Wieso entscheidet ein Londoner Handelsgericht über die Zukunft von Venezuelas Goldreserven?
von Maria Müller
Am 22. Juni hat in London der Prozess um das in England blockierte Vermögen Venezuelas begonnen. Die Goldbarren liegen seit Jahrzehnten in den Bunkern der Bank of London. Es handelt sich um venezolanischen Staatsbesitz im Wert von rund 1,3 Milliarden US-Dollar, der für internationale Finanztransaktionen von früheren Regierungen dort deponiert worden war. Die Bank of London verweigert heute eine vertragsgemäße Rückgabe.
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Angesichts der dramatischen wirtschaftlichen Lage in Venezuela, das durch die US-Sanktionen in den ökonomischen Erstickungstod getrieben werden soll, bemüht sich die Regierung von Nicolás Maduro schon seit einem Jahr erfolglos darum, das Vermögen zurückzuerhalten. Deshalb verklagte die venezolanische Zentralbank (BCV) am 14. Mai dieses Jahres die Bank of London wegen Vertragsbruchs.
Richter Nigel Teare eröffnete diese Woche das Verfahren. Er akzeptierte im Vornherein eine Prozessstrategie, in der zuerst geklärt werden müsse, wer von der britischen Regierung (!) als legitimer Präsident Venezuelas "anerkannt" worden sei: Präsident Maduro oder der Anführer eines Teils der Opposition, der selbst ernannte "Interimspräsident" Juan Guaidó.
Über Souveränität Venezuelas wird durch Großbritannien entschieden?
Damit wird als rechtens dargestellt, dass über das Thema der Souveränität unter Umgehen der betroffenen Bevölkerung durch den politischen Willensakt einer fremden Macht – Großbritannien – zu entscheiden sei. Teare führte politische Rahmenbedingungen in das Verfahren ein, die einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen.
Hat London Guaidó vollumfänglich anerkannt?
Am 22. Juni, dem ersten Verhandlungstag, vertrat der von Guaidó beauftragte Rechtsanwalt Andrew Fulton die These, dass Großbritannien "sowohl rechtlich als auch politisch" Guaidó als Präsidenten Venezuelas anerkannt habe.
Dafür zitierte er als "schlüssigen" Beweis eine Erklärung des britischen Außenministers Jeremy Hunt vom 4. Februar 2019. In der damaligen öffentlichen Stellungnahme heißt es:
Das Vereinigte Königreich erkennt Juan Guaidó jetzt als vorläufigen Verfassungspräsidenten Venezuelas an, bis glaubwürdige Präsidentschaftswahlen abgehalten werden können.
Laut Fulton ist das Gericht an die Doktrin der "Einen Stimme" gebunden, nach der ein Staat in den Außenbeziehungen eine einheitliche Linie bewahren müsse. Demzufolge gelte aufgrund dieser Erklärung Guaidó als Vertreter Venezuelas.
Die gültigen diplomatischen Beziehungen mit Venezuelas Regierung
Der Anwalt Nick Vineall, der die Interessen des Direktoriums der BCV vertritt, hielt dagegen, dass die britische Regierung aufgrund der diplomatischen Realitäten die Regierung Maduro anerkenne. Beide hätten stets "volle, normale und wechselseitige diplomatische Beziehungen unterhalten". Beide Regierungen betreiben Botschaften im jeweils anderen Land. Gleichzeitig betonte Vineall, der auf die Bedeutung des diplomatischen Status pochte:
Die Erklärung des früheren Außenministers Hunt in Bezug auf Juan Guaidó ist nicht eindeutig und umfassend.
Es komme darin zwar eine politische Unterstützung zum Ausdruck, doch lasse sich daraus nicht ableiten, dass man Guaidó in jeder Hinsicht als Chef des venezolanischen Staates oder der venezolanischen Regierung anerkenne. Er warnte:
Falls London Guaidó allumfassende Regierungsrechte zugesteht, wäre das ein Verstoß gegen das Völkerrecht.
