RT Deutsch Spezial: Odessa, eine zwischen Trauer und nationalem Wahn gespaltene Stadt

Wie ist die Stimmung in Odessa ein Jahr nach dem Massaker im Gewerkschaftshaus? Wie hat sich die Stadt verändert? Welche Rolle spielt mittlerweile der Rechte Sektor? Wie gestaltet sich die Aufklärung des Massakers? RT Deutsch Reporterin Anna Schalimowa hat sich auf den Weg nach Odessa gemacht, um diesen Fragen nachzugehen und berichtet von ihren Eindrücken und Gesprächen mit den Bewohnern der Stadt.
RT Deutsch Spezial: Odessa, eine zwischen Trauer und nationalem Wahn gespaltene Stadt

Zum ersten Jahrestag des Massakers von Odessa sollen die Straßen der Stadt leer bleiben. Kiew mobilisiert mehr als 3.000 Polizeibeamte aus dem gesamten Land für diesen Anlass. Vor Ort patrouillieren auch Einheiten der Nationalgarde. Wo das Auge auch hinblickt, Camouflage scheint neben den gelb-blauen Flaggen der Ukraine die Farbe des 2. Mais zu sein.

Das Kulikowa-Feld unweit des Hauptbahnhofes, der Platz auf dem das Gewerkschaftshaus der Stadt letztes Jahr in Flammen stand, wird bereits am ersten Mai von allen Seiten abgeriegelt. Kontrolliert wird jeder, nähere Sicht auf den einstigen Tatort gibt es nur auf Nachfrage und nach Ausweiskontrolle. Viele bleiben dem Platz aus Angst gänzlich fern.

 

Nicht so am anderen Ende der Stadt. Dort, wo sich auf einem Kirchplatz  am Samstag der Rechte Sektor trifft, wird kein Ausweis kontrolliert, gibt es keine massive Polizeipräsenz.

Mehr als 350 Menschen versammeln sich hier am Nachmittag, um der Ukraine und ihren National-Helden zu huldigen. Eingenommen ist der gesamte Platz, nicht wie vor dem Gewerkschaftshaus von Polizeikräften, sondern von Anhängern des Rechten Sektors.

 

Auch ukrainische Journalisten, die über die Demonstration der Nationalisten berichten, entpuppen sich als Unterstützer der Bewegung. So ist auf der Tasche einer Journalistin deutlich das Emblem des Rechten Sektors zu sehen.

 

Bedenkt man, dass Odessa offiziell rund eine Millionen Einwohner zählt, könnte man sagen '350 Demonstranten mit rechter Gesinnung fallen doch nicht so sehr ins Gewicht'.

Doch die Bevölkerung hat Angst vor diesen Wenigen. Alles ist ihnen erlaubt, so klagen Passanten mit denen ich spreche. Sie patrouillieren gemeinsam und "mischen auf, wen oder was sie eben aufmischen wollen".

Ich frage nach der Rolle der Polizei und wie diese mit den Gewaltauswüchsen des Rechten Sektors umgeht, ob man von ihnen im Notfall Schutz erwarten kann. Nein, sagt die Mehrheit meiner Interviewpartner, denen zu Folge die Polizei hier nichts mehr zu sagen hat.  Eine von mir auf der Straße angesprochene Einheimische, die anonym bleiben will, erzählt mir mit gesenkter Stimme:

"Entweder sie arbeiten zusammen, lassen sich bezahlen oder halten einfach ihre Füße still und schauen weg. Wenn mir hier was passiert, kann ich nicht zur Polizei gehen, sie werden mir nämlich nicht helfen."
Nicht selten werden Passanten, die entweder an ihrer Kleidung oder am Fahrzeug das Georgs-Kreuz befestigt haben, von Patrouillen des Rechten Sektors unter Anwendung von Gewalt gezwungen, dieses zu entfernen. Ebenso werden innerhalb der Stadt regelmäßig sowjetische Denkmäler beschmutzt oder zerschlagen. "Meinen Sie, irgendjemand macht was dagegen, wenn der Rechte Sektor Autos zerkratzt oder Männer zusammenschlägt, die sich weigern, das Georgs Band abzunehmen", fragt mich ein Taxifahrer.

Und die Angst scheint nicht unbegründet, Anhänger von zivil-gesellschaftlichen Organisationen, die sich der Aufklärung des Odessa-Massakers verschrieben haben werden tagtäglich bedroht. Aktivisten werden ohne Anklage festgenommen. Die ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU soll täglich 10 bis 16 Menschen einfach mitnehmen, sie einschüchtern, teilweise dann wieder freilassen, andere bleiben länger in "Verwahrung".

"Danach überlegst du dir aber zweimal, ob du dich nochmals kritisch  gegen die Regierung äußerst", erläutert mir mein Taxifahrer weiter.

"Separatisten"  werden alle genannt, die Kritik äußern, sie werden überwacht und langsam mundtot gemacht. "Separatisten" nennt man auch die Mütter der im Gewerkschaftshaus getöteten Odessiten. Die wenigen und mutigen Frauen, die alle über 60 sind und sich zusammengeschlossen haben, um gegen das Vergessen ihrer toten Kinder anzukämpfen, wollen dass die Schuldigen endlich bestraft werden. Nichts mehr zu verlieren haben sie, erzählt mir eine von ihnen, und dadurch hat sie auch ihre Angst vor der Polizei verloren. Die Sicherheitsmaßnahmen der Beamten zum Jahrestag des Massakers bezeichnen sie als "Show".

