Zu den noch nicht endgültig gelösten Rätseln der jüngeren Geschichte zählt die Frage, warum im Winter 1991 sich so gut wie niemand gegen die Auflösung der Sowjetunion wehrte, obwohl doch erst im März zuvor eine überwältigende Mehrheit der Sowjetbürger für den Erhalt und die Erneuerung der Union votiert hatte. Teil der Antwort ist – neben der Demoralisierung loyaler Kräfte nach dem Scheitern des August-Putsches – die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die sich am 21. Dezember 2021 zum 30. Mal jährt.
Tödliches Gift im süßen Wein – wie die Sowjetunion ermordet wurde
Als Datum des Endes der Sowjetunion gilt allgemein der 8. Dezember 1991. An jenem Tag trafen sich drei Männer in einem der Regierung gehörenden Jagdrevier inmitten des malerischen Belowescher Urwalds. Einer der drei ist auch in Deutschland allgemein bekannt: Boris Jelzin, der einige Monate zuvor gewählte Präsident der Russischen Föderativen Sozialistischen Sowjetrepublik, wie sie immer noch offiziell hieß – des heutigen Russlands. Die anderen waren der Vorsitzende des Obersten Sowjets der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, Leonid Krawtschuk, und sein weißrussischer Gegenpart, der Gastgeber dieses Treffens, Stanislaw Schuschkewitsch.
Jelzin starb 2007, Krawtschuk und Schuschkewitsch leben noch: Krawtschuk tritt häufig in Fernsehshows auf und übernahm zuletzt die Verhandlungsleitung in der Minsker Kontaktgruppe – mit mäßigem Erfolg. Schuschkewitsch führt ein Rentnerdasein und meldete sich während der Proteste gegen die Wiederwahl Lukaschenkos zu Wort.
Das Treffen hatte halbkonspirativen Charakter: Das, was die Männer vorhatten, war nach den immer noch geltenden sowjetischen Gesetzen nichts anderes als Landesverrat. Krawtschuk berichtete später, dass er noch während der Landung in Kiew am nächsten Tag befürchtete, durch den einst mächtigen KGB verhaftet zu werden. Doch es geschah nichts: Die auf dem Rollfeld versammelten Offiziere waren als Personenschutz da, nicht um ihn zu verhaften.
Das Schicksalsjahr zwischen Hoffnung und Tragödie
Rückblende: Als das Jahr 1991 begann, konnte sich niemand vorstellen, dass es das letzte des roten Riesenreiches werden würde. Es kriselte, die drei baltischen Republiken waren seit einigen Jahren auf offen separatistischem Kurs und in Georgien verkündete der Nationalist Gamsachurdia "Georgien den Georgiern". Die Loslösung dieser vier Republiken vom sowjetischen Staatenverbund rückte in den Bereich des Vorstellbaren. Doch dass die Risse noch weiter gehen würden, war für die Mehrheit unvorstellbar. Die Union würde sich reformieren, die Republiken würden mehr Vollmachten erhalten, doch sonst bliebe alles – zumindest für 11 der 15 Republiken – unverändert. Das Baltikum war ein Sonderfall, und Georgien würde irgendwann wieder zu Sinnen kommen. Dachte man.
Das war die allgemein verbreitete Vorstellung, und sie mündete in das Referendum vom 17. März 1991.
"Halten Sie den Erhalt der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als einer erneuerten Föderation gleichberechtigter und souveräner Republiken, in der die Rechte und Freiheiten jedes Menschen, unabhängig von seiner ethnischen Zugehörigkeit, gewährleistet sind, für erforderlich?",
lautete die Frage – und 77,85 % der Teilnehmenden haben sie mit "Ja" beantwortet. 148 Millionen von den insgesamt 185 Millionen Wahlberechtigten nahmen an dem Referendum teil, 113 Millionen stimmten mit "Ja", 32 Millionen mit "Nein", der Rest stimmte ungültig. Erstaunlicherweise war die Zustimmung in Russland nach der Ukraine – wo 70,2 Prozent für den Fortbestand der Union stimmten – am Geringsten: 71,3 % stimmten dafür, 26,4 % dagegen. In den anderen teilnehmenden Republiken lag die Zustimmung bei über 80, teilweise sogar bei über 90 Prozent. Die separatistisch gesinnten Landesteile haben ihren Bürgern die Teilnahme verweigert.
In keiner der teilnehmenden Republiken fand sich eine Mehrheit für die Auflösung der Union, und in den abtrünnigen begann eine mächtige Gegenbewegung in Opposition zu den Separatisten zu wachsen.
