"Natürlich nicht! Das kommt nicht in Frage" – sagte der Kremlsprecher Dmitri Peskow am Freitag einem russischen Radiosender. So reagierte der Berufsdiplomat auf die Erklärung des Regisseurs Alexander Sokurow, dass er seine Verhaftung befürchte. Peskow fügte hinzu: "Der Präsident hat ein sehr gutes Verhältnis zu ihm. Aber ein Streit ist ein Streit."
Sokurow sagte vorher in einem Interview, dass er nach einem online übertragenen kontroversen Gespräch mit dem Präsidenten seinen Arrest nicht ausschließe.
"Wenn die Entscheidung getroffen wird, mich zu verhaften oder etwas zu tun, kann ich mich dem nicht entziehen. Ich weiß nicht, was das für Folgen haben würde", sagte er.
Sokurow, der in diesem Jahr 70 wurde, gilt seit Jahrzehnten als der renommierteste russische Film-Regisseur. Im Jahre 2011 gewann er den "Goldenen Löwen" des Filmfestivals in Venedig für seinen Film "Faust". Bekannt ist Sokurow auch für sein gesellschaftliches Engagement und für öffentliche Kritik der Regierung.
Mit dem russischen Präsidenten verbindet ihn dennoch ein besonderes Verhältnis. "Faust" konnte Sokurow nur dank staatlicher Förderung aus dem Präsidentenfonds beenden. Gesichert wurde die Finanzierung nach seinem Treffen mit dem damaligen Ministerpräsidenten Putin, den der Regisseur für das Vorhaben begeistern konnte. Putin lobte er als "absolut" kompetent in Fragen zu dem Projekt: "Putin ist Deutschland-affin und liebt Goethe."
Seit dem Jahr 2018 ist Sokurow Mitglied des Rates für Menschenrechte und Entwicklung der Zivilgesellschaft beim russischen Präsidenten, dessen ausgewählte Vertreter mit Putin einmal im Jahr eine gemeinsame öffentliche Sitzung abhalten. Aber was ist bei der diesjährigen Sitzung des Rates (zum vollständigen Protokoll und Video der fünfstündigen Sitzung siehe Webseite des Kreml) geschehen, dass der Regisseur nun auf einmal von seiner Verhaftung spricht?
Wladimir Putin lud Sokurow zu sich ein, um mit ihm über die staatliche Struktur der Russischen Föderation zu diskutieren. Das machte er, nachdem der Filmemacher sich zum Abschuss seines knapp viertelstündigen Auftritts vor dem Präsidenten und den Mitgliedern des Menschenrechtsrats für eine Loslösung der Republiken im Nordkaukasus plädierte:
"Lassen wir all jene los, die nicht mehr in demselben Staat wie wir leben wollen, wünschen wir ihnen viel Glück, wünschen wir all den Padisсhahs, all jenen, die ihr Leben beginnen möchten, viel Glück".
In seinem Plädoyer sagte der Regisseur, dass die Kaukasus-Republiken sich nicht mehr entwickelten und es dort keine Perspektive für junge Menschen gebe. Außerdem seien sie mit dem Rückgang der russischen Anteile in der Bevölkerung "mononational" geworden. "Viele möchten sich von uns trennen. (…) Ich habe den Eindruck, dass die Föderation der Russen immer unbeliebter wird." Wir seien zu unterschiedlich, wir hätten eine andere Religion und besseres Klima, zitierte Sokurow seine Gesprächspartner in der Region.
Der russische Präsident warnte den Regisseur vor "unüberlegten" Schlussfolgerungen, die nur "Ängste eines Teils unserer Bürger" zum Ausdruck bringen. "Woher sollen Sie wissen, dass sich die Leute von uns trennen möchten", fragte er und wies auf die Abstimmung beim Referendum zur Verfassungsänderung hin, die auch die territoriale Unteilbarkeit des Landes festschrieb. Er erinnerte auch an den blutigen separatistischen Tschetschenien-Krieg Mitte der 1990er/Anfang der 2000er Jahre: "Wollen Sie das? Wir nicht!"
