Von Darja Wolkowa, Aljona Sadoroschnaja, Rafael Farchutdinow und Anastassija Kulikowa
Am 7. November ist die freiwillige Evakuierung der Zivilbevölkerung vom rechten Ufer des Dnjepr beendet worden. Nun können diejenigen, die es wünschen, die Stadt nur noch auf eigene Faust verlassen. Die Passagierschifffahrt auf dem Dnjepr wurde eingestellt. Auch die Ponton-Überfahrt beendete ihre Arbeit. Mit Privatfahrzeugen wegzufahren, wird mit einem Lastkahn vom Flusshafen aus möglich sein.
In knapp einem Monat wurden Zehntausende evakuiert. Das sind vor allem sozial ungeschützte Gruppen – Kinder, Senioren und Menschen mit Behinderungen. Ihre Leben wurden lange Zeit durch regelmäßigen Beschuss seitens der ukrainischen Armee bedroht. Alle Evakuierten werden auf der Krim, in Sewastopol, im Gebiet Krasnodar, im Gebiet Rostow und zahlreichen anderen Regionen Russlands gastfreundlich empfangen.
Gleichzeitig betonte die Chersoner Verwaltung regelmäßig den freiwilligen Charakter der Evakuierung. In einer Sendung des Fernsehkanals Krim-24 erklärte der amtierende Gouverneur Wladimir Saldo:
"Eine Zwangsevakuierung vom rechten Ufer des Dnjepr wird es für diejenigen, die das nicht wünschen, nicht geben."
Saldo wies darauf hin, das Hauptziel der ergriffenen Maßnahmen bestehe im Schutz des Lebens der Zivilisten.
Über die Wichtigkeit der Evakuierung der Zivilbevölkerung sprach auch Russlands Präsident Wladimir Putin. Er betonte:
"Jetzt müssen die Bewohner von Cherson aus der Gefahrenzone verlegt werden, denn die Zivilbevölkerung darf nicht unter Beschuss, irgendwelchen Offensiven, Gegenoffensiven oder sonstigen Kampfhandlungen leiden."
Allein am Sonntag hatte das ukrainische Militär das Gebiet über 180 Mal mit Raketenwerfern und Artillerie beschossen. Nach Angaben von Quellen der Nachrichtenagentur Kriminform wurde der Beschuss im Zusammengang mit der Vorbereitung der Offensive des ukrainischen Militärs gegen Cherson intensiviert. Ein weiterer Faktor sei die verminderte Effektivität der Tarnung von Militärtechnik, wegen des Jahreszeitenwechsels und Laubfalls.
Der Militäranalytiker Michail Onufrijenko erklärte gegenüber der Zeitung Wsgljad:
"Ich sage es ehrlich – die Lage in der Stadt ist unangenehm. Was die Stimmung der Einheimischen angeht, machen sie sich wirklich Sorgen um einen Rückzug der russischen Streitkräfte. Sie verstehen, wozu die Evakuierung nötig ist, doch viele Fragen bleiben dennoch offen."
Die Freiwillige Walerija Petrussewitsch erzählte:
"Offene Lebensmittelläden kann man noch finden, Apotheken gibt es ganz wenige. Darüber hinaus ist nur eine einzige Reifenmontage-Stelle und eine einzige Tankstelle offen."
Es gebe Probleme mit dem Rundfunk und der Elektrizität, fügte Petrussewitsch hinzu. Sie berichtete:
"Es ist schwer zu sagen, wie viele Leute in Cherson geblieben sind. In der Stadt befinden sich immer noch tausende Menschen, nach meinen Einschätzungen mindestens einige Zehntausend. Heute besuchte ich mit anderen Freiwilligen Dutzende von Wohnungen, um Menschen zur Abreise zu überreden."
Die Freiwillige merkte an, dass viele Einheimische unter den Einfluss der ukrainischen Propaganda und Fakes über den Evakuierungsprozess gerieten. "Deswegen machen wir Foto- und Videoaufnahmen von denjenigen, die in andere Regionen umgezogen sind. Wir müssen auch reale Aufnahmen davon zeigen, dass die Pontonbrücken nicht versinken und die Menschen ganz normal in Sicherheit gebracht werden", erklärte sie. Und fuhr fort: "Wenn die Menschen ans andere Ufer kommen, können viele die Freudentränen nicht zurückhalten. Am linken Ufer ist fast keine Artillerie zu hören. Andererseits versuchen die ukrainischen Militärs natürlich diejenigen Stellen zu beschießen, von denen aus die Evakuierung erfolgt."
"Leider kommt es auch zu Plünderungen. Die Menschen lernen, sich selbst zu schützen. Sobald es dunkel wird, werden alle Hauseingänge verschlossen, alle Nachbarn wissen gut, wer gegangen und wer geblieben ist. Unbekannte werden nicht durchgelassen. Das Gebäude der Gebietsverwaltung wurde von Drogensüchtigen und Obdachlosen geplündert. Es sieht schrecklich aus", fügte die Freiwillige hinzu.