Mit diesem Ergebnis im Rücken machte sich Gorbatschow daran, einen neuen Unionsvertrag auszuhandeln: Es sollte ja eine "erneuerte Föderation" entstehen und nicht alles beim alten bleiben. Wie so viele Male zuvor erwies er sich jedoch als ein schlechter Verhandler: Das Ergebnis, das am 17. Juni vorlag, schockierte die konservativen und loyalistischen Kräfte im Land. Von der Sowjetunion wäre im Prinzip nur die gemeinsame Armee verblieben, und ein dekoratives Amt des Präsidenten für Gorbatschow. Alle anderen wesentlichen Machtbefugnisse hatten sich die Republikchefs gesichert.
Die Reaktion war erbittert, am Weitesten gingen die in der Akademie organisierten Wissenschaftler, die den Vertragsentwurf prophetisch als die Legalisierung des Zerfalls der Sowjetunion bezeichneten und zerrissen. Die Reaktion der Öffentlichkeit war so scharf, dass selbst der soeben zum Präsidenten Russlands gewählte Triumphator Jelzin in Nachverhandlungen und die Einschränkung seiner künftigen Vollmachten zugunsten der Zentralorgane einwilligen musste. Der so nachgebesserte Vertragsentwurf wurde am 23. Juli von den Vertretern von 11 Republiken paraphiert. Der feierliche Akt der Unterzeichnung war für den 20. August angesetzt.
Mit diesem Ergebnis flog Gorbatschow dann also in den traditionellen Sommerurlaub auf die Krim.
Putschisten mit zittrigen Händen, oder: Der Kennedy-Mord à la russe
Was dann geschah, ist in dem innerrussischen Diskurs in etwa so umstritten und geheimnisumwoben, wie der Kennedy-Mord in den USA. Was wusste Gorbatschow vorab? War er in die Pläne involviert, oder ist er ein mit viel Glück überlebendes Opfer eines echten Umsturzes? War es ein doppeltes Spiel, oder eine ausgeklügelte Taktik? Inszenierung oder Putsch?
Was auch immer hinter den Kulissen abgelaufen ist, die Sowjetbürger wachten am 19. August auf und erfuhren, dass Gorbatschow nicht in der Lage sei, die Amtsgeschäfte fortzuführen, und ein Staatskomitee für den Ausnahmezustand die Macht im Staat übernehmen wolle. Die Mitglieder des Komitees waren allesamt bereits hohe Amtsträger: Vizepräsident, Verteidigungsminister, Innenminister, KGB-Chef, Parlamentspräsident... Die wacheren Mitmenschen hinterfragten die hysterische Reaktion des "demokratischen" Spektrums der Medien: Was soll das denn für ein Putsch sein?
Doch was folgte, war die schlechteste PR-Vorstellung in der Geschichte der Menschheit. Statt klar und deutlich auszusprechen, dass der Fortbestand des Landes auf dem Spiel steht, und dass es nur auf dem Wege harter Machtausübung noch zu retten ist, stotterten die sichtlich selbst verängstigten "Putschisten" mit zitternden Händen in der Pressekonferenz etwas über die Beschaffung von Lebensmitteln, die Stabilisierung der Energieversorgung, Kriminalitätsbekämpfung... Ein Lehrbeispiel, wie man mit dem Volk in einer ernsten Situation nicht spricht.
Auch die, die dem Anliegen des Erhalts der Union enthusiastisch begegnet wären, wandten sich verunsichert und angewidert ab. Die erste "Junta" in der Geschichte Russlands war sofort eine Farce – ohne vorausgegangene Tragödie.
Der Ausgang ist bekannt: Der Spuk war am dritten Tag verflogen, Gorbatschow kehrte nicht als Triumphator, sondern als Kaiser ohne Reich nach Moskau zurück und ließ sich in aller Öffentlichkeit, live in alle Ecken der Welt übertragen, von Boris Jelzin demütigen: Der unterbrach Gorbatschows Rede vor dem Russischen Parlament brüsk und unterzeichnete trotz des kleinlauten Widerspruchs des vor kurzem noch allmächtigen Generalsekretärs die Auflösung und das Verbot der von diesem geleiteten KPdSU.
Das kriminelle Kapital und die sowjetische Cassandra
Verzweifelt versuchten Analytiker des KGB noch vor der Kriminalisierung der Wirtschaft zu warnen: Wer, außer des organisierten Verbrechens, sollte denn in dem soeben noch sozialistischen Land über das Erstkapital verfügen, um sich Betriebe und Fabriken, Ölfelder und Aluminiumminen unter die Nägel zu reißen? Cassandras Rufe blieben ungehört, das betrunkene Volk glaubte an die Verheißungen des Kapitalismus, an die Manna vom Himmel und auch daran, dass Jelzin wie versprochen sich unter einen Zug werfen werde, sollten die Preise jemals steigen. Die blutigen Neunziger gaben den Warnern uneingeschränkt recht.
