Wie kam es zur Idiotie dieser Sanktionen? Ein Erklärungsversuch

Monatelang und sorgfältig hat man sich vorbereitet, und das Ergebnis sind Sanktionen, die die eigene Industrie zerstören? Wie kommt so etwas zustande? Die Just-in-Time-Produktion könnte dazu beigetragen haben. Ganz ohne Verschwörung.

von Dagmar Henn

Inzwischen ist kaum jemand mehr übrig, der abstreitet, welch verheerende Folgen die Russlandsanktionen für Deutschland haben. Das ist zumindest ein Schritt der Erkenntnis seit März, als sie verkündet wurden. Aber trotzdem lässt mich die Frage nicht los, wie es zu solch selbstmörderischen Maßnahmen kommen konnte.

Schließlich wurde betont, wie lang und sorgfältig man diese Sanktionen vorbereitet habe, und seit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Madrid erklärte, die NATO habe sich acht Jahre auf diesen Krieg vorbereitet, ist der denkbare Vorlauf für dieses Sanktionspaket von einigen Monaten auf ganze Jahre gewachsen. Also wie kann es sein, dass bei Beteiligung mehrerer Länder, vieler Ministerien und vermutlich auch einer ganzen Reihe von Wirtschaftslobbyisten so ein Ergebnis herauskommt?

Alles nur Great Reset, höre ich da schon einige murmeln; aber da kommt mir doch Hanlons Rasiermesser in die Quere, nach dem man nichts der Bosheit zuschreiben soll, was auch durch Dummheit erklärt werden kann. Das gilt auch für die Erklärung, hier werde die europäische Industrie zugunsten der US-amerikanischen geopfert. Irgendjemandem müsste doch etwas aufgefallen sein. Und ja, ich habe selbst schon mehrmals darüber geschrieben, dass es große Kapitalinteressen gibt, die vollständig von der US-Macht abhängig sind, was bedeutet, dass sie ohne diese untergehen. Dennoch ist die Entstehung politischer Maßnahmen ein komplexerer Prozess, der äußerst selten über einen Anruf von, sagen wir mal, Bill Gates bei Ursula von der Leyen kontrolliert wird.

Einen Punkt, der Fehlkalkulationen ausgelöst haben kann, hatte ich auch bereits gefunden. Das ist die Methode zur Berechnung des Bruttoinlandsprodukts, die in den westlichen Staaten eben einen beträchtlichen Anteil Spekulation enthält, über die Immobilienpreise, über die Börsen, und außerdem einen gewaltigen Anteil dessen, was als "geistiges Eigentum" etikettiert ist – vom Gebrauchsmuster bis zum Patent.

In Ökonomien, in denen dieser Sektor ausnehmend stark ist (und genau das ist das Problem des Westens), entsteht so ein hoher Wert, der leider gar nichts über die reale wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aussagt, aber den Eindruck hinterlassen kann, man sei anderen weit überlegen, selbst wenn große Teile der vermeintlichen Überlegenheit nur eine Widerspiegelung eines Jahrzehnts hemmungslosen Gelddruckens sind.

Aber das reicht noch nicht ganz. Leute wie die Vorstandsvorsitzenden von, sagen wir mal, Daimler oder BASF müssten im Verlauf einer solchen Planung zumindest mal kurz gefragt worden sein. Kamen von dort keine Vorbehalte, keine Warnungen?

Genau dazu ist mir heute etwas eingefallen. Es ist durchaus denkbar, dass auch sie sich verschätzt haben und meinten, es handle sich um einen Markt, auf dem sie als Abnehmer unverzichtbar seien. Das Problem ist nämlich, genau so sieht deren alltägliche Erfahrung aus. Das Stichwort dazu ist "Just-in-Time-Produktion".

Auf den ersten Blick ist das eine Technik, mit der große Konzerne Geld sparen, weil sie keine Vorprodukte mehr lagern. Der Ursprung dieses Verfahrens liegt übrigens in der Militärlogistik des Zweiten Weltkriegs in Japan (der verlinkte Artikel ist durchaus lesenswert). Auf den zweiten Blick geht es um eine Beschleunigung der Kapitalzirkulation und eine Perfektionierung der Taktung innerhalb einzelner Produktionsprozesse, eine Entwicklung, die seit dem Übergang von der Manufaktur zur Fabrik läuft. Erst auf den dritten Blick fällt auf, dass ein Ergebnis der Just-in-Time-Produktion eine Unterordnung der Zulieferunternehmen unter die Produktionsbedürfnisse der Konzerne darstellt, die die Endabnehmer sind. Eine Unterordnung von einer Tiefe, die faktisch einer Eingliederung in den Konzern entspricht, ohne dass je die Kontrolle über das Kapital der Firma übernommen wurde.