Außerdem erinnerte der Rechtsanwalt daran, dass die britische Regierung sich geweigert habe, für die aktuelle Gerichtsverhandlung eine Bescheinigung vorzulegen, mit der sie Guaidó eindeutig anerkenne. Sie habe nur auf die "mehrdeutige" Aussage des Außenministers Hunt verwiesen.
Hier zeigen sich die Widersprüche dieser politisch-juristischen Konstruktionen. Einerseits haben 50 Regierungen – im Gegensatz zu 150 weiteren UNO-Staaten – Guaidó zu Beginn seiner Laufbahn als Interimspräsidenten anerkannt. Andererseits hielten sie ihre diplomatischen De-jure-Beziehungen zur Regierung Maduro aufrecht.
Der Hintergrund des Streits um die wahre Präsidentschaft
Was ist jedoch der Hintergrund des Streits um die wahre Präsidentschaft Venezuelas im Zusammenhang mit dem in London deponierten Gold?
Die Direktoren im Vorstand der Zentralbank werden nach venezolanischem Recht vom Präsidenten ernannt. Doch sie erhielten seit einigen Monaten Konkurrenz. Guaidó gründete im Vorfeld des Prozesses ein Ad-hoc-Direktorium der BCV "im Exil", in den USA. Diese Gruppe beansprucht nun als eine Art Parallelinstitution mit einer parallelen Rechtmäßigkeit die Verfügungsgewalt über die Staatsbank und ihre Transaktionen für sich.
Der Schein eines rechtlichen Rahmens
Das Konstrukt ermöglicht es der US-Regierung samt ihren Verbündeten, den Enteignungen und Blockaden der venezolanischen Finanzen im Ausland den Schein eines rechtlichen Rahmens zu verleihen. Man tut so, als stelle Guaidós Gruppe eine juristisch legitimierte Alternative zum amtierenden Vorstand der venezolanischen Zentralbank dar. Deshalb könne man ihr die riesigen Vermögenswerte des venezolanischen Volkes aushändigen. Auch das internationale Handelsgericht in London stützt sich auf diese Hypothese.
Nach geltendem internationalen Vertragsrecht müsste jedoch die Institution (BCV) einziges Vertragssubjekt der Vereinbarungen mit der Bank of England sein, unabhängig von politischen Erschütterungen, wechselnden Regierungen oder erneuerten Vorstandsmitgliedern. Deshalb eröffnet das Gerichtsverfahren die Möglichkeit, das Führungsgremium der Zentralbank auszutauschen.
Humanitäre Verantwortlichkeit der BCV
Mit dem Einverständnis der BCV, ihr im Ausland blockiertes Vermögen einem Treuhandfonds der UNO für humanitäre Zwecke in Venezuela zu übergeben, zeigt sie Verantwortung gegenüber Venezuelas Bevölkerung. Doch solche Entscheidungen sind nicht im Sinne Guaidós, sonst würde er sie angesichts der unmittelbaren Notsituation seiner Landsleute mittragen und den prozessualen Streit zumindest befristet aussetzen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Da nach venezolanischem Recht der Präsident des Landes das Direktorium der Staatsbank ernennt, sägt man mit dem Prozess an den Wurzeln dieser Ernennungen, indem man dem Staatspräsidenten selbst die Rechtmäßigkeit abspricht.
Entscheidung über zwei Vorstandsgruppen der venezolanischen Zentralbank
Nun wird das Gericht entscheiden, welche der beiden Vorstandsgruppen der venezolanischen Zentralbank für das Amt legitimiert sei und damit als wahrhafter Vertragspartner der Bank of England gelte. Laut Gericht müsse zuvor geklärt werden, welche der beiden Präsidialfiguren berechtigt sei, ein Direktorium der Bank zu ernennen. Diese Berechtigung soll wiederum von einer politischen Anerkennung der britischen Regierung abhängen – oder von den nach wie vor bestehenden diplomatischen Beziehungen zwischen London und Caracas.
Begrenzte Kompetenz des britischen Gerichts?