Der im August eingeleitete rasante Zerfallsprozess gipfelte in dem Treffen der drei Republikchefs im weißrussischen Wald. Noch existierte das Land, noch lag der erneut – diesmal zugunsten der Republiken – nachverhandelte Unionsvertrag auf dem Tisch, Gerüchte waren im Umlauf, dass das loyale Politikgenie Nasarbaew die Regierungsgeschäfte in der Union übernehmen werde, und das machte Hoffnung. Über dem Kreml wehte noch immer die Rote Fahne. Auch jetzt wollten und konnten nur wenige an das Ende glauben.
Wie kann man ein Land auflösen, dessen Bürger dies gar nicht so recht wollen?
So:
"Wir, Weißrussland, Russland und die Ukraine, stellen fest, dass die UdSSR aufgehört hat zu existieren.
Da unsere Völker aber historisch untrennbar verbündet sind, (...) und davon ausgehend, dass der weitere Ausbau ihrer Einheit und die Festigung ihrer Freundschaft, der nachbarschaftlichen Beziehungen und der Zusammenarbeit das ureigenste Interesse unserer Völker sind und der Festigung des Friedens und der Sicherheit in der Welt dienen, (...)
gründen wir die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten."
In Orwellscher Sprache wurde der Todesstoß für die Union getarnt als ein Vertrag zur Gründung einer Gemeinschaft. Das tödliche Gift gereicht im süßen Wein. Welcher juristische Laie, dem man ein Jahr lang die Erforderlichkeit der Reform des Bündnisstaates gepredigt hatte, merkt den Unterschied? So war die häufigste Reaktion in jenen Tagen diese:
"Welches Ende, welcher Zerfall? Wir haben jetzt statt der Union die GUS, und soviel wird sich auch nicht ändern. Hauptsache, wir sind Mischka (Gorbatschow) und die Kommunisten los."
Das Ende (?)
Das Kalkül der Optimisten schien aufzugehen. Schnell war der neue Vertrag aufgesetzt und alle, außer der abtrünnigen Vier, saßen mit am Tisch. Wer beschäftigte sich da mit den juristischen Details? Einigen stieß bitter auf, dass Krawtschuk in einer Pressekonferenz Jelzin widersprach: "Nein, es wird keine Staatsangehörigkeit der Gemeinschaft geben, wir gründen schließlich keinen Bündnisstaat." Doch auch da die Reaktion auf den Straßen und in den Küchen des Riesenreiches: "Na und, dann sind wir halt wie Europäer, jeder mit eigenem Pass, zusammen bleiben wir trotzdem."
Am 21. Dezember 1991 trafen sich die obersten Vertreter der 11 Republiken in Alma-Ata. Gastgeber war der Hoffnungsträger aller Loyalisten, Nasarbaew. Als Gründungsurkunde der GUS unterschrieben alle 11 feierlich die Deklaration von Alma-Ata.
Ihre Verheißungen hat das damals gegründete Gebilde niemals erfüllt: Es wurde weder Bündnisstaat, noch Staatenbund. Heute wissen nicht einmal alle, dass es die GUS überhaupt noch gibt. Jährlich treffen sich die Staats- und Regierungschefs der jetzt noch 10 Mitgliedsstaaten (die Ukraine ist 2018 ausgetreten) in einer der Hauptstädte und reden. Diese Treffen vorzubereiten ist die wichtigste Funktion der gutdotierten Organe, daneben verwalten sie noch ein paar Fonds und wohltätige Programme.
Das, was an Integrationstendenzen der ehemaligen Sowjetrepubliken stattfindet, findet hauptsächlich außerhalb der GUS-Strukturen statt: Das Verteidigungsbündnis, der Unionsstaat Russlands und Weißrusslands, die Zollunion mit 5 Beteiligten, das über die Grenzen der ehemaligen Sowjetunion noch hinausgehende Projekt der Eurasischen Wirtschaftsunion. Was von der Einheit der sowjetischen Völker noch geblieben ist, ist die Visafreiheit, die Freiheit wirtschaftlicher Migration und die nach wie vor guten Russischkenntnisse in fast allen ehemaligen Republiken.
Ob daraus jemals mehr wächst, wird die Zukunft zeigen.
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