Reportage von Jelisaweta Koroljowa
Die Front des Ukraine-Krieges verläuft schon seit dem Jahr 2014 weniger als 30 Kilometer entfernt von Gorlowka und Jassinowataja [zwei Satellitenstädte mit zusammen mehr als 300.000 Einwohnern, vergleichbar mit Potsdam und Bernau bei Berlin] nahe Donezk. Und seit dem Jahr 2014 setzen Truppen des Kiewer Regimes die dort lebenden Zivilisten ständigem Beschuss aus. Das letzte Jahr war in dieser Hinsicht besonders hart. Doch Tausende von Zivilisten – Schüler, Studenten, Rentner, aber auch Ärzte und freiwillige Helfer – leben weiterhin in den Städten an der Frontlinie. RT hat mit ihnen darüber gesprochen, warum sie trotz der Gefahr in ihren Häusern bleiben und wie die Jahre des Konflikts ihr Leben verändert haben.
Wika, heute 16 Jahre alt, kam im Jahre 2015 aus Mariupol nach Jassinowataja: Ihre Familie wollte nicht unter der neuen ukrainischen Regierung leben und zog zu Verwandten in der Volksrepublik Donezk – mittlerweile seit einem Vierteljahr russisches Staatsgebiet. Den ersten Beschuss in ihrem Leben erlebte sie, als sie acht Jahre alt war: Sie ging mit ihren Klassenkameraden spazieren, als plötzlich Granaten in der Nähe ihrer Schule einzuschlagen begannen. Alle Kinder wurden unverzüglich zum Schutz in den Keller geführt.
Im vergangenen Frühjahr fuhren Wiktoria und ihre Mutter für einige Wochen in das benachbarte russische Gebiet Rostow. In der friedlichen Gebietshauptstadt Rostow am Don war das Mädchen sehr überrascht, als sie die Straßen voller Autos und Menschen und die Regale der Geschäfte voller Lebensmittel sah. In Jassinowataja versuchen die Einwohner hingegen, ihr Haus möglichst nicht ohne Not zu verlassen – daher sieht man nicht oft Zivilisten in der Stadt. Bei diesem Aufenthalt wurde Wika an ihr altes Zuhause erinnert:
"Auch der Fluss in Aksai hat sich in mein Gedächtnis eingeprägt. Als meine Mutter und ich ans Ufer kamen, erinnerten wir uns aus irgendeinem Grund sofort an das Meer in Mariupol – als wir dort lebten, gingen wir ständig dorthin. Ich habe auch immer noch Freunde in Mariupol."
Doch zwei Monate später kehrte die Familie nach Jassinowataja zurück – so stark war ihre Sehnsucht nach der neuen kleinen Heimat, aber auch ihr seltsames, dort erlittenes Trauma, erklärt Wika:
"Mein älterer Bruder war hier geblieben – ich hatte Angst um ihn. Trotzdem zog es uns wieder hierher, weil wir seelisch mittlerweile an den Beschuss gewöhnt waren, aber in Russland gibt es das nicht. Für die Psyche ist es sehr schwer, mit der Stille zurechtzukommen: Jede Sekunde lauscht man und wartet und wartet, aber es kommen dort keine Geräusche. Auch das ist dann sehr erdrückend."
Dass Stille für sie noch beängstigender ist als das Pfeifen oder Brüllen der anfliegenden Geschosse und das Donnern der Einschläge, bestätigten ausnahmslos alle von RT befragten Bewohner von Jassinowataja und Gorlowka.
Jetzt lernt Wiktoria am Berufskolleg für Technik und Dienstleistungen in Gorlowka – für ihr Berufsziel Lebensmitteltechniker und Koch. Die meisten ihrer Freunde sind im vergangenen Jahr an andere russische Bildungseinrichtungen gewechselt und haben Jassinowataja verlassen, um abseits der Frontlinien leben zu können. Die Mutter des Mädchens möchte eigentlich, dass auch ihre Tochter diese Möglichkeit erhält, um eine gute Ausbildung zu bekommen:
"Fernschulung am Bildschirm tötet jede Bildung. Sie möchte an einem Arbeitstisch in einer Klasse sitzen und vernünftig lernen – aber wie soll Bildung im Präsenzunterricht in Gorlowka gehen? Ich würde sie gern irgendwo nach Kern-Russland schicken. Aber einen Platz im Wohnheim bekommt sie momentan nur in Krasnodar, und ich kann mir dort ihren Lebensunterhalt nicht leisten – weil zu teuer. Ich weiß nicht, was ich tun soll."
Wiktorias beste Freundin ist in Jassinowataja geblieben – doch trotzdem sehen sich die Mädchen kaum:
"Sie wohnt in einem anderen Stadtbezirk, wo viel mehr und öfter etwas einschlägt. Also schreiben wir uns hauptsächlich über soziale Medien."
