Lateinamerika

Mexikos Behörden gestehen ein: Verschwinden von 43 Studenten war ein Staatsverbrechen

Vor sechs Jahren sorgte das Verschwinden von 43 Studenten im mexikanischen Iguala weltweit für Schlagzeilen. Bis auf drei Leichen fehlt von ihnen immer noch jede Spur. In einem jüngsten Bericht sprechen mexikanische Behörden von einem Staatsverbrechen.
Mexikos Behörden gestehen ein: Verschwinden von 43 Studenten war ein StaatsverbrechenQuelle: Reuters © Henry Romero/Reuters

von Maria Müller

In der Nacht des 26. September 2014 verschwanden 34 Studenten einer ländlichen Lehrerschule namens Ayotzinapa im mexikanischen Bundesstaat Guerrero. Nach der offiziellen Version der vorherigen Regierung von Peña Nieto seien sie von korrupten Polizisten während einer Busfahrt verhaftet und dem organisierten Verbrechen übergeben worden. Niemand kam lebend zurück. Vom Kontrollzentrum der Stadt aus beobachteten Staatsbeamte, Polizei und Militärs die Vorgänge über ein System von Überwachungskameras.

Doch die Videoaufnahmen dieser Nacht sind verschwunden. Was wirklich damals geschah, konnte bis heute nicht geklärt werden. Nur eines steht inzwischen fest: Es war alles ganz anders, als bisher behauptet.

Die Angehörigen der Opfer demonstrieren jedes Jahr in der Hauptstadt vor dem Regierungsgebäude. Sie tragen die Bilder ihrer verschwundenen Söhne vor sich her und rufen immer wieder "Lebend habt ihr sie uns geraubt, lebend wollen wir sie wiederhaben!". Dank ihres unerschrockenen Widerstands ist der Fall der 43 entführten Studenten heute weltweit bekannt.

Der entlarvende Bericht des Präsidenten

Der aktuelle mexikanische Präsident Lopez Obrador überreichte zum Jahrestag des Verbrechens den Angehörigen und der Öffentlichkeit einen Bericht, der nachweist, dass die früheren Nachforschungen gezielt gefälscht wurden. Sein Vorgänger Peña Nieto hat diese kolossale Irreführung zu verantworten, bei der raffiniert falsche Spuren gelegt und falsche Geständnisse angeblicher Täter durch Folter erpresst wurden. Zahlreiche Polizisten und Militärangehörige sind in den Fall verwickelt. Bis jetzt hat man 80 Haftbefehle ausgestellt, 34 Personen sind bislang verhaftet.

Die mexikanischen Behörden erkennen in dem Bericht an, dass es sich hier um ein Staatsverbrechen handelt, das gemäß dem Völkerrecht nicht verjährt. Bisher waren die Täter nur wegen Entführung und organisierter Kriminalität angeklagt.

Staatschef Manuel López Obrador bat am Jahrestag der Entführung die Angehörigen offiziell um Entschuldigung. Auf einer Pressekonferenz am 26. September sagte er:

Ich entschuldige mich im Namen Mexikos, denn wir sind hier mit einer vom mexikanischen Staat begangenen großen Ungerechtigkeit konfrontiert. Das ist eine Staatsangelegenheit, deshalb sind wir zur Entschädigung und Aufklärung verpflichtet, und zu einer wahrhaften Rechtssprechung.  

Außerdem kritisierte der Präsident die Richter, die verdächtige Angeklagte unter jedem beliebigen Vorwand wieder aus der Untersuchungshaft entließen. Der Oberste Rat der Bundesjustiz müsse sich damit befassen und die Unregelmäßigkeiten sanktionieren.

Der Bericht legt offen, dass die Ermittler der Generalstaatsanwaltschaft die Tatsachen völlig falsch dargestellt haben. Sie sind heute wegen Unterschlagen von Beweismaterial, Verschleiern des Tathergangs und Folter von Verdächtigen angeklagt.

Chefermittler bittet in Israel um Asyl

An erster Stelle steht dabei der Chefermittler der Staatsanwaltschaft, Tomás Zerón, der trotz dringendem Interpol-Haftbefehl nach Israel flüchten konnte. Laut dem heutigen Generalstaatsanwalt Alejandro Gertz Manero hat Zerón in diesem Zusammenhang "mehr als 1.000 Millionen Pesos aus dem Haushalt gestohlen" und damit die zahlreichen Fälschungen und Unregelmäßigkeiten bezahlt, mit denen er einen erfundenen Tathergang konstruierte.  

Der mexikanische Präsident hat bereits Israel gebeten, Zerón kein politisches Asyl zu gewähren, da gegen ihn ein Haftbefehl wegen zahlreicher Verbrechen besteht.

Im Januar 2015 verkündigte der damalige Oberstaatsanwalt Jesús Murillos Karam gegenüber der Öffentlichkeit die vermeintliche "historische Wahrheit". Demnach sollen die 43 Studenten allesamt an einem einzigen Ort in einem Omnibus von korrupten Polizisten gemeinsam verhaftet und zusammen einer kriminellen Bande übergeben worden sein. Anschließend habe man sie auf einer Müllverbrennungsanlage eingeäschert.

"Historische Wahrheit" bereits seit Jahren widerlegt

In Wirklichkeit befanden sich die Opfer in dieser tragischen Nacht an verschiedenen Stellen der Stadt Iguala. So soll es einen Angriff auf eine Gruppe der Studenten in der Straße Juan Alvarez in Iguala gegeben haben, wie die nationale mexikanische Menschenrechtskommission bereits seit November 2018 betont hatte.

An einem anderen Ort, an der "Brücke von Chipote", ebenfalls in Iguala, wurden weitere Studenten festgenommen, während es am Busbahnhof im Viertel "Santa Teresa" zu Gewalttaten gegen andere Studenten kam. Außerdem haben unbekannte Personen an manchen Stellen der Stadt Verkehrsblockaden errichtet, offenbar um den Tätern Schützenhilfe zu leisten.

In den neuen Untersuchungen wird "gezeigt, dass die 43 Studenten zu keinem Zeitpunkt alle zusammen waren", sagte Alejandro Encinas, Präsident der Wahrheitskommission in diesem Fall sowie Unterstaatssekretär für Menschenrechte im mexikanischen Innenministerium.

Ebenso deutet alles darauf hin, dass die Leichen der Studenten nicht in der Cocula-Müllkippe verbrannt wurden, wie von der früheren Generalstaatsanwaltschaft angegeben wurde. Diese Version wurde bereits von der Interdisziplinären Gruppe unabhängiger Experten (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission widerlegt.

Eine Plastiktüte mit der Asche von angeblich verbrannten Körpern der Opfer, die in dem Fluss Rio San Juan "zufällig gefunden" wurden, waren von den früheren Ermittlern der Regierung Enrique Peña Nieto dort deponiert worden, um falsche Spuren zu legen. Das bestätigte der Staatsanwalt Gertz Manero.  

Der Bericht zeigt auf, dass der wahre Verbleib der 43 Verschwundenen immer noch nicht bekannt ist. Nur die Reste von drei Studenten konnten bislang per DNA-Analyse identifiziert und den Familien übergeben werden. Dies gelang unter Mithilfe der Universität von Innsbruck. Es handelt sich um Christian Alfonso Rodríguez Telumbre,  Alexander Mora Venancio und Jhosivani Guerrero de la Cruz.

Bisher milde Strafen für involvierte Militärs

In dem Bericht wird die Täterschaft von Beamten der Bundespolizei und des Militärs eingeräumt. Aus dem Bereich der Militärs sind 14 Personen als Mittäter oder Zeugen involviert oder halfen mit, die Ermittlungen zu behindern. Davon erhielten vier Täter lediglich Verwaltungsstrafen, drei wurden entlassen, zwei vorübergehend vom Dienst quittiert und fünf weitere werden noch untersucht.

Unter den polizeilich Gesuchten befinden sich Polizeibeamte aus verschiedenen Gemeinden des Bundesstaates Guerrero, zudem Bundespolizisten, Angehörige der Armee und ehemalige Beamte der Staatsanwaltschaft sowie Personen aus dem Bereich des organisierten Verbrechens.

Bereits verhaftet wurden C. Gómez, früherer Chef der Bundespolizei wegen Folter eines Verhafteten; der Polizist I. Junco, der Ex-Direktor der Kriminalpolizei E. Peña sowie wegen Aktenfälschung die Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft Blanca N. Im Rahmen der Gedenkfeier zum Jahrestag der Verschwundenen von Iguala beteuerte der neue Generalstaatsanwalt Gertz Manero:

Die Verantwortlichen des erzwungenen Verschwindens der 43 Studenten sind voll identifiziert und man wird ihnen mit absoluter Gesetzestreue den Prozess machen.

Präsident Andrés Manuel López Obrador versicherte bei der Gelegenheit, dass es "Haftbefehle gegen Militärangehörige gibt, die mit Sicherheit ausgeführt werden. Es ist ein Fortschritt, dass es keine Verdunkelung mehr gibt".

Motive und Hintergrund des Verbrechens ungeklärt

Vor allem bleibt völlig ungeklärt, welche Motive die kriminellen Gruppen und ihrer Komplizen in den verschiedenen Polizei- und Militäreinheiten dazu brachten, dieses Verbrechen zu begehen. Fest steht nur, dass die dahinterstehende kriminelle Vereinigung institutionell gut vernetzt und entsprechend mächtig ist. 

Das Ausmaß der Fälle von verschwundenen Menschen in Mexiko ist erschreckend. Allein in der Amtszeit von Enrique Peña Nieto waren davon rund 15.000 Menschen betroffen. Männer, Frauen und Kinder werden von der Straße weg entführt. Es kann sich dabei nicht um persönliche oder politische Motive handeln, dafür ist die Dimension dieses systematischen Verbrechens zu groß.

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