Alles vergessen? 8 Monate nach der Tragödie von Odessa denkt keiner mehr an die Toten

Oleg Muzyka ist Odessaer und Überlebender des Massakers am 2. Mai letzten Jahres, bei dem mindestens 48 Menschen im Gewerkschaftshaus von Odessa verbrannten oder von Mitgliedern des Rechten Sektors erschlagen wurden. Zurzeit befindet er sich auf einer Vortragsreise mit Fotoausstellung in Deutschland. RT Deutsch sprach mit Muzyka über seine Erlebnisse und die Indifferenz des Westens. 
Alles vergessen? 8 Monate nach der Tragödie von Odessa denkt keiner mehr an die Toten

Muzyka, selbst Mitglied der Rodina-Partei (Mutterlands-Partei), erklärt im Gespräch mit RT Deutsch, dass auch er kein Freund der Regierung unter Viktor Janukowitsch war und zahlreiche seiner Parteifreunde wegen Kritik an der Regierung festgenommen wurden waren.

Deswegen beobachtete er anfänglich die Ereignisse auf dem Maidan anfänglich ohne große Sorge und sogar Sympathie. Aber der Regierungswechsel brachte nicht die erhofften Änderungen. In erster Linie wollten die Menschen, Muzykas Einschätzung zufolge, ökonomische Verbesserungen. Doch Kiew widmete sich stattdessen gleich am ersten Tag der Diskriminierung russischer Kultur. Die russische Sprache wurde zunächst verboten und innerhalb einer Woche wurden fast alle Denkmäler aus Sowjetzeiten zerstört. Die Einwohner in Odessa wurden nervös.

Man begann sich zu wehren. Zunächst war es vor allem die ältere Generation, die laut Muzyka auf die Straßen ging. Im weiteren Verlauf versammelten sich bis zu 25.000 Menschen vor dem Gewerkschaftshaus im Zentrum der Stadt. Die Motivation der Demonstranten erläutert der Aktivist gegenüber RT Deutsch wie folgt:

„Wir wollten ein Referendum zur Zukunft der russischen Sprache und ein wirtschaftliches Bündnis mit Russland. Unserer Meinung nach war es der Ukraine nicht möglich ein wirtschaftliches Bündnis mit der EU einzugehen. Niemand ist gegen eine Zusammenarbeit mit Europa, aber wie ein EU-Beitritt sich auf die Wirtschaft auswirken kann, wird deutlich wenn man sich Länder wie Bulgarien und Rumänien anschaut. Inwiefern hat ihnen ihr EU-Beitritt einen wirtschaftlichen Aufschwung verschafft?“

Doch für die Regierung in Kiew schien die Bewegung in Odessa anfänglich nur lästig. „Sie waren nicht bereit mit uns einen Dialog anzusteuern“, so Muzyka und erläutert wieso dem so war:

„Da unsere Demonstration nicht aus Politikern und Geschäftsmännern bestand, waren wir anscheinend für die Regierung erst einmal uninteressant.“

Am 13. März schlug das Desinteresse dann direkt in Repression um. Erste Verhaftungswellen von Aktivisten erfolgten. Unter ihnen war auch ein Priester. Am 30. April besuchte dann Andrej Parubej, einer der Anführer des Maidans, die Stadt und soll intensive Gespräche mit der dortigen Polizei geführt haben.

Am 2. Mai ereignete sich dann das Massaker von Odessa. Muzyka war, wie er selbst sagt, zuvor noch nie im Gewerkschaftshaus gewesen. Der Tag sollte feierlich verlaufen. Geplant war unter anderem ein Konzert. Auf den Straßen waren viele Eltern mit ihren Kindern unterwegs.

Im Nachhinein wurde behauptet, dass in dem Brand vor allem Aufständische aus dem In- und Ausland ums Leben gekommen seien. Es war die Rede davon, dass bewusst Personen nach Odessa kamen, um einen gewalttätigen Protest gegen die Polizei zu initiieren. Für Muzyka sind solche Behauptungen Unsinn. Er kennt einen Großteil der Menschen die in dem Brand ihr Leben verloren haben und hat gesehen, wie manche von ihnen vor dem Gebäude totgeschlagen wurden.

„Wir waren 300 gegen 1000. Steine, Flaschen, ja sogar Äxte flogen aus allen Richtungen auf uns zu “, erzählt der Odessaer, immer noch merklich aufgewühlt von den Ereignissen.

 

Seiner Ansicht nach liegt die inoffizielle Zahl der  Toten deutlich höher als die offiziell anerkannten 48:

„Nicht 48 Menschen haben ihr Leben im Gewerkschaftshaus verloren, sondern über 100 sind dort getötet wurden. Und danach sind wir, die überlebt haben, alle festgenommen wurden und über Tage festgehalten wurden. Es spielte auch keine Rolle, wie schwer verletzt die Menschen waren. Die Polizei hat versucht uns zu Aussagen zu zwingen, ich zum Beispiel sollte mein Mitwirken am Geschehen zugeben.“

Doch Muzyka weigerte sich. Seit dem gilt der Ukrainer als Aufständischer. „Vor Ort kann ich nicht mehr helfen und öffentlich sprechen kann ich momentan auch nicht“, so der Aktivist.

Doch was bleibt von den Opfern des Massakers. Warum sind bis heute, acht Monate nach dem Brand, keine Informationen zu dem Unglück veröffentlicht wurden? Drei Kommissionen sollen sich mit dem Vorfall beschäftigt haben – ohne Ergebnis. Warum gehen die Angehörigen nicht auf die Straßen, warum setzen sie sich nicht für eine schnelle Aufklärung des Massakers ein? Für Muzyka liegt die Ursache hierfür in der Angst der Angehörigen begründet:

„Die Menschen haben eine solche Angst vor Verfolgung und dass sie als Aufständische angesehen werden, dass sie sogar behaupten, ihre Angehörigen wären weggefahren, anstatt zuzugeben, dass sie im Gewerkschaftshaus verbrannt oder erschlagen wurden.“

Schlussendlich bleiben die Menschen stumm. Muzyka erträgt die bei seiner bisherigen Vortrags-Reise erlebte Ignoranz und teilweise Indifferenz gegenüber den Ereignissen in Odessa kaum. Trotzdem hält er die Hoffnung aufrecht, dass die Fotoausstellung zur Aufklärung beiträgt und die Toten doch nicht so sang- und klanglos in Vergessenheit geraten.

 

Das Gespräch führte RT Deutsch Redakteurin Anna Schalimowa

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