Ukraine-Krieg: Bedeutung der Stadt Tschassow Jar – Warum sie so umkämpft ist

Tschassow Jar, eine Stadt im vorübergehend ukrainisch besetzten Teil der russischen Volksrepublik Donezk, wird seit Ende der vergangenen Woche von Russlands Militär gestürmt. Militärexperte Boris Roschin erklärt die Bedeutung dieser Stadt im Ukraine-Krieg.

Nach monatelangen Vorbereitungsgefechten, bei denen Russlands Streitkräfte Kiews Eroberungen in der westlichen Umgebung von Artjomowsk bei deren Gegenoffensive zunichtemachten, wird die nächstgelegene westliche Stadt befreit: Tschassow Jar. Militärexperte Boris Roschin, Leiter und Autor des Telegram-Kanals Colonel Cassad, hält fest: Russische Einheiten haben Stand Mittag des 9. April 2024 den östlichen Stadtteil von Tschassow Jar erreicht, das sogenannte kompakte Siedlungsgebiet Kanal – so genannt, weil es von der Ortsmitte aus gesehen hinter dem Kanal Sewerskij Donez-Donbass liegt. Russlands Artillerie und Luftwaffe bearbeiten die ukrainischen Stellungen sowohl in Kanal als auch in den anderen Stadtbezirken. Der Experte erklärte live gegenüber Journalisten von Radio Rossii:

"Teils hat der Gegner seine Truppen hinter den Kanal Sewerskij Donez-Donbass zurückgezogen. Doch aus den Häusern am Stadtrand zieht er sie nicht zurück. Deswegen werden die Stellungen bearbeitet – größtenteils mit Lenkgleitbomben und Artillerie."

Wie wichtig Lenkgleitbomben bei Russlands militärischer Sonderoperation sind, kann der Leser zum Beispiel hier in Erfahrung bringen. Roschin weiter:

"Dabei setzen die russischen Truppen ihre Sturmaktionen nordwestlich wie südwestlich von Tschassow Jar fort. Gerade südöstlich von Tschassow Jar hat es in den vergangenen 24 Stunden ernstzunehmende Fortschritte gegeben: Dort nahmen die russischen Streitkräfte eine ganze Reihe gegnerischer Stellungen ein."

Südöstlich von Tschassow Jar beziehungsweise westlich von Iwanowskoje rücken die russischen Truppen durch ein von Osten nach Westen verlaufendes Trockental (südrussisch: "balka") vor, das lediglich einen Flurnamen trägt – Golubyje Stupki, zu Deutsch "Hellblaue Mörserlein".

Auch an der Nordflanke geht es voran, und das ist zu einer etwaigen Umgehung der Stadt, um das dortige ukrainische Aufgebot von Versorgungswegen abzuschneiden, ebenso erforderlich wie zu ihrer Erstürmung – auf den letztgenannten Aspekt konzentriert sich Roschin: 

"Seit heute Morgen gehen Sturmaktionen im nordöstlich gelegenen Waldmassiv fort – sowie in der Ortschaft Bogdanowka, aus der der Gegner nach und nach verdrängt wird. Gefechte laufen außerdem um Anhöhen bei Bogdanowka sowie um Anhöhen bei Iwanowskoje (früher: Krasnoje). Vor einem vollwertigen Sturm auf breiter Front müssen die russischen Einheiten die Anhöhen bei Bogdanowka und Krasnoje vom Gegner säubern. Dann kann man auf breiter Front zur Stadt ausrücken – um nicht bloß aus einer Richtung einzubrechen, sondern aus mehreren Richtungen die Stellungen des Gegners in Tschassow Jar wie in den Vororten der Stadt anzugreifen."

Was aber bedeutet diese Stadt für den weiteren Verlauf des Ukraine-Krieges? Warum ist sie so umkämpft? Boris Roschin legt es wie folgt dar:

"Wichtig zu verstehen ist, dass Tschassow Jar zur Hauptverteidigungslinie gehört, die das Ballungsgebiet Slawjansk-Kramatorsk deckt – zur Linie Konstantinowka-Tschassow Jar – Rai-Alexandrowka. Sie verläuft vollständig über Anhöhen, zumindest relativ zu Artjomowsk. Und sobald der Gegner Tschassow Jar verliert und Russlands Militär auf diese Anhöhen durchbricht und die Stadt befreit, findet es sich in wenigen Kilometern von Konstantinowka wieder. Auch Druschkowka ist dann nicht weit. Und weiter westlich sind Kramatorsk und Slawjansk. Dadurch entsteht eine Bedrohung für die Stellungen des Gegners in den von ihm besetzten Territorien des westlichen Donbass. Die Stadt Tschassow Jar an sich ist nicht so wichtig – sondern in ihrer Qualität als Tor ins Ballungsgebiet Slawjansk-Kramatorsk."

Insofern ist es durchaus sinnvoll, Tschassow Jar in dieser Hinsicht mit Artjomowsk zu vergleichen – und das Kommando in Kiew versucht genauso verzweifelt, Tschassow Jar zu halten, wie es dies im Vorjahr mit Artjomowsk versuchte. Auch geschieht dies auf dieselbe Weise – durch Verheizen von Militärpersonal. So wurden vor kurzem zwei zusätzliche Brigaden zu beziehungsweise nach Tschassow Jar verlegt, erinnert der Kriegsberichterstatter. Doch diese Taktik wird jetzt genauso erfolglos bleiben wie vor einem Jahr in Artjomowsk, so Roschin, und zwar aus denselben Gründen:

"Bleibt diese Tendenz erhalten, falls dem Gegner nichts Neues einfällt, dann wird er Tschassow Jar trotz all seiner Reserven verlieren – weil diese ja nach und nach zermalmt werden."

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