"Auf zum Atom!" – Rosatoms Siegesruf in Richtung Washington

Dass die US-angeforderten, von Europa ausgeführten Energie-Sanktionen den alten Kontinent viel eher treffen als den Kreml, ist sogar denen in der letzten Reihe glasklar. Falls die USA sich jedoch aggressiver zeigen sollten, besitzt Moskau ein nukleares Ass im Ärmel.

Von Elem Raznochintsky

Es ist auch nicht das einzige Ass im Arsenal russischer Antworten auf die derzeitige Irrationalität "unliebsamer Partnerländer". Aber diese geostrategische Spielkarte namens "angereichertes Uran" – oder Uranhexafluorid – bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Denn es gibt mehrere große Produktionsstufen bei Uran: den Abbau, die Umwandlung, die Anreicherung und die finale Herstellung. Besonders in den letzten beiden Stufen ist Russlands Rosatom bei Weitem führend.

Die USA und ihre Atomkraft

Insgesamt hat das Land 93 Atomkraftwerke. Für das Jahr 2021 haben diese AKWs zusammengenommen fast ein Fünftel der Elektrizität des Landes generiert – 18,9 Prozent. Von den 50 US-Bundesstaaten betreiben 28 kommerzielle Kernkraftwerke zur Stromerzeugung. Was natürlich nicht notgedrungen heißt, dass die restlichen 22 US-Bundesstaaten nicht auch vom selben Produkt abhängig sind und so ihren Strom zum Teil beziehen.

Die gesamte Kapazität aller Atomkraftwerke der Nation für das Jahr 2021 war auf 92,7 Prozent getaktet – sie waren also ziemlich gut ausgelastet. Ungefähr 23 Prozent des angereicherten Urans für diese Kernreaktoren kommt von Rosatom. Hier zeigt sich eine fragile und sehr verwundbare Abhängigkeit des US-Kernkraftsektors von russischem Energieexport. 

Die nahe Zukunft

Noch im April veröffentlichte die föderale Agentur für Atomenergie Russlands (Rosatom) in ihrem Online-Newsletter eine Marktanalyse, die belegt, dass keiner der anderen Produzenten von angereichertem Uran weltweit eine Verbannung Russlands von diesem Markt auch nur ansatzweise decken könnte. 

Im Westen sind die Länder Kanada (mit der Firma Cameco) und Frankreich (mit der Firma Orano) die einzigen anderen großen Produzenten von angereichertem Uran.

Zu den genannten kommt nur noch eine hinzu, die laut dem US-Energieministerium die einzige Anlage zur Urananreicherung auf dem Gebiet der USA ist. Außerdem gehört sie nicht den US-Amerikanern, sondern fungiert als europäischer Unternehmenszusammenschluss namens URENCO.

Zurzeit liegt der weltweite Marktanteil von Rosatom für die tatsächliche Produktion von angereichertem Uran bei 36 bis 38 Prozent. Man bedenke den Unterschied zur bloßen Gewinnung von natürlichem Uran als Bodenschatz. Russland ist dabei lediglich auf Platz 6 der weltweit Uran-reichsten Länder – auf Platz 1 steht deutlich Kasachstan mit 40,5 Prozent. Die Zwischenschritte von natürlichem hin zu angereichertem Uran sind nicht banal und verbunden mit avancierter Technologie. Technologie, die Rosatom dominiert. Wenn von der weltweiten Kapazität von Urananreicherung die Rede ist, liegt Russlands Infrastruktur sogar bei 43 Prozent – also weit vor Europa (mit 33 Prozent), China (mit 16 Prozent) und den USA (mit sieben Prozent).

So wird auch das meiste, in Kasachstan geborgene, natürliche Uran erst in Russland zu angereichertem Uran. Der technologische Prozess ist so exklusiv, dass praktisch die Rede von zwei unterschiedlichen Produkten sein sollte. "Rohes", unbearbeitetes Uran ist in einem US-Kernkraftwerk nicht viel mehr als ein Briefbeschwerer.

Rosatoms Einrichtungen für die Umwandlung von Uran liefen im Jahr 2021 mit einer Produktionskapazität von 96 Prozent. Für denselben Zeitraum war die kanadische Firma Cameco imstande 72 Prozent seiner vollen Produktionskapazität zu erfüllen, wohingegen ihr französisches Äquivalent Orano lediglich 17 Prozent erreichte und auch in mittelfristiger Zukunft nur den nationalen Bedarf zu decken plant. Falls die Bundesrepublik jemals zur Kernkraft zurückkehren sollte, gebe es also keine Lieferungen aus Paris und man müsste dann doch wieder mit den Russen verhandeln, da auch China nur ausreichend Uran für sich selbst umwandelt und anreichert.

