Historische Chance: Kolumbien vor Friedensverhandlungen mit ELN-Guerilla
Eine Analyse von Maria Müller
Der erste Kommandant der ELN, Antonio García, erklärte über soziale Netzwerke, die Guerilla-Organisation wolle Gespräche mit der neuen Regierung aufnehmen, "damit die Ergebnisse einen Frieden mit sozialer Gerechtigkeit für ganz Kolumbien bringen". Er versicherte, politisches Vertrauen in Gustavo Petro zu haben.
Am 19. August fanden erste Gespräche zwischen Vertretern der kolumbianischen Regierung und der ELN in Kuba statt. Der kubanische Außenminister Bruno Rodríguez und der norwegische Sondergesandte Jon Otto Brødholt nahmen an diesen Sitzungen teil, ebenso der Emissär des UN-Generalsekretärs in Kolumbien, Carlos Ruiz Massieu, und Héctor Fabio Henao als Delegierter der kolumbianischen Bischofskonferenz. Kuba, Chile, Spanien und Nicaragua haben sich als Verhandlungsorte angeboten.
Historisch günstige Voraussetzungen
Das angekündigte umfassende Reformprogramm der neuen Regierung könnte tatsächlich historisch günstige Voraussetzungen dafür schaffen, dass langjährige politische Forderungen der ELN nun auf unbewaffnetem Weg gehört und verwirklicht werden. Sie sind zum Teil bereits im Forderungskatalog des Friedensvertrags mit der FARC-Guerilla von 2016 enthalten, zum Teil aber auch Ausdruck der Konflikte und Bedürfnisse von unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen in den jeweiligen Departments Kolumbiens, in denen die ELN Fuß gefasst hat. Dazu gehören in besonderem Maß Themen der indigenen und afrokolumbianischen Bevölkerung.
Die stark dezentralisierten und autonom agierenden Gruppen dieser Guerilla-Organisation wenden sich gegen die reichen Machteliten, die weite Gebiete des Landes extrem vernachlässigten. Kolumbien ist das Land mit der zweitgrößten sozialen Ungleichheit in Lateinamerika. Dabei betrachten sich die Guerilleros als "Verteidiger" der lokalen sozialen Bewegungen, für deren Interessen sie zu kämpfen glauben. Die Angriffe der ELN waren häufig Sabotageakte gegen die Großkonzerne der Ölindustrie und des Bergbaus, insbesondere gegen deren Infrastruktur. Doch auch militärische Kämpfe mit den kolumbianischen Streitkräften und mit paramilitärischen Organisationen gehörten dazu.
Venezuela ist zur Beteiligung als Garantiestaat bereit
Vor wenigen Tagen bat Präsident Petro die Regierung von Venezuela, sich als Garantiestaat an diesem neuen Friedensprozess zu beteiligen. Am 13. September antwortete Nicolás Maduro auf dieses Ersuchen:
"Wie Kommandant Hugo Chávez es seinerzeit getan hat, sagen wir Kolumbien noch einmal, dass Venezuela den Garantenstatus akzeptiert. Wir werden uns nach bestem Willen für den totalen Frieden in Kolumbien einsetzen."
Der venezolanische Staatschef versicherte, "der Frieden Kolumbiens ist der Frieden Südamerikas und des gesamten Kontinents".
Die enge Zusammenarbeit zwischen Kolumbien und Venezuela ist für eine erfolgreiche Entwicklung in der Friedensfrage unerlässlich. Manche politischen Beobachter bezeichnen die ELN als "bi-nationale Organisation". Sie soll sich in den Grenzgebieten beider Staaten festgesetzt haben und dort die territoriale Kontrolle ausüben. Von daher besteht ein beiderseitiges Interesse, diese Region zu sichern.
Zumal die neuen Pläne beider Länder vorsehen, die wirtschaftliche Zusammenarbeit besonders zu fördern. Nach den jüngsten Grenzöffnungen, der Wiederaufnahme des Flugverkehrs, neuer konsularischer Vertretungen und einem Botschafteraustausch denkt man bereits an Gaslieferungen aus Venezuela nach Kolumbien.
Regierungsdekret zum Schutz der ELN-Unterhändler
Petro veröffentlichte am 20. August 2022 einen Regierungserlass, mit dem er frühere Verhandlungsprotokolle aus Friedensgesprächen von 2016 anerkannte und die Haftbefehle und Auslieferungsgesuche gegen die ELN-Unterhändler in Kuba für drei Monate aussetzte. Die Maßnahme erlaubt ihnen, sich in Kolumbien frei zu bewegen und die Diskussionen über einen Friedensprozess an der Basis der Organisation zu führen. Sie umfasst heute rund 2.500 Kombattanten.
Petro wechselte die Spitzen von Militär und Polizei aus.
Der neue Präsident erneuerte komplett die Führungsspitze von Militär und Polizei. Entsprechend den gesetzlichen Regelungen mussten mit der Ernennung von neuen Oberbefehlshabern gleichzeitig 52 Generäle der Streitkräfte und der Polizei zurücktreten.
Außerdem ordnete er den gesamten Polizeiapparat dem neugeschaffenen Ministerium für Frieden, Koexistenz und Sicherheit unter und löste ihn damit aus dem militärischen Kommandobereich heraus. Die bisherige Generation von uniformierten Führungskräften war an schweren Menschenrechtsverbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung beteiligt oder wird zumindest dessen beschuldigt.
Petro hat damit einen der schwierigsten Schritte für einen Wandel in den kolumbianischen Machtverhältnissen "handstreichartig" durchgesetzt. Die nach dem Friedensvertrag mit der FARC in Kolumbien etablierten Sondergerichte für Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen werden sich dieser Fälle annehmen müssen.
Wiederherstellung der territorialen Souveränität
Im neuen Regierungsprogramm gehört die Wiederherstellung der staatlichen Souveränität über das nationale Territorium zu den Prioritäten. Die dubiose Rolle der kolumbianischen Streitkräfte nach Unterzeichnung des Friedensvertrages mit der FARC-Guerilla hat sie dafür disqualifiziert. Sie überließen die von der FARC aufgegebenen Zonen den Drogenmafiosi und Paramilitärs, die den Kokaintransport ungehindert fortsetzen und sogar noch ausweiten konnten. Das erinnert an die Zustände in Afghanistan, wo nach der US-Invasion als "Antwort auf 9/11" NATO-Truppen die Mohnfelder bewachten und die Transportwege für Opium schützten.
Ein weiterer Schritt: Verhandlungen mit den Paramilitärs
Präsident Petro hat die paramilitärischen Gruppen – eine Art kriminelle Berufssöldner – zu Verhandlungen mit der Regierung aufgefordert. Um sie für diesen Schritt zu motivieren, versicherte er, keine Auslieferungen in die USA zuzulassen, falls sie sich ernsthaften Verhandlungen stellten.
Laut einer Analyse der bundesdeutschen regierungsnahen "Stiftung Wissenschaft und Politik" trägt der Präsident damit "dem fragmentierten Charakter des Konfliktgeschehens im Land Rechnung, wo Guerillagruppen wie die ELN, wiederbewaffnete Guerilleros der FARC, und paramilitärische und kriminelle Gewaltakteure auf nationalem Territorium und im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten agieren, sich gegenseitig bekämpfen und in Auseinandersetzungen mit staatlichen Sicherheitskräften verwickelt sind".
Das Gesellschaftsprojekt des "Totalen Friedens"
Gustavo Petro hat sich der Vision einer friedlichen kolumbianischen Gesellschaft verschrieben und unternimmt rasche und energische Schritte in diese Richtung. Das Ziel seiner Pläne drückt sich in dem von ihm propagierten Projekt des "totalen Friedens" aus. Das ist eine fast utopische Vorstellung, für die er seine taktischen und strategischen Maßnahmen einsetzt. Doch die Erfahrungen mit dem Friedensprozess der vergangenen Jahre sind traumatisch.
Wohl aus diesem Grund zeigte sich vor wenigen Tagen der Sprecher der ELN Antonio García skeptisch. In einem ausführlichen Interview, das hier auf spanisch einzusehen ist, kritisiert er das Verhalten der bisherigen Regierungen und nennt die notwendigen sozialen Veränderungen als Grundlage für einen dauerhaften Frieden. Nach dem von Präsident Santos 2016 medial in Szene gesetzten Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla, dessen Vereinbarungen staatlicherseits nur geringfügig eingehalten wurden, ist für die ELN Vorsicht geboten.
Dieser Friedenspakt mündete nämlich in der Ermordung von 333 entwaffneten FARC-Mitgliedern, die den Vertrag unterschrieben und sich produktiv ins zivile Leben eingegliedert hatten. Zudem wurden 1.298 Friedensaktivisten und soziale Aktivisten seit 2016 umgebracht, fast ausschließlich unter der Regierung des vorherigen Präsidenten Iván Duque. Wurde er jemals von Europa oder den USA deswegen kritisiert, wurden Sanktionen verhängt? Nein, Kolumbien ist ein "spezieller Partner " der regelbasierten NATO.
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