Um spazieren zu gehen und sich zu entspannen, fahren Wiktoria und ihre Freunde ins nahe gelegene Makejewka – einer weiteren Stadt als Vorort von Donezk. Viele Einwohner von Jassinowataja kommen mal hierher, um sich von dem ständigen Beschuss etwas zu erholen, aber auch um Arbeit zu finden und Lebensmittel zu kaufen. Lastwagen schaffen es nur selten nach Jassinowataja, da die ukrainischen Streitkräfte die Straße, die in die Stadt führt, ständig beschießen. Auf dieser Straße müssen Wika und ihre Freundin aus Makejewka nach Hause zurückkehren:
"Wenn ich von der Bushaltestelle nach Hause gehe, lausche ich immer, ob nicht eine fallende Granate pfeift."
Auf die Frage, ob sie Jassinowataja verlassen möchte, antwortet Wika, dass ihr Zuhause hier ist und sie ihre neue kleine Heimat nicht verlassen möchte:
"Für mich sind sowohl Mariupol als auch Jassinowataja die Heimat. Und im globalen Sinne ist es natürlich Russland, denn wir sind russische Menschen.
Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen, die hier geblieben sind, ihren Schmerz dadurch stillen, dass sie in ihrer Heimat sind und mit ihr zusammen leiden."
"Sie zählen auf mich"
Alexei Petrow, 33, ist in Jassinowataja geboren und aufgewachsen, lebte aber seit dem Jahr 2014 in Moskau. In die DVR kehrte er im Jahr 2020 zurück, als er aufgrund der Pandemie seine Arbeit in Moskau verloren hatte:
"Seit März begannen Geschosse in meinem Stadtbezirk einzuschlagen. Granaten landeten am Haus meiner Mutter, und ihre Balkonfenster gingen zu Bruch. Im April gab es Beschuss in der Nähe meines Hauses: 'Grad'-Raketen töteten meine Nachbarin und einen zuvor im Rahmen der Mobilmachung eingezogenen jungen Kerl, die zusammen die Straße entlanggingen. Er hatte wohl Urlaub und war auf dem Weg zu ihrem Haus, um ihr zu helfen, die Fenster zu vernageln, die durch den vorigen Beschuss zu Bruch gegangen waren. Das erste Raketengeschoss tötete sie beide auf der Stelle. Hätten sie die 'Grad' früher kommen hören, hätten sie noch Zeit gehabt, sich im Keller zu verstecken."
Vom Militärdienst ist Alexei freigestellt und wurde daher nicht in die Armee eingezogen – doch er will nicht untätig bleiben. Mitte des letzten Sommers wandte er sich an die örtliche Verwaltung und bot an, den örtlichen Gemeindearbeitern ehrenamtlich auszuhelfen.
Zusammen mit anderen Freiwilligen half er beim Abladen von Trinkwasser, das in Flaschen in die Stadt gebracht wird: Aufgrund von Schäden an Wasserleitungen durch ukrainischen Beschuss fällt die Wasserversorgung in Jassinowataja immer wieder zeitweise aus.
Nach und nach wurde Alexei von Einheimischen angesprochen. Sie bitten ihn, ihnen bei der Instandsetzung von Häusern nach Beschuss zu helfen, Lebensmittel für diejenigen zu einzukaufen, die nur schwer aus dem Haus gehen können, oder nach Rentnern zu sehen, deren Angehörige sie nicht selbst aufsuchen können.
"Eines Tages schrieb eine Frau aus Kiew an unsere Social-Media-Gruppe: Ihre 67-jährige Mutter lebt in Jassinowataja und kann wegen Krankheit nicht mehr laufen. Die Kiewerin bat uns, mit ihrer Mama zu sprechen, um herauszufinden, ob sie Hilfe braucht. Sie selbst kann verständlicherweise nicht aus Kiew mal eben vorbeikommen: In der Ukraine würde sie entweder wegen Verbindungen zu Russland gerichtlich verurteilt werden oder ihren Arbeitsplatz verlieren. Naja, dann ging ich eben zu dieser Frau. Jetzt komme ich zweimal pro Woche zu ihr, kaufe Lebensmittel und Medikamente für sie und helfe ihr im Haus, wenn es nötig ist: repariere ihre Waschmaschine oder sonst irgendetwas."
Der Mann sagt, die Menschen seien der ständigen Gefahren überdrüssig. Gleichzeitig hat aber auch er selbst nicht vor, Jassinowataja zu verlassen.
