.

Militär bleibt zurückhaltend und verklangt Garantien

Die brasilianischen Streitkräfte waren in dieser Frage bislang kein homogener Block. Der gleiche General Eduardo Villas Boas hatte noch Anfang 2017 erklärt: 

Wir wollen nicht, dass die Militärs für eine Intervention im Leben des Landes benutzt werden.

Doch im Laufe des Jahres hatte es interne Debatten zwischen verschiedenen Fraktionen der Armee gegeben. Heute akzeptiert der Oberkommandierende den Einsatz in Rio und verlangt von Präsident Temer

Garantien für das, was in Rio passieren kann, damit wir in 30 Jahren nicht wieder mit einer Wahrheitskommission konfrontiert sind.

Die Wahrheitskommission arbeitet daran, die Verbrechen der letzten Diktaturen in Brasilien zwischen 1946 und 1988 aufzuklären.

Vilas Boas verlangt für seinen Einsatz einen kollektiven Durchsuchungs- und Beschlagnahmebefehl vom Staatsgerichtshof von Rio de Janeiro. Dieser soll nicht wie bisher für Einzelpersonen, sondern für ganze Straßenzüge und Stadtteile gültig sein.

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