Putin sagte, dass aufgrund der vielen nationalen Regionen und autonomen Gebiete bis zu 2.000 territorialen Ansprüche im ganzen Land gebe. "Gut, dass sie die Republik Dagestan als Beispiel erwähnen. Dagestan ist eine multiethnische Republik (Anm.: in Dagestan gibt es 30 Völkerstämme). Was wird vorgeschlagen – die Aufteilung von ganz Dagestan? Oder der Republik Karatschai-Tscherkessien? Karatschaier und Tscherkessen trennen?" Außerdem sei der Zerfall und die Aufteilung der russischen Föderation nicht im Interesse des russischen Volkes. Putin fragte zurück:
"Wäre dies dann Russland, das als multiethnisches und multikonfessionelles Land gegründet wurde? Wollen Sie uns in Moskowien verwandeln? Nun, die NATO will das tun."
Die Nationalitätenfrage war nicht der einzige Streitpunkt in dem Disput. Der Regisseur kritisierte Putin auch für seine "aktive" und "kostspielige" Außen- und Innenpolitik, die aus seiner Sicht zu hohe Subventionierung des Auslands und von ihm als "Stagnation" beschriebene Situation von Regionen im Inland mit sich bringe. "Alle bekommen Unterstützung aus unserem Regiment – Weißrussland, Südossetien, Abchasien und wie ich verstehe – Syrien. Man muss auch unseren großen subventionierten südlichen Regionen helfen." Wladimir Putin kritisierte diese Position als respektlos.
"Alexander Nikolajewitsch, es ist unzulässig, dies in der Öffentlichkeit zu tun. Das ist respektlos gegenüber einer ganzen Nation und einem ganzen Land (Weißrussland), das wir als Teil des Unionsstaates betrachten. Dies ist ein heikler, langwieriger Prozess, der außergewöhnliche Kompetenz und Geduld sowie Respekt vor dem Partner erfordert."
Alexander Sokurow unterbrach die Kommentare des Präsidenten mehrmals, um seine eigene Position zu verdeutlichen: "Ich möchte vorschlagen, darüber nachzudenken, was in diesem Land geschieht und wie es aufgebaut ist. Ich schlage vor, darüber nachzudenken, Wladimir Wladimirowitsch."
Das nahm Putin zum Anlass, den Künstler zu sich ins Büro für ein weiterführendes Gespräch einzuladen. Es sei niemand gegen das Nachdenken. "Aber Sie hätten genauer überlegen sollen, bevor Sie das gesagt haben. Kommen Sie zu mir, wir haben uns lange nicht gesehen, Sie wissen, was ich von unseren Treffen und Diskussionen halte. Ich würde gerne mit Ihnen diskutieren", sagte Putin.
Der öffentliche Streit des Regisseurs mit dem Präsidenten löste ein großes mediales Echo aus. Viele Medienschaffende haben Sokurow für den faktischen Aufruf zur Aufteilung des Landes kritisiert und an seine ähnlichen Äußerungen in der Vergangenheit erinnert. Damals hatten sie allerdings noch keine solche Reaktion des Präsidenten zur Folge. Kremlsprecher Peskow machte noch einmal deutlich: "Der Präsident hat ziemlich harsch darauf reagiert, weil der Regisseur leider sehr unprofessionell und ohne Kenntnisse der Angelegenheit sehr sensible Themen anrührte."
Das Oberhaupt der Tschetschenischen Republik Ramsan Kadyrow fühlte sich durch den Auftritt des Regisseurs direkt herausgefordert und nahm in einem polemisch verfassten Telegram-Beitrag dazu Stellung. Er wies auf das Referendum in der Republik zum Verbleib in der Russischen Föderation vom 23. März 2003 hin und forderte eine juristische Bewertung der umstrittenen Äußerungen. Das tschetschenische Parlament sah darin eine Anstachelung zum Separatismus und kündigte an, ein entsprechendes Verfahren beim russischen Ermittlungskomitee einzuleiten.
"Ich befürchte das [ein Verfahren], aber ich hoffe, dass der Präsident das nicht zulässt", sagte Sokurow der russischen Nachrichtenagentur Interfax. Er kritisierte die aufgeheizte Stimmung nach seiner Diskussion mit Wladimir Putin und äußerte seine Bereitschaft, der Einladung zu einem Gespräch mit Putin zu folgen. Er würde gerne die Meinung des Präsidenten bei einer Tasse Tee und nicht in der "angespannten Atmosphäre" des Menschenrates hören.
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