"Wo waren sie denn letztes Jahr, als meine Kinder hier verbrannt wurden", fragt mich eine der Mütter und führt weiter aus: "Was hat mein Sohn denn gemacht, gelebt hat er hier, gearbeitet und seinen Mitmenschen Freude geschenkt." Wie sie von seinem Tod erfahren habe, wollte ich wissen. "An diesem Tag habe ich einen Anruf bekommen. Eine Frau hat mir erzählt, mein Sohn habe sie gerettet und wäre dabei selbst im Brand umgekommen." Jetzt wolle sie nur noch, dass die Welt erfährt, dass hier vor Ort Menschen, die sich für den Frieden, für eine einheitliche Ukraine und gegen Korruption ausgesprochen haben, ihr Leben lassen mussten. "Man muss dem Westen endlich deutlich machen, was hier passiert, ich spreche hier vom Genozid", so die Frau abschließend.

 

Trauer und Gedenken an die Toten wird den Frauen nicht erlaubt. Am Gewerkschaftshaus durften sie trotz Voranmeldung keine richtige Rede halten. Die Nutzung von Mikrophonen, Lautsprechern und öffentliche Filmpräsentationen wurden ihnen in letzter Minute verboten. Die örtlichen Behörden sprechen von angeblichen Provokationen, die von den Frauen ausgehen könnten. Viktoria, die Organisatorin des Mutterrates wurde am Freitagabend vor dem Gedenktag noch zur örtlichen Geschäftsstelle der SBU geladen. "Zu aktivistisch" würden sich die Frauen des Mutterrates zeigen, so das Urteil des SBU.

"Sie müssen verstehen", sagt mir eine Dame auf der Trauerfeier, "dass hier Entscheidungen von Verwaltungs- und Polizeibehörden nicht begründet werden." Und so fragt man auch nicht mehr nach, das hat man der Bevölkerung mit der Zeit mit sichtlichem Erfolg ausgetrieben. Jegliche Treffen, Entscheidungen und Aktivitäten des Mutterrates müssen im Geheimen gehalten werden. Keine Namen, keine Informationen dürfen durchsickern.

"Wir wollen hier in Frieden leben, so wie es einst Mal war. Zusammen und ohne Angst. Ich war letztes Jahr auch dort. Eine Woche lang stand ich unter Schock und bis heute kann ich mich einfach nicht davon erholen. Auf einmal musst du aufpassen, was du wem erzählst und am besten schweigst du einfach gleich."

 

Auf der zentralen Promenade, in der Nähe der Oper, flüstert sie mir zu:

"Siehst du den Mann in der braunen Cordhose? Das ist Gonscherewski. Er hat kontrolliert, dass die Leute, die vor dem Gewerkschaftshaus lagen auch wirklich tot sind. Rührten sie sich noch, hat er auf sie bis zuletzt eingeschlagen. Es gibt Videos davon, Fotos und einige haben es mit ihren eigenen Augen gesehen. Und nichtsdestotrotz läuft er weiterhin frei rum. Kiew macht nichts dagegen, obwohl doch alle Beweise für seine Schuld existieren."
So werden Überlebende von damals tagtäglich ihren Peinigern, mit dem Wissen, es wird sich nichts an ihrer Situation ändern, ausgesetzt. Und während Viktoria erklärt, auf der Trauerfeier wird es wegen behördlichen Vorgaben keine politischen Reden geben, tobt der rechte Mob nur einige Kilometer entfernt, und schwingt zahlreiche politische Reden, ohne dass Behörden zuvor solchen Reden wie im Falle des Mutterrates verboten hätten.

Russische Aggression, der Feind, der das Land zerstören will, die ukrainische Nation und ein unerbittlicher Kampf für das Vaterland sind nur einige Themen, die die orthodoxen Priester aus Kiew, Ehrengäste des Rechten Sektors, in ihren Ansprachen behandeln. Anschließend nehmen die Gottesdiener noch ein Bad in der Menge, umgeben von uniformierten Vertretern des Rechten Sektors und segnen die Demonstranten mit ihrem hauptstädtischen Weihwasser.

 

Der Samstagnachmittag fällt sonnig und warm aus, immer mehr junge und alte Menschen strömen auf dem Platz, den der Rechten Sektor für sich in Beschlag genommen hat. Die Alten bringen ihre Kinder und Enkelkinder in Uniformen und in Flaggen gehüllt mit.

Mädchen und Frauen posieren gemeinsam mit Nationalgardisten oder sind selbst stolz in Uniform und Emblemen des Rechten Sektors erschienen.

"Heil der Ukraine", sagen sie, "Tod dem Feind",  "Der große Kampf steht an, die große Ukraine wird siegen" und "Unsere großen Kämpfer werden den Sieg holen und unserer Ehre wieder herstellen." Heil der Ukraine.

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