Eine Analyse von Sergei Poletajew
Nachdem Russland und seine Verbündeten Anfang Juli Sewerodonezk und Lissitschansk befreit hatten, entspannten sich die Kampfhandlungen in der Ukraine ein wenig. Scheinbar ließ Moskau den Konflikt, der nur noch einen relativ geringen Aufwand erforderte, bewusst vor sich hin treiben. Zugleich arbeitete der russische Staatsapparat daran, die Folgen der Sanktionen zu überwinden und die Binnenwirtschaft anzupassen. Während dieser Zeit befand sich der Militäreinsatz, vor dem Hintergrund der Turbulenzen innerhalb der Weltwirtschaft und der sich verschärfenden Energiekrise in Europa, in einer Art "Warteschleife".
Im Spätsommer und beginnenden Herbst stellten die Ereignisse an der ukrainischen Front die Aussichten für das Weiterbestehen eines solchen eingefrorenen Zustands jedoch infrage. Wie erwartet, führte die operative Pause der russischen Armee dazu, dass die ukrainischen Streitkräfte die Initiative ergreifen konnten und schließlich zwei Gegenoffensiven starteten.
In der Region Cherson wird das von Russland kontrollierte Gebiet zwischen den beiden Flüssen Ingulez und Dnjepr über drei Übergänge versorgt: über die Eisenbahn- und Straßenbrücken in Cherson selbst sowie den Damm und die Brücken beim Wasserkraftwerk in Kachowka. Seit Mitte des Sommers beschießen ukrainische Streitkräfte diese Übergänge mit unterschiedlichem Erfolg. Trotz der relativen Wirksamkeit dieser Anstrengungen und des Zusammenbruchs einiger Abschnitte entlang der Front gelang es der ukrainischen Seite jedoch nicht, die Versorgung sowohl der russischen Heeresgruppe als auch der am rechten Ufer des Dnjepr gelegenen Stadt Cherson nachhaltig zu stören.
Seit dem 20. August sind die ukrainischen Streitkräfte in mehreren Teilen der Front an einer Großoffensive beteiligt. Vor allem eroberten sie einen Brückenkopf am südlichen Ufer des Flusses Ingulez in der Nähe von Andrejewka. Anscheinend war geplant, damit den Damm bei Kachowka und das Ufer bei Berislaw von Südsüdosten her zu erreichen, um damit die nordöstliche Gruppierung der russischen Streitkräfte von ihren Versorgungslinien abzuschneiden und sie zum Rückzug zu zwingen.
Der russischen Seite gelang es jedoch, den Angriff der ukrainischen Armee einzudämmen. Sie nutzte ihre Überlegenheit im Luftraum, um den vorrückenden Truppen große Verluste zuzufügen. Schätzungen zufolge beliefen sich diese innerhalb von zehn Tagen auf bis zu 4.000 Gefallene innerhalb einer vorrückenden Einheit von 15.000 Soldaten. Unzählige Videos in den sozialen Medien scheinen die Größenordnung dieser Zahl zu bestätigen, während auch in der westlichen Presse offen über schwere Verluste für die ukrainische Armee an der Front bei Cherson berichtet wurde.
Seit Mitte September gehören zu den Erfolgen der ukrainischen Armee die Besetzung des Dorfes Wyssokopillja im nordöstlichen Teil der Cherson-Front sowie mehrerer kleiner Dörfer in der Nähe von Andrejewka, wo die Tiefe des Durchbruchs von bis zu 20 Kilometern auf etwa 12 Kilometer begrenzt werden konnte. Am Abend des 14. September wurde berichtet, dass der Stausee bei Karatschun im Gebiet Kriwoi Rog zerstört wurde, was zu einem starken Anstieg des Flusspegels des Ingulez führte, was wiederum zu einer Bedrohung für die Übergänge an den ukrainischen Brückenköpfen führte. Dennoch dauern die Kämpfe in der Nähe von Cherson noch an und die Situation bleibt volatil.
Der Angriff auf Cherson wurde jedoch schnell von den Ereignissen im Norden überschattet. Am 6. September startete die ukrainische Armee in der Region Charkow einen Angriff auf die von russischen Truppen kontrollierten regionalen Städte Balakleya, Isium und Kupiansk. Einen Tag später wurde Balakleya vollständig blockiert, während sich die ukrainische Armee zwei weitere Tage später dem Ort Kupiansk am Fluss Oskol näherte und Isium im Süden einzukesseln drohte.
Die Angreifer operierten in leichten mobilen Angriffsgruppen, drangen in Siedlungen ein, blockierten Straßen und gingen gegen die in Unterzahl besetzten russischen Garnisonen vor. Die Überzahl der Angreifer – einigen Schätzungen zufolge im Verhältnis acht zu eins – ermöglichte es ihnen, innerhalb kurzer Zeit ein riesiges Gebiet zu überrennen und den Eindruck einer alles dominierenden Präsenz zu erwecken. Größere Kämpfe fanden nicht statt und für ein paar Tage war das dicht bewaldete Gebiet zwischen Balakleya und dem Fluss Oskol ein Flickenteppich, über den beide Seiten so gut wie keine Kontrolle hatten.
