Frage: Sie haben das erste Mal in Ihrem Leben Russland besucht. Warum sind Sie gerade jetzt gefahren?
Manfred Marunge: Mein uralter Traum war immer, mal nach Russland zu fahren. Anlass war, dass ich mir gesagt habe, ich bin jetzt im fortgeschrittenen Alter, man weiß nicht, wie lange man noch reisen kann. Es reicht ja schon, dass man nicht mehr richtig laufen kann. Und dann habe ich gesagt, jetzt oder nie. Und als dann die Flüge nach Russland wieder möglich waren, habe ich gesagt, jetzt zieh ich das einfach mal durch.
Meine Versuche, irgendwie nach Russland zu kommen, sind immer wieder gescheitert und erst als Rentner habe ich dann durch einen Zufall einen Brieffreund in Russland gefunden.
Wer war der Brieffreund?
Das war Lew, ein Ingenieur wie ich. Der hatte mit seiner Frau ein Buch über die Literaten-Siedlung Peredelkino geschrieben. Über dieses Buch haben wir uns kennengelernt. Wir haben viele E-Mails geschrieben und ich habe festgestellt, dass die Russen eigentlich ziemlich genauso ticken wie wir. Sie sind ganz normale Menschen.
Sie sprechen kein Russisch. Wie haben Sie mit den Leuten gesprochen?
Mein Russisch ist nur sehr rudimentär. Aber man findet immer Menschen in Russland, die entweder ein bisschen Deutsch oder Englisch sprechen.
In Moskau hat mich eine Bekannte von der Familie meines Freundes unter die Fittiche genommen und mit mir eine ganz tolle individuelle Führung gemacht, durch die Innenstadt von Moskau, hat mir Sachen gezeigt, die hätte ich sonst nie gesehen. Und schon das war beeindruckend, dass sich wildfremde Leute unglaublich gefreut haben, mir ihr Moskau zu zeigen.
Gab es irgendetwas, was überhaupt nicht Ihren Erwartungen entsprach?
Ich war unglaublich positiv überrascht von der Freundlichkeit der Menschen. Meine Eltern gehörten ja der Generation der Nazi-Wehrmacht an und haben das alles verteidigt.
Den Angriff auf die Sowjetunion?
Ja, den Angriff auf die Sowjetunion. Und da erwartet man von den Russen gegenüber einem Deutschen doch eine gewisse Zurückhaltung. Aber ich habe in Russland unglaublich viel Unterstützung von wildfremden Menschen erfahren, die sich ganz viel Zeit genommen haben, mir zu helfen, denn man kommt schon, wenn man keine geplante oder festorganisierte Reise macht, in viele Situationen, die etwas schwierig sind.
Können Sie ein Bespiel für diese Unterstützung erzählen?
Ich musste zum Kiewer Bahnhof, weil ich mit der Vorortbahn zum Grab meines verstorbenen Freundes in Peredelkino fahren wollte. Ich konnte aber in der Bahnhofshalle keinen Fahrkartenschalter finden. Die Leute, die ich mit meinem rudimentären Russisch fragte, zuckten mit den Schultern. Schließlich verstand dann einer von den Security-Leuten, wo das Problem war. Er hat sich bei seinem Chef abgemeldet, hat mich unter den Arm genommen und ist mit mir zum Fahrkartenschalter auf einer anderen Seite des Gebäudes gegangen.
In Peredelkino gibt es auch ein Museum für den Schriftsteller Pasternak. Eine Freundin von Bekannten von mir hatte dort eine deutschsprachige Führung für mich organisiert und hinterher auch jemanden, der mich zum Grab meines Freundes bringt, denn in Russland sind die Friedhöfe nicht nach deutscher Norm nummeriert.
Als ich in Peredelkino ankam, war die Zeit schon knapp. An einer Bushaltestelle traf ich einen jungen Mann, der ein bisschen Englisch sprach. Er sagte, den Weg zum Museum der Schriftstellersiedlung kann ich Ihnen nicht erklären, ich bring Sie da eben hin. Wir sind eine halbe Stunde im strömenden Regen bis zu diesem Museum gelaufen. Ich hatte die Entfernung ein bisschen unterschätzt.
Kaum war die Führung im Museum zu Ende, kam eine Bekannte von einer Bekannten und begleitete mich im strömenden Regen auf den Friedhof zum Grab meines Freundes. Da gibt es keine gepflasterten Wege. Das ist also schon ganz schön mühsam. Als ich mich hinterher bedanken und ihr eine Kleinigkeit geben wollte, hat sie das strikt abgelehnt.
Ist Ihnen aufgefallen, dass es in Moskau eine sehr starke Präsenz von westlicher Kultur gibt? