Vier russische Oppositionsmedien – der Fernsehsender Doschd, das Nachrichtenportal Meduza und die Zeitungen Kommersant und Nowaja Gaseta – haben am Wochenende den ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij interviewt und stoßen damit auf Kritik in der russischen Medienlandschaft und Gesellschaft.
Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hat inzwischen vor der Veröffentlichung dieses Interviews gewarnt.
In dem Interview wiederholt Selenskij die Hauptthesen der ukrainischen Staatspropaganda. Kritische Nachfragen der Interviewpartner unterbleiben weitgehend. Der Chefredakteur der Nowaja Gaseta, Nobelpreisträger Dmitri Muratow, hat an dem Interview nicht selbst teilgenommen, jedoch über einen der Beteiligten eine Frage gestellt.
Unter anderem weist der ukrainische Präsident im Interview den Bedarf für die Entnazifizierung seines Landes zurück:
"Darüber diskutieren wir überhaupt nicht, das sind für mich absolut unverständliche Dinge."
Auch die Entmilitarisierung seines Landes lehnt Selenskij nach wie vor ab. Beides – Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine – hat Russland zu den Hauptzielen seiner militärischen Intervention erklärt.
Danach gefragt, worüber die Ukraine überhaupt bereit sei, mit Russland zu verhandeln, antwortete der ukrainische Staatschef:
"Über Garantien für Sicherheit und Neutralität und den atomfreien Status unseres Staates. Wir sind bereit, es zu versuchen. Dies ist der wichtigste Punkt."
Vor Beginn der russischen Militäroperation hatte Selenskij während seines Auftritts vor der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz damit gedroht, dass sein Land Atomwaffen beschaffen werde, wenn die Garantiestaaten des "Budapester Memorandums" nicht umgehend die Forderungen seines Landes erfüllen würden.
Angesprochen auf die Diskriminierung der russischen Sprache in der Ukraine beschuldigte Selenskij den russischen Präsidenten, dafür verantwortlich zu sein. Der Hass auf alles Russische werde noch weiter wachsen, prophezeite er.
Laut Selenskij würden ihm "einige russische Geschäftsleute signalisieren", dass sie bereit seien, in den Wiederaufbau der Ukraine zu investieren.
Informationen über den Betrieb von Biolaboren in der Ukraine belächelte der Staatschef:
"Ja, das ist eine Anekdote. Ich habe hier nichts zu erklären. Nun, das tun wir nicht."
Der im spanischen Exil lebende ukrainische Journalist und Medienexperte Anatoli Scharij kommentierte am Montag das Interview und kritisierte dabei seine russischen Kollegen scharf:
"Das Interview ist eine Schande, aber nicht Selenskijs Schande. Er (Selenskij) ist, wie er ist, und wird sich nicht mehr ändern. Es ist eine Schande für die, die sich Vertreter russischer Massenmedien nennen. Und während mich bei Doschd nichts wundert, habe ich bezüglich der Zeitung Kommersant durchaus Fragen. Anderthalb Stunden lang (Selenskij) sich ausquatschen lassen, zwei Mal dieselbe Frage stellen, es war reine Werbung für Selenskij. (...) Keine Nachfrage bezüglich der Behandlung von Kriegsgefangenen, keine Nachfrage bezüglich der Repressionen gegen die (ukrainische) Opposition und der Verhaftung oppositioneller Meinungsführer. Keine einzige Frage, die für Selenskij unangenehm werden könnte."
Der TV- und Radiojournalist und Talkshow-Moderator Wladimir Solowjow kommentierte das Interview in seinem Telegram-Account wie folgt:
"Erstens, sie interviewten eine NATO-Marionette, die die Rolle des Präsidenten spielt, die vergaß, was sie gestern sagte, und heute das Gegenteil verbreitete. Nehmen Sie zum Beispiel sein Versprechen vor der Wahl, den Krieg zu beenden. Am Vorabend der Operation weigerte er sich wie ein provokanter Ziegenbock, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen, und plapperte sogar von der Beschaffung der Atombombe.
Zweitens haben diese 'intelligenten' Journalisten die Themen Folter und Verhöhnung russischer Kriegsgefangener völlig ignoriert, die selbst die Russophoben von Bellingcat entsetzt haben.
Ich frage mich, was Stalin mit 'Journalisten' getan hätte, die Hitler interviewen würden. Schließlich ist Selenskij genauso ein Abgesandter und Futter für die Angelsachsen wie Adolf. Hätte Putin nicht zuerst losgeschlagen, wäre Selenskijs 200.000 Mann starke Armee durch den Donbass gezogen wie ein Messer durch weiche Butter und wäre jetzt in Wolgograd."
Der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, erklärte, der Kreml habe keine Angst vor der Veröffentlichung des Interviews mit dem ukrainischen Präsidenten, wobei Roskomnadsor das Material "auf die Einhaltung unserer Rechtsvorschriften" prüfen müsse. Laut einer Meldung der Nachrichtenagentur TASS sagte Peskow:
"Roskomnadsor wird den Inhalt dieses Interviews auf seine Vereinbarkeit mit unserer Gesetzgebung prüfen. Die Warnung der Regulierungsbehörde, die Veröffentlichung zu verweigern, hängt wahrscheinlich einfach mit der Notwendigkeit dieser Prüfung zusammen."
Roskomnadsor hat am Montagmorgen die beteiligten Medien vor der Veröffentlichung des Interviews gewarnt und Sanktionen für den Fall der Veröffentlichung angekündigt. Die einseitige Verbreitung ukrainischer Darstellungen zum Kriegsverlauf verstößt gegen das vor Kurzem erlassene russische Gesetz, das Falschdarstellungen über den Hergang der russischen militärischen Operation unter Strafe stellt.
Mit Stand Montagmittag haben die Zeitungen Kommersant und Nowaja Gaseta von einer Veröffentlichung des Interviews abgesehen. Der Fernsehsender Doschd hatte seine Arbeit Anfang März vorübergehend eingestellt, auch auf dessen Homepage war das Selenskij-Interview am Montagmittag nicht einsehbar. Bislang hat lediglich die in Russland als ausländischer Agent eingestufte Nachrichtenplattform Meduza das Interview in Text- und Videoform veröffentlicht.
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