"Ich habe eine Weile darüber nachgedacht, aber dann habe ich angefangen, mich ehrenamtlich zu engagieren – und jetzt verstehe ich, dass ich nicht mehr weg kann. Die Jungs bei der Freiwilligengruppe zählen auf mich. Und wem soll ich dann diese Oma anvertrauen, die ich jetzt besuche? Irgendjemand muss es ja tun, es sind ja schon so wenige Leute da – alle sind weggefahren."
"Kinder sind wie kleine Greise, können nicht entspannt leben"
Eine weitere Stadt nahe der Front, die sich seit Jahren im Krieg befindet, ist Gorlowka. Sie liegt weniger als 30 km entfernt von Awdejewka, derzeit noch von Kiewer Truppen kontrolliert. Jelena Karpenko, eine 55-jährige Lehrerin, hat Gorlowka im vergangenen Jahr ausschließlich mit Gruppen ihrer Schüler verlassen, wenn Klassenfahrten in andere Regionen Russlands veranstaltet wurden. Nach ihrer Wahrnehmung kann man im Hinterland jene Kinder, die nahe an der Front leben, sofort von denen unterscheiden, die den Krieg nie gesehen haben:
"Wenn zum Beispiel ein Lastwagen die Straße entlangfährt, ist er laut – unsere Kinder gehen sofort in die Hocke und bedecken ihre Köpfe mit den Händen. Leider lächeln sie auch weniger, sie sind nicht mehr so munter und albern. Man könnte sagen, dass unsere Kinder wie kleine Greise sind. Selbst bei Ausflügen auf die Krim oder in das Gebiet Krasnodar können sie sich nicht völlig entspannen: Sie sind immer am Smartphone, um die Nachrichten zu verfolgen und mit ihren Verwandten in Kontakt zu bleiben."
Die Frau unterrichtet seit mehr als 35 Jahren russische Sprache und Literatur sowie Englisch an derselben Schule in Gorlowka, von der sie auch selbst einst abging. Als das ukrainische Militär in den Jahren 2014 und 2015 mit dem Beschuss der Stadt begann, hielt sie sich tagaus, tagein im Schulgebäude auf und half den Einheimischen, sich im Schulkeller zu verstecken. Schon damals konnte sie sich nicht vorstellen, die Stadt zu verlassen und die Schüler und Menschen, die die Schule als Zufluchtsort benötigten, zurückzulassen, sagt sie.
"Die Kinder müssen aber natürlich wenigstens ab und zu aus der Stadt herauskommen, damit sie verstehen, dass das Leben weitergeht. Ich sage meinen Schülern immer: 'Dass wir weiterhin hier lernen und leben – das ist unsere Frontlinie. Und es ist in der Tat jedes Mal ein mutiger Akt rauszugehen, jeden Tag das Haus zu verlassen, um weiter zu lernen und Wissen zu erwerben."
Die Regelung des Distanzunterrichts gilt in Gorlowka für Schüler wie für Studenten nun bereits das vierte Jahr: Ab dem Jahr 2020 wurde sie wegen der Coronavirus-Pandemie angeordnet und danach wegen der Eskalation des Ukraine-Konflikts verlängert. Dies hat mittlerweile dazu geführt, dass die Studenten, die bereits seit mehreren Jahren an denselben Hochschulen studieren, weder einander gegenseitig noch ihre Professoren richtig kennen.
Olga Karpowa, 20 Jahre alt, ist Studentin im vierten Jahr am Institut für Automobil- und Straßenwesen der berufsbildenden Hochschule Nationale Technische Universität Donezk. Sie leitet auch den örtlichen Studentenclub. Dessen Aktivisten versuchen, die Studenten irgendwie zusammenzubringen – trotz des Fernstudium-Regimes und der Unmöglichkeit, unter dem ständigen Beschuss öffentliche Veranstaltungen persönlich abzuhalten.
Jetzt haben in Gorlowka einige Cafés und öffentliche Einrichtungen wieder geöffnet; auch können sich die jungen Leute in kleinen Gruppen treffen und spazieren gehen, wenn sie wollen. Aber beides hängt, wie das Mädchen sagt, "von der Stimmung derer ab, die uns bombardieren":
"Wenn es ruhig ist, können wir in der Stadt spazieren gehen, aber wenn es unruhig ist, treffen wir uns lieber bei jemandem zu Hause. Man kann durchaus sagen, dass die Ukraine sehr wohl strategische Ziele trifft – nur nicht militärische, sondern zivile. Zum Beispiel sind schon mehrmals Geschosse am zentralen Markt eingeschlagen: Es ist von vornherein klar, dass dort kein Militär ist, sondern Leute, die sich frühmorgens auf einen Arbeitstag und den Warenhandel vorbereiten."