Der Vertreter der Gebietsverwaltung von Cherson, Alexander Fomin, berichtete:
"Auch wenn es keine genauen Angaben gibt, wie viele Menschen vom rechten Ufer weggefahren sind, sind nach meinen subjektiven Schätzungen bis zu 100.000 Personen geblieben. Darunter diejenigen, die nicht glauben, dass das ukrainische Militär in die Stadt kommen kann."
Fomin fügte hinzu, dass einige Abteilungen der Verwaltung ebenfalls in der Stadt geblieben seien. Er erklärte:
"Man kann nicht sagen, dass die Stadt ein normales Leben führt, doch Massenpanik gibt es auch nicht. Niemand macht Panikkäufe von Lebensmitteln. Es gab Berichte über Plünderungen, doch das sind eher Einzelfälle, die keinen Massencharakter haben. Außerdem gibt es in Geschäften und Gebäuden der staatlichen Einrichtungen, selbst wenn sie evakuiert wurden, Wachen."
Die schwierige logistische Lage, in der sich Cherson wiederfand, führte auch zu Schwierigkeiten bei der Auszahlung von Renten. Fomin berichtete:
"Die Zahlungen erfolgten meist durch die Post. Jetzt ist es schwer, Geld nach Cherson zu bringen, und das Überweisungssystem für Karten hat gerade angefangen, zu arbeiten. Nur wenige Tausend Menschen erhielten Bankkarten – das ist sehr wenig, denn die bestätigte Gesamtzahl der Rentner im Gebiet Cherson liegt bei etwa 200.000 Personen."
Eine ernste Aufgabe, vor der Behörden und Freiwillige gegenwärtig stünden, sei die Hilfe für Senioren und Menschen mit Behinderungen. Der Duma-Abgeordnete und Leiter der humanitären Mission der Partei "Einiges Russland" im Gebiet Cherson, Igor Kastjukewitsch, berichtete der Zeitung Wsgljad:
"In den letzten Tagen waren wir mit der Evakuierung von mobilitätseingeschränkten Bewohnern der Stadt und des Gebietes Cherson beschäftigt. Leider warteten viele bis zum letzten Moment. Gerade gestern brachten wir die Familie eines Stadtbewohners weg, der aus Kamerun stammt. Er selbst ist bettlägerig, vor drei Jahren fiel er aus dem ersten Stockwerk und ist seitdem mobilitätseingeschränkt. Wir schalteten die Rettungswagen von Cherson ein, und später halfen uns Mediziner von der Krim."
Und Kastjukewitsch führte weiter aus:
"Die Lage in der Stadt ist nicht einfach. Ab und zu wird sie beschossen. Selbst während der Evakuierung hörten wir die Artillerie und die Luftabwehr schießen. Die Intensität nimmt zu. Gestern gab es einen Stromausfall. Fernsehkanäle arbeiten nicht, Internet und Mobilfunk schon."
"Obwohl die meisten Bewohner von Cherson entschieden haben, ihr Leben nicht in Gefahr zu bringen und weggegangen sind, sind viele geblieben. Das sehe ich am Chat meines Telegram-Kanals, wo Menschen humanitäre Hilfe anfragen. Die meisten Sorgen bereiten uns transportunfähige Rentner. Sie werden meistens von Nachbarn versorgt. Geblieben sind auch die Eltern transportunfähiger Kinder, die nur unter stationärer Behandlung leben können. Deswegen übergaben wir dem Kinderkrankenhaus von Cherson Windeln, Lebensmittel und Medikamente. Auch ein Teil der Mediziner weigerte sich, abzureisen. Sie konnten ihre bettlägerigen Patienten nicht im Stich lassen. Nun benötigen sie alle Schutz vonseiten der Militärangehörigen und der Kommandantur", erzählte der Abgeordnete. Und Kastjukewitsch merkte außerdem an:
"Die Stimmung bei den Einheimischen ist unterschiedlich. Einige sind bereit, sich und die Stadt zu verteidigen und sagen: 'Gebt mir eine Waffe, ich werde Seite an Seite mit den Soldaten kämpfen!' Es gibt solche, die ein wenig in Panik verfallen und sich aufrichtig wundern, warum eine Stadt im Kriegszustand nicht wie zu Friedenszeiten lebt."
Er bestätigte auch Fälle von Plünderungen in der Stadt und erklärte diesbezüglich:
"Die Kriegszeiten bringen besser als jedes Lackmuspapier die menschliche Natur zum Vorschein und zeigen, wer wer ist. Man sollte glauben, es sind alles Landsleute, eine Stadt, ein Volk. Doch einige plündern, während andere bleiben und jeden Tag unter Lebensgefahr wieder andere retten."
Der Abgeordnete berichtete darüber hinaus, dass in der Stadt die Notdienste, Krankenhäuser, einige Apotheken, Lebensmittelläden und Gastronomieeinrichtungen auch weiterhin arbeiteten. "Diejenigen, die weggefahren sind, rechnen mit einer baldigen Rückkehr. Nur Einzelne sagten uns, dass sie in einer anderen Region Russlands wohnen wollen. Wir warten gemeinsam mit ihnen, wann wir ihnen beim Umzug helfen können. Doch diesmal zurück, nach Hause", resümierte Kastjukewitsch.
Übersetzt aus dem Russischen.
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