Man kann es auch tatsächlich beobachten – die Just-in-Time-Produktion erreichte Europa Anfang der 1990er. Bis dahin hatten die großen deutschen Konzerne dazu tendiert, sich die gesamte Lieferkette hinzuzukaufen, einer der Ursprünge der bekannten "Deutschland AG". Just-in-Time war als Kontrollmechanismus so wirkungsvoll, dass die Kontrolle über das Kapital nicht mehr nötig war und daher die Deutschland AG aufgelöst werden konnte, was Gerhard Schröder dann auch noch steuerfrei ermöglichte. Das frei gewordene Geld lief dann, das war schon zu diesem Zeitpunkt so, nicht in neue Produktion, sondern in die Spekulation.

Einen kurzen Moment lang konnten sich sogar die Gewerkschaften diese Struktur zunutze machen; Streiks bei Zulieferunternehmen waren so kostengünstig wie wirkungsvoll, aber die Justiz der Bundesrepublik sorgte sehr schnell dafür, dass diese Folge wieder beseitigt wurde. Die Corona-Folgen in den Lieferketten machten ebenfalls wieder sichtbar, wie zerbrechlich diese Gesamtstruktur ist, sobald einzelne Positionen ausfallen.

Aber zurück zu den Sanktionen. Die praktische Folge von Just-in-Time auf die Sicht der Vorstände großer Konzerne ist, dass nach ihrer praktischen Erfahrung jede Position weiter unten in der Lieferkette schwächer ist. Das sind diejenigen, denen man Produkt-, Zeit- und Preisvorgaben macht. Was bedeutet, entlang der Lieferkette verläuft kein Markt, sondern eine Monopolstruktur, in diesem Fall ein Abnehmermonopol.

Natürlich hat dieses Modell mehrere Schwachstellen. Die erste ist klar: Wenn es logistische Probleme gibt, verbreiten sich die Auswirkungen wie fallende Dominosteine die ganze Kette entlang. Die zweite: Der zunehmende Druck auf die Preise dieser Zwischenproduktionen führte dazu, dass diese Produktionen immer weiter verlagert wurden. Letztes auffälliges Beispiel waren die Kabelbäume für Kraftfahrzeuge, die ausgerechnet aus der Ukraine kamen bzw. dann eben nicht mehr kamen. Aber gerade im Automobilbereich sind große Teile der vorgelagerten Produktion nach China gewandert. Sobald aber ein anderes Land im Spiel ist und nicht nur eine andere Firma, kann sich das Machtverhältnis entlang der Produktionskette umkehren; je größer und unabhängiger das Land, desto leichter. Eine Welle der Souveränität, wie sie im Gefolge des US-Untergangs entstehen kann, wird auch diese Lieferketten durcheinanderwirbeln. Sofern sie dann noch existieren.

Aber das ist noch nicht die alltägliche Erfahrung, die in der entsprechenden Industrie gemacht wird. Im Gegenteil. Dort herrscht die Allmacht des Abnehmers (etwas, das man als gewöhnlicher Verbraucher, der im Regelfall gar keine Macht hat, nur schwer nachvollziehen kann). Seit ungefähr einer kompletten Generation, was bedeutet, andere Erfahrungen sind innerhalb des Apparats dieser Konzerne gar nicht mehr präsent. Das macht im Regelfall blind für die Voraussetzungen dieses Zustands.

Wenn man also jemanden an der Spitze von Daimler fragt, was er davon hält, wenn wir hier das Erdgas verknappen, kann er so vernünftig sein wie er will, er wird instinktiv die Produktionskette hinabblicken, feststellen, dass ein Rohstoff wie Erdgas ganz am Anfang steht, die erfahrene Machtstellung die Kette abwärts extrapolieren und sagen: kein Problem. Er wird das vermutlich sogar dann noch sagen, wenn ihm Zahlen vorgelegt werden, die das Gegenteil besagen, weil die konkrete Erfahrung erst einmal die abstrakte Information schlägt.

Dass sein Abnehmermonopol sich nicht bis in diese Bereiche erstreckt, und dass nicht nur er, sondern das ganze Land in Bezug auf Erdgas schlicht Verbraucher ist und in diesem Fall zumindest ein Oligopol auf der Gegenseite liegt, das zu erkennen dauert ein wenig. Vor allem, wenn dann noch Fragen eines natürlichen Monopols dazwischenkommen (natürliche Monopole entstehen immer, wenn Netze zur Verteilung benötigt werden, von Pipelines bis zu Stromnetzen), dessen Existenz im Inland durch Dutzende Privatisierungen inzwischen weitgehend der direkten Wahrnehmung entzogen ist.

Nachdem auch die Chefs großer Konzerne zu allem, was außerhalb ihrer Firma läuft, meist nicht mehr wissen, als im Handelsblatt steht, gehen sie natürlich zusätzlich noch in die Falle, die sich hinter einem Vergleich der Bruttoinlandsprodukte verbirgt, und überschätzen auch da die eigene Stärke. Und schon nützt die sorgfältigste Vorbereitung nichts mehr, weil die eigenen Illusionen eine realistische Wahrnehmung behindern.

Das entspricht dann schon fast dem Muster der klassischen griechischen Tragödie. Darin wird der Held vor seinem Untergang von den Göttern mit Blindheit für die Folgen des eigenen Tuns geschlagen, sodass er diesen Untergang selbst herbeiführt.

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