Teil I finden Sie hier, Teil II hier.
Von Dagmar Henn
Die Wachstumsprognosen, die die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) für das kommende Jahr vorlegt, liegen zwar unter denen, die zum Beispiel die EZB macht, aber sie sind, wenn man die wirklichen Folgen der Sanktionspolitik betrachtet, zumindest für Europa unrealistisch günstig, weil sie den Einbruch in der realen Produktion unterschätzen. Das liegt natürlich auch daran, dass sie die verheerenden Konsequenzen der Klimapolitik auf dem Energiesektor nicht benennen darf. Auch die Inflationsprognose dürfte nicht stimmen – aber sie kann natürlich die neuesten "Rettungspakete" noch nicht beinhalten, die einen weiteren inflationären Schub verursachen dürften.
Augenblicklich ist die Inflation unter den Schwellenländern in der Türkei mit über 70 und in Argentinien mit über 60 Prozent am höchsten, gefolgt von Nigeria mit 18 Prozent. Auch hier sind es die Rohstoffpreise, die die Inflation antreiben. Der Rohstoffpreisindex des IWF, der einen globalen Mittelwert über alle Rohstoffe darstellt, ist vom Jahr 2020 bis zum Jahr 2022 von 120 auf 190 gestiegen. Bei Nahrungsmitteln gab es im Verlauf dieser zwei Jahre einen Anstieg von 90 auf 130 (in beiden Fällen wurde der Index 2016 auf 100 gesetzt). Allerdings ist es von der Währung abhängig, in der solche Käufe getätigt werden, wie die Anstiege sich real umsetzen – im Augenblick erlebt die Eurozone das, was die Entwicklungsländer ständig erleben. Während der Ölpreis phasenweise sogar fällt (bereits wegen des Rückgangs industrieller Produktion), steigt er real weiter, weil die Ware in Dollar gehandelt wird und der Dollar selbst im Verhältnis zum Euro deutlich gestiegen ist.
"Allein die höheren Nahrungspreise werden schätzungsweise im Jahr 2022 zusätzliche 75 Millionen Menschen in extreme Armut stürzen, zu den 95 Millionen, die das bereits waren. (…) Oxfam warnt, dass höhere Nahrungs- und Energiepreise und anhaltende Krisenbedingungen die Zahl der Menschen in extremer Armut im Jahr 2022 um 263 Millionen erhöhen könnte."
Monopolprofite sind ein Hauptantreiber der Inflation. "Zwischen den Jahren 2020 und 2022 waren schätzungsweise 54 Prozent der durchschnittlichen Preissteigerungen im Nichtfinanzsektor der Vereinigten Staaten auf höhere Gewinnspannen zurückzuführen, verglichen mit nur 11 Prozent in den 40 Jahren davor. (…) Prozyklische Handelsspannen waren ein entscheidender Faktor." Anders formuliert, in all jenen Märkten, in denen beherrschende Monopole existieren, haben diese die Gelegenheit genutzt, schlicht die Preise heraufzusetzen. Das betrifft nicht nur die USA oder andere westliche Kernländer, sondern ebenso die Entwicklungsländer, die darunter noch deutlich stärker leiden.
Die Lösungsvorschläge der UNCTAD klingen völlig illusorisch. Eine Anti-Trust-Politik, die praktisch die Zerschlagung dieser Monopole bedeutet, höhere öffentliche Investitionen, höhere Arbeitseinkommen, Wiedereinbindung der Zentralbanken in die Wirtschaftspolitik und ein neues Bretton Woods. Nichts davon ist im Westen politisch durchsetzbar. Im Gegenteil. Die Tendenz im Westen geht zu immer stärkerem Gewicht der Spekulation.
"Vor 2002 lag der Anteil nichtkommerzieller Spekulanten auf dem Markt für Ölpreisoptionen bei 20 Prozent, im Jahr 2009 stieg er auf annähernd 50 Prozent. Jüngere Schätzungen sehen ihn zwischen 70 und 80 Prozent. Alle größeren Ölgesellschaften, führende Banken der USA und private Energiehandelsunternehmen, geführt von Vitol, Trafigura, Mercuria und Glencore sind am spekulativen Energiehandel beteiligt. Die Wirkung der exzessiven Spekulation ist eine überwältigende Volatilität der Ölpreise, die oft den Preis für ein Barrel Rohöl um 25 bis 30 Dollar über das hinaus treiben, was die Marktgrundlagen ergeben. Auf die gleiche Weise hat die spekulative Aktivität von Hedgefonds, Investmentbanken und Pensionsfonds die Weizenpreise hochgetrieben."
Diese Spekulation ist also kein Gerücht und keine Verschwörungstheorie. Die finanziellen Faktoren haben einen ebenso starken Einfluss auf die Entwicklung der Rohstoffpreise wie die realen Veränderungen von Angebot und Nachfrage, quer durch das gesamte Rohstoffspektrum.
"Das deutsche Forschungsinstitut ZEF fand heraus, dass der Anteil nichtkommerzieller Händler (Spekulanten), die lange Positionen in Hartweizen und Mais hielten, Anfang 2022 abrupt auf 50 Prozent stieg, eine Lage, die oft mit Preissteigerungen verbunden ist. Lighthouse Reports, eine NGO für investigativen Journalismus, berichtete, dass Investoren im April 2022 1,2 Milliarden in zwei größere landwirtschaftliche Fonds pumpten, verglichen mit nur 197 Millionen im ganzen Jahr 2022."
Und es gibt noch ein weiteres Problem auf dem Getreidemarkt: "IPES-Food berichtet, dass die beste Kenntnis davon, wie viel Getreide zu einer bestimmten Zeit an jedem beliebigen Ort der Welt vorhanden ist, bei privaten Unternehmen zu finden ist, insbesondere bei dem 'ABCD' der Getreidehändler: Archer Daniels Midlands, Bunge, Cargill und Louis Dreyfus. Da diese Firmen den globalen Getreidehandel zu 70 bis 90 Prozent beherrschen, dürften ihre Reserven entsprechend groß sein. Und mit steigender Spekulation bei Rohstoffen, haben sie einen klaren Anreiz, ihre Reserven zurückzuhalten, bis die Preise den Gipfel erreicht haben."
"Im April 2022 waren sieben von zehn Käufern von Verträgen in Weizen-Futures Investmentfirmen, Investmentfonds, andere Finanzinstitutionen und kommerzielle Unternehmen, die sich nicht dadurch absichern, sondern vom Preisanstieg profitieren wollten."
Die von der EU etablierten künstlichen Gas- und Strommärkte leiden unter dem gleichen Problem. Nicht nur, dass die Spekulation auf diesen Märkten die Preise noch weit über das (ebenfalls künstlich, weil durch politische Entscheidungen) verknappte Angebot hinaustreibt, da auch die Versorger inzwischen weitgehend privatisiert sind, gibt es auch keine direkte Möglichkeit der Preiskontrolle mehr. "Jene [Länder], die die Kontrolle über die heimischen Energiegesellschaften und/oder die Bildung derer Endverbraucherpreise gehalten haben, konnten auch die Verteilungswirkung auf die heimische Inflation unter Kontrolle halten." Die Liberalisierung beißt in diesem Falle also gleich zweimal.
Die Folgen der Entwicklung für die Ökonomie in der EU, insbesondere in Deutschland, betrachten wir ja regelmäßig. Das, gekoppelt mit den Zinserhöhungen der Fed (US-Zentralbank-System), führt zu einem stetig sinkenden Kurs des Euro. Das verteuert insbesondere Energieimporte weiter, für die Vereinigten Staaten eine Möglichkeit, die eigene Inflation abzuwälzen. Aber die Nachteile für Europa sind bei Weitem nicht so verheerend wie die Folgen für jene Länder, deren Schulden in Fremdwährungen, und da eben wieder primär in Dollar, nominiert sind.
Die beiden Produkte, deren Preise besonders stark steigen, Nahrung und Energiequellen, sind gleichzeitig solche, deren Erwerb man nicht einfach lassen kann. Menschen verhungern ohne Nahrung. Es ist also eine Situation entstanden, in der die ärmeren Länder die Waren, deren Preise explodieren, kaufen müssen, und sei es auf Kredit. Gleichzeitig steigt der Dollarkurs und damit die Schuldenlast. Das Ergebnis kann, das sagt auch die UNCTAD, eine ganze Welle von Staatsbankrotten sein. Was sie nicht sagt, ist, dass das genau dem Muster der 1980er Jahre entspricht, als Lateinamerika rekolonisiert wurde.
Man könnte sagen, es ist ein besonders bösartiges Pokerspiel. Und in diesem Zusammenhang machen die Sanktionspakete Sinn, denn sie fördern die Entwicklung einer solchen Staatsbankrottkrise in den Entwicklungsländern, von denen bereits einige auf Sonderziehungsrechte des IWF zurückgegriffen haben. Die Klimapolitik, die Inflation und die Sanktionspakete bilden ein Bündel, das zusammengenommen einen Versuch darstellt, große Teile der Welt wieder in die völlige ökonomische Abhängigkeit zurückzustoßen und an einer eigenständigen Entwicklung zu hindern.
Für die betroffenen Länder wäre das eine Katastrophe. Menschen, die an Hunger sterben, irgendwo in Afrika oder Asien, tauchen natürlich nicht so prominent in den westlichen Medien auf, wie gerade die Ukrainer. Aber ein Erfolg dieses Versuchs würde Millionen das Leben kosten.
Wie zentral dabei die Sanktionen sind, lässt der UNCTAD-Bericht in einer kurzen Bemerkung erkennen: "Die Freigabe von 180 Millionen Barrel aus den strategischen Erdölreserven der Vereinigten Staaten [die allerdings mit dem Ziel erfolgte, die US-Wähler milde zu stimmen, D.H.] sowie die Bereitschaft von Indien und China, russische Ölexporte anzunehmen, erwies sich als ausreichend, um sicherzustellen, dass sich das globale Ölangebot nicht weiter verknappte." Anders gesagt, hätten die USA ihren Willen durchsetzen können und China und Indien hätten sich den Sanktionen angeschlossen, dann wären die Ölpreise noch weiter gestiegen, und die Folgen für von Importen abhängige Entwicklungsländer wären noch gravierender.
Zum Glück gibt es gegen diese Entwicklung, die man durchaus als einen Generalangriff auf den Globalen Süden werten kann, eine deutliche Opposition. Der Erfolg dieses ökonomischen Raubzugs ist die eigentliche Beute, um die der Westen gerade auf dem Boden der Ukraine kämpft. Die Sanktionen sind Teil dieses Raubzugs, und Russland und China erweisen sich als die Gegner, die seinen Erfolg verhindern können. Es geht nicht nur um das Überleben Russlands als staatliche Einheit, oder darum, die russischen Ressourcen nicht unter die Kontrolle der westlichen Oligarchie gelangen zu lassen, es geht um das Überleben der unzähligen Millionen, die einer gigantischen Reinszenierung der Lateinamerika-Krise der 1980er Jahre zum Opfer fallen würden. Und letztlich darum, die Menschheit von der Macht dieser westlichen Oligarchie zu befreien, die inzwischen jeden Versuch einer weiteren Entwicklung, nicht nur in den Ländern des Südens, sondern auch im Westen selbst, in der Wiege erstickt.
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