Die Exzesse von "Ordnungskräften" gegen Demonstranten in Kolumbien haben bereits international für Schlagzeilen gesorgt, laut Medienberichtenspielten sich in Cali, dem Epizentrum der Proteste, Szenen wie aus einem Bürgerkrieg ab.
Rund drei Monate nach Beginn der Demonstrationen in dem südamerikanischen Land hat die Menschenrechtsorganisation Amnesty International der Regierung Kolumbiens nach Auswertung von 500 Mitschnitten und anderem Material rechtswidrige Praktiken und heftige Gewalt gegen Demonstranten vorgeworfen – bis hin zu Verstößen gegen das Völkerrecht.
Bereits im Mai hatte Amnesty die kolumbianische Regierung zur Mäßigung aufgerufen. Mit dem Bericht werde nun belegt, dass die Regierung des rechtskonservativen Iván Duque mit übermäßiger, unrechtmäßiger Gewalt gegen friedliche Proteste vorgeht. Laut Amnesty International hatten sich seit April Hunderte Demonstranten und Menschenrechtsverteidiger an sie gewendet und von Tränengas und tödlichen Waffen, willkürlichen Verhaftungen, ungeahndeten Angriffen durch bewaffnete Personen in Zivil und auch von Folter berichtet.
In dem Bericht, den die Menschenrechtsorganisation am Freitag veröffentlichte, wird auf drei Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Cali eingegangen, die exemplarisch für das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte im ganzen Land stehen.
"Unter dem Vorwand, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, wurden bei den Protesten in Kolumbien Hunderte Menschen schwer verletzt. Dutzende junge Menschen haben ihr Leben verloren. Was in Cali passiert ist, macht die gewaltsame Reaktion der Behörden auf die Proteste überdeutlich und offenbart die wahren Ziele hinter dem repressiven Vorgehen: Angst zu schüren, Menschen davon abzuhalten, friedlich zu protestieren und diejenigen, die für ein faireres Kolumbien eintreten, zu bestrafen", sagte Matthias Schreiber, Regional-Experte der deutschen Amnesty-Sektion.
Insbesondere Angehörige der Spezialeinheit ESMAD (Mobile Einheit zur Aufstandsbekämpfung) setzen demnach bei übermäßige und unnötige Gewalt ein. Zudem dokumentierte Amnesty International, dass bewaffnete, paramilitärisch organisierte Gruppen, die die Einheiten der Polizei begleiten und mit deren Zustimmung handeln, Demonstranten und Menschenrechtsverteidiger angriffen.
"Wir fordern, dass die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsverstöße, die bei den Protesten in Kolumbien begangen wurden, gründlich und von unabhängigen und unparteiischen Stellen aufgearbeitet werden", so Schreiber.
Die Sicherheitskräfte müssten sich zudem an die 30 Regeln zum Einsatz von chemischen Reizstoffen halten, die die Organisation ebenfalls am veröffentlichte.
Seit Ende April ein Streik ausgerufen worden war, gab es in verschiedenen Städten Kolumbiens Proteste, bei denen es auch zu Ausschreitungen kam. Auch Human Rights Watch hat die Gewalt der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten in Kolumbien verurteilt, unter anderem sollen Mehrfachprojektilwerfer eingesetzt worden sein.
Killer schoss auf Deutsche
Auch auf die Frankfurterin Rebecca Linda Marlene Sprößer wurde bei den Protesten in Cali geschossen. Während sie mit leichten Verletzungen davonkam, schwebt ihr Freund, ein Kolumbianer, in Lebensgefahr. Nachdem sie selbst aufgezeichnete Videos über die Gewalt gegen die Demonstranten veröffentlicht und versucht hatte, auf die Situation aufmerksam zu machen, geriet sie ab Ende Juni selbst ins Visier. Man werde sie verschleppen und töten, hieß es in Drohnachrichten, sie sei eine "Ratte der Drogenentführer und Guerilleros". Sprößer habe keine Anzeige erstattet, weil sie den kolumbianischen Institutionen nicht vertraue. Auch auf Sprößers Freundin wurde von einem Motorrad aus geschossen. Sie wurde schwer verletzt und musste ins Krankenhaus.
Am vergangenen Donnerstag sollten den Todesdrohungen wohl Taten folgen, da ein Killer sie und ihren Freund an einem öffentlichen Ort aufsuchte und auf sie feuerte, bis seine Waffe leer war. Ihr Freund hat alle 13 Schüsse abbekommen. "Wäre er nicht gewesen, wäre ich jetzt tot", schrieb Sprößer auf Facebook.
Der landesweite Generalstreik begann am 28. April und richtete sich gegen eine geplante Steuerreform, mit der die Steuereinnahmen erhöht werden sollten, um der Wirtschaftskrise, die durch die COVID-19-Pandemie entstanden war, zu begegnen.
Die Demonstrierenden wiederholten Forderungen, die bereits 2019 in ähnlichen Protesten gestellt, aber nicht umgesetzt worden waren, darunter Maßnahmen, um die Tötung gesellschaftlich engagierter Personen zu verhindern, die Schaffung eines gesicherten und umfassenden Gesundheitssystems, Verbesserungen bei der Sozial- und Wirtschaftspolitik der Regierung, die vollständige Umsetzung des Friedensabkommens und eine umfassende Polizeireform.
Die Regierung von Präsident Iván Duque setzte vor allem auf Härte und verurteilte den Vandalismus bei den Protesten. Laut SOS Colombia, einem Bündnis mehrerer politischer und gesellschaftlich engagierter Organisationen mit Fokus auf Kolumbien, wurden die Proteste von der vorgeblich demokratischen Regierung bereits im Vorfeld delegitimiert und kriminalisiert, zudem säe die Regierung Hass auf Menschen, die sich gegen soziale Ungerechtigkeiten aussprachen. Indem sie unterschiedslos als Vandalen und Terroristen denunziert wurden, habe die Regierung einen Freifahrtschein für polizeiliche Brutalität, staatliche Verbrechen, Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts geschaffen, die die Welt in dem Land seit Längerem duldet.
Auch am Mittwoch folgten auf zunächst friedliche Demonstrationen Gewalt und Chaos. Mindestens zwei Dutzend Menschen kamen bei den Protesten bislang ums Leben, die meisten durch Polizeigewalt. Cali, eine der am stärksten vom internen bewaffneten Konflikt in Kolumbien betroffenen Regionen, die laut Amnesty von Ungleichheit, Ausgrenzung und strukturellem Rassismus geprägt ist, war besonders betroffen.
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