Bereits am 8. September begann Russland, Reserven an die Front zu verlegen, wofür Mi-26 Schwerlast-Hubschrauber eingesetzt wurden. Gleichzeitig begann ein Truppenabzug aus dem operativ eingekreisten Balakleya. Die in der Stadt abgeschnittenen Abteilungen der SBOR (Schnelle Eingreiftruppe) aus Ufa und Samara verließen spätestens am 10. September die Stadt als letzte Verteidiger, ohne dabei größere Verluste zu erleiden.
Am 10. September kündigte das russische Verteidigungsministerium einen vollständigen Rückzug der Streitkräfte an das östliche Ufer des Flusses Oskol an. Infolgedessen kamen Balakleya, Isium und der westliche Teil von Kupiansk, der vom Fluss Oskol geteilt wird, unter ukrainische Kontrolle.
Trotz offizieller Erklärungen des russischen Verteidigungsministeriums über den Abzug und die Verlegung des Truppenkontingents bei Isium und Balakleya auf das Territorium der Volksrepublik Donezk wurden die Ereignisse in Charkow von vielen in Russland als Katastrophe wahrgenommen. Plötzlich wurde klar, dass die Ukraine in der Lage ist, Offensivoperationen durchzuführen. Es machte sich allgemein das Gefühl breit, dass die russische Armee hier und jetzt keine Möglichkeit hat, darauf zu reagieren.
Infolge der Offensive durch die Ukraine mussten die Streitkräfte Russlands hastig Gebiete evakuieren, in denen die Präsenz der russischen Armee als dauerhaft wahrgenommen wurde: Es waren bereits Pässe und Kfz-Nummern an die Einheimischen verteilt worden, russische Unternehmen hatten in Isium, Kupiansk und Balakleya ihre Geschäftstätigkeiten aufgenommen, lokale Lehrkräfte waren umgeschult worden und bereiteten sich darauf vor, das neue Schuljahr mit dem russischen Schulstoff zu beginnen.
Die Wirkung dieser Ereignisse wurde durch ihre Rasanz noch zusätzlich verstärkt: Der ukrainischen Armee gelang es, die Front in drei Tagen um 60 bis 70 Kilometer nach Osten zu verschieben, während im Kampfgebiet Donbass eine Verschiebung von einem bis zwei Kilometern pro Woche bisher als Erfolg galt.
Was also kommt als Nächstes? Je nachdem, wie viel Offensivpotenzial die ukrainische Armee noch hat, könnte sie versuchen, auf verschiedene Weise weiter nach Osten vorzudringen.
Erstens könnte die ukrainische Armee östlich des Flusses Oskol oder von Süden heraus über einen Brückenkopf bei Krasny Limann angreifen, um den verbleibenden russisch kontrollierten Teil der Region Charkow zu besetzen und von Norden in das Gebiet der Volksrepublik Lugansk einzudringen.
Zweitens könnte die ukrainische Armee einen Versuch unternehmen, die Situation in der Nähe von Cherson zu kippen und dort trotz der kritischen Lage vor Ort, in die Offensive zu gehen.
Drittens könnte in anderen Abschnitten ein Vorstoß bevorstehen. So kursierten etwa Berichte über starke Ansammlungen ukrainischer Truppen in der Nähe von Ugledar, was auf Vorbereitungen für eine Offensive entlang der Linie Wolnowacha – Mariupol hindeuten könnte. Mariupol ist nur 70 Kilometer von Ugledar entfernt, was mit der bisher erreichten Tiefe der ukrainischen Armee in den Operationen bei Cherson und Charkow vergleichbar wäre.
Viertens können auch Versuche, die Kämpfe der Infanterie auf russisches Territorium in die Nähe von Belgorod zu verlegen, nicht ausgeschlossen werden. Provokationen in Form von Beschuss gibt es dort seit einiger Zeit und haben sich in den letzten Tagen intensiviert. Daher scheint es so, als wollten die ukrainischen Streitkräfte Moskaus Reaktion testen.
Was aber passiert auf russischer Seite? Am 7. Juli sagte Präsident Putin, Russland habe in der Ukraine noch nicht einmal etwas Ernsthaftes in die Wege geleitet. Es scheint unmöglich, die Ziele der Militäroperation zu erreichen, ohne die ukrainische Armee vollständig zu besiegen. Das bedeutet, dass Russland die Initiative ergreifen und die Herangehensweise an die Kampfhandlungen ändern muss.
In welcher Form dies geschehen wird, ob vermehrt Luftangriffe geflogen und geografisch ausgedehnt werden, ob die russischen Truppen personell aufgestockt werden und größere Offensivoperationen in Vorbereitung sind, oder ob es schließlich zu einer Form der Mobilmachung in Russland kommen wird – wir werden es früher oder später herausfinden.
Aus dem Englischen
Sergei Poletajew ist Mitbegründer und Herausgeber des Projekts Vatfor
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