Das US-Embargo auf russische Energieexporte (Erdöl, Kohle und Flüssigerdgas) Anfang März hatte explizit nukleare Treibstoffe ausgeklammert. Der Grund ist offensichtlich: Washingtons Atommeiler sind im Großteil auf die russischen Exporte von angereichertem Uran angewiesen. Die Kanadier können den zusätzlichen Bitten aus Washington um weitere Unterstützung kurz- bis mittelfristig nicht nachkommen. 

Laut dem US-Senator John Barrasso (Wyoming) hat Russland im Vorjahr den USA angereichertes Uran im Wert von insgesamt einer Milliarde US-Dollar verkauft. Dieses Jahr ist sogar eine Summe von 1,2 Milliarden US-Dollar in Aussicht gestellt worden, im Schnitt 100 Millionen US-Dollar an monatlichen Zahlungen nach Moskau. Vermeintlich sehr zum Missfallen des guten Senators, der sogar ein Gesetz für ein Embargo auf dieses russische Energieprodukt vorschlug. Bisher hält man sich – zu Recht – mit der Verabschiedung zurück. Es war aber auch unter Senator Barrasso, dass die Uran-Minen Wyomings bis 2019 fast gänzlich stillgelegt wurden. Ob in dieser Regionalpolitik eher Vorsätzlichkeit oder blanker Stumpfsinn herrschte, ist zurzeit noch ungewiss. Selbst wenn es dazu nicht gekommen wäre, bliebe das technologische Problem der fehlenden Urananreicherung natürlich trotzdem bestehen.

Außerdem gibt es teilweise grobe Ungereimtheiten bei der offiziell gemeldeten Statistik: US-amerikanische Medien versuchten dem Rätsel der tatsächlichen Exporte von angereichertem Uran aus Russland nach Amerika auf die Schliche zu kommen. Dies entpuppte sich als viel schwieriger als anfangs angenommen. Verschiedene US-Staatseinrichtungen verschleierten die Importe, indem sie "natürliches" und "angereichertes" Uran in ihren Kommuniqués nicht voneinander unterschieden. Ein Unterschied aber, der wichtiger nicht sein könnte.

Gegen den "Strom" schwimmen

Rosatom macht das im Sinne des eigentlichen Ausdrucks, indem es dem westlichen Trend der Abkehr von Atomkraft in den letzten Jahren nicht viel Aufmerksamkeit schenkte.

Der Westen wiederum – seit der Anstoß gebenden Nuklearkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 – fing größtenteils an, gegen den Elektrostrom zu schwimmen, zumindest gegen den, der aus Atomkraft erzeugt wurde. So auch in Deutschland. Das Zurückrudern beginnt zwar mit einer enormen Verspätung, wie sich das gerade im Ost-West-Konflikt sehr veranschaulicht. Die US-amerikanischen Gesetzgeber kündigten im Juni eine Verordnung an, die eine über 4 Milliarden US-Dollar schwere Investition in den Bau einer eigenen Uran-Anreicherungs-Einrichtung ermöglichen soll.

Womöglich erreichte die dortige politische Elite dann doch ein Lichtschimmer von Vernunft. Ein Auslöser hierfür könnte die Tatsache gewesen sein, dass Rosatom in der Zwischenzeit sein Netzwerk weltweit ausdehnte. Im Jahr 2017 unterschrieb Rosatom mit gleich drei afrikanischen Ländern – Sudan, Äthiopien und Uganda – Memoranda über eine friedliche, nukleare Zusammenarbeit, die auch den Bau von diesbezüglicher Infrastruktur zur Folge haben sollten.

Auch wurde kürzlich bekannt, dass Kairo und Moskau bis zum Jahr 2028, angeleitet von Rosatom, das erste ägyptische Atomkraftwerk ins Leben rufen werden. Das Projekt hat einen Wert von 30 Milliarden US-Dollar und wird in der Form eines an Kairo ausgestellten Staatskredites zu 85 Prozent von Russland getragen. Wohl bemerkt, handelt es sich um das Siebenfache an Kapital von dem, was das oben genannte US-Gesetz für seinen eigenen Bau zur Verfügung stellen würde.

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