Im Laufe des nun abgelaufenen Jahres 2022 wurden in Gorlowka keinerlei Massenveranstaltungen abgehalten: So wollte man den ukrainischen Truppen die Möglichkeit nehmen, in die Menge zu schießen. Selbst auf dem zentralen Platz der Stadt wurde dieses Mal von der Stadtverwaltung keine große geschmückte Tanne mehr aufgestellt. Doch die Einwohner fanden einen Weg, die festliche Stimmung zum Jahreswechsel miteinander zu teilen. Olja erinnert sich mit einem Lächeln:
"In der Silvesternacht geschah ein kleines Wunder: Ein kleiner künstlicher Weihnachtsbaum 'wuchs' in der Nacht auf dem Platz, wo normalerweise ein großer Weihnachtsbaum steht. Offenbar wollte jemand den Leuten eine Freude machen und brachte seinen eigenen Baum von zu Hause mit. Niemand hat etwas gemacht damit, er stand einfach da – das war sehr schön."
Sie selbst wünscht sich mehr als alles andere, dass die Kämpfe in diesem Jahr endlich aufhören, damit ihr Vater, der an die Front mobilisiert wurde, nach Hause zurückkehren kann.
"Wir gehören weder unseren Familien noch uns selbst richtig"
Der ständige Beschuss von Gorlowka über so viele Jahre hinweg hat die Gesundheit aller Einwohner beeinträchtigt, stellt Nellja Jakunenko, die Chefärztin des städtischen Krankenhauses Nr. 2, fest:
"Wir leben seit achteinhalb Jahren in diesem Krieg: Die Menschen müssen unter Beschuss zur Arbeit, machen sich Sorgen um sich selbst und ihre Angehörigen, die in der Stadt und an der Front sind. Natürlich wirkt sich derartiger Stress auf das Immunsystem aus (unsere Leute sind sehr anfällig für Erkältungen). Auch verschlimmern sich chronische Erkrankungen und Geschwüre dadurch."
Seit dem Jahr 2014 erlernen die Ärzte des städtischen Krankenhauses kontinuierlich die Kriegschirurgie, da sie regelmäßig Soldaten und Zivilisten mit Explosionstraumata und Splitterwunden behandeln.
Laut Jakunenko hatte sich jenes medizinische Personal, das die Stadt verlassen wollte, schon zu Beginn der Kämpfe vor acht Jahren dazu entschieden:
"Sie haben das Krankenhaus bereits 2014 verlassen. Seit dem Beginn der Sonderoperation hat keiner unserer Ärzte mehr gekündigt oder ist in die Evakuierung gegangen. Von den Krankenschwestern sind nur ein paar Frauen mit ganz kleinen Kindern weggefahren."
Doch jetzt hat das Klinikum einen ernsten Fachkräftemangel: Es fehlen mittlerweile 40 Prozent der Ärzte. Das gesamte Personal arbeitet ohne Urlaub, und wenn schwere Fälle eingeliefert werden, werden Ärzte und Krankenschwestern aus ihrer Freizeit zur Verstärkung abgerufen. An ein solches Beispiel erinnert sich die Ärztin:
"In diesem Jahr wurde ein Wohngebiet bombardiert, und mehrere Kinder wurden in sehr ernstem Zustand von dort eingeliefert."
Eine der Patientinnen war die 12-jährige Sweta (Name geändert). Das Mädchen, das sehr aktiv Tanzen lernte, verlor durch einen Granatsplitter einen Arm und ein Bein. Den Ärzten gelang es, sie zu retten, und sie befindet sich jetzt in Moskau in der Rehabilitation.
"Der nächste Krankenwagen brachte am selben Abend ein siebenjähriges Mädchen. Sie hatte eine Splitterwunde am Herzen und verstarb noch im Krankenwagen. Es war sehr schwer, ihrer Mutter, die überlebt hatte, mitzuteilen, dass ihre Tochter tot ist."
Eine andere Familie kam zu Schaden, als sie versuchte, bis zu einer Deckung zu rennen: Eine Granate schlug in der Nähe ein, und die Mutter starb auf der Stelle – vor den Augen ihrer 16-jährigen Tochter und ihres 10-jährigen Sohnes.
Die Ärzte geben trotz aller Anstrengungen, Schrecken und Übermüdung nicht auf, versichert die Leiterin des Krankenhauses:
"Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Die Ärzte sind alle furchtbar müde. Wir gehören mittlerweile weder unseren Familien noch uns selbst. Wenn man es schafft, einen Menschen zu retten, ist man unglaublich stolz auf die eigene Arbeit, aber wenn der Patient dann trotzdem stirbt ...
Aber es ist jetzt unsere Pflicht, diesen Krieg zu beenden und bis zum Sieg durchzuhalten. Anders geht es nicht."
Übersetzt aus dem Russischen
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