Des Weiteren muss geklärt werden, ob das britische Handelsgericht überhaupt die juristische Kompetenz hat, die Ernennung eines Bankvorstandes durch Guaidó anzuerkennen. Der amtliche Vorgang ist nur auf der Grundlage der venezolanischen Gesetze möglich. Das Oberste Gericht Venezuelas erklärte diese Ernennungen bereits für null und nichtig. Wird das Londoner Gericht das Urteil aus Caracas ignorieren? Mit welchen Argumenten?
Guaidó besitzt keine juristische Legitimation in Venezuela, da er die in der venezolanischen Verfassung vorgegebenen Kriterien für einen Interimspräsidenten definitiv nicht erfüllt. Er hätte z.B. spätestens nach drei Monaten zu Neuwahlen aufrufen müssen. Kann sich das englische Gericht über venezolanische Verfassungsnormen hinwegsetzen?
Aus diesem Grunde plädierte Fulton dafür, im Prozess nicht zu beurteilen, wer – und ob Guaidó – Autorität über Venezuelas Staat und seine Institutionen besitzt, denn dies übersteige die Kompetenzen eines britischen Gerichts. Es könne allein über die Anerkennung Guaidós durch die britische Regierung entscheiden. In der Folge sei Guaidós Ernennung der Mitglieder des alternativen Direktoriums der BCV als "souveräne Handlung eines ausländischen Staates" zu "akzeptieren, ohne zu hinterfragen". Die Londoner Justiz müsse den Beschluss des Obersten Gerichts in Venezuela ignorieren.
Anwalt Vineall nahm die Gegenposition ein. Selbst unter der Voraussetzung, dass das Gericht die politische Anerkennung Guaidós bestätige, sei es in der Frage kompetent, ob Guaidós Ernennungen rechtens seien. Er bat den Richter, dabei das Urteil aus Caracas zu berücksichtigen. Denn der "Streitgegenstand ist das im Bereich der britischen Rechtsprechung gelagerte Gold".
Die Entscheidungen des Richters Teare sollen erst im August oder Dezember fallen, womit wertvolle Zeit für die notleidende Bevölkerung Venezuelas verstreicht. Doch trotz dieser juristischen und politischen Bemühungen, die Legitimation Guaidós als venezolanisches Staatsoberhaupt zu erreichen, stößt das Ganze an die Grenzen, die er selbst zu verantworten hat.
Guaidó steht im Zusammenhang mit schweren Straftaten
Er kann die Qualifizierung für ein solches Amt zumindest solange nicht erfüllen, bis die ihm vorgeworfenen schweren Straftaten gerichtlich geklärt sind. Darunter zählen Korruption bei der Verwaltung von Geldern ungewisser Herkunft, mit denen die Teilnehmer an einem bewaffneten Putschversuch in Kolumbien versorgt werden sollten.
Des Weiteren die dokumentierten Kontakte zur kolumbianischen Drogenmafia, oder seine Unterschrift unter einen Zwei-Millionen-Dollar-Vertrag mit der US-Söldnerfirma Silvercorp für terroristische Attentate und Auftragsmorde in Venezuela, ebenfalls umfassend dokumentiert. Auch Interpol müsste sich dafür interessieren … Seit wann sind das in Europa keine justiziablen Straftaten? Können die britische Regierung und Justiz es sich leisten, diese Fälle zu ignorieren? Ist diese Person als Garant für die saubere Verwaltung venezolanischer Staatsgelder in Millionenhöhe geeignet?
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Internationale Politik in internationales Recht umwandeln
In London verwandelt man internationale Politik in internationales Recht. Das schafft einen Präzedenzfall und künftige Rechtsunsicherheit, deren Konsequenzen nicht absehbar sind. In Zukunft könnten dann Staatsverträge mithilfe einer Parallelregierung samt Schatteninstitutionen und willkürlich eingesetzten Beamten rückwirkend ausgehöhlt oder gar ganz annulliert werden. Ein Richterspruch liefert dann nur noch das magische Wort "Justiz". Will man das Demokratiedefizit in Venezuela mit einem Demokratiedefizit in Europa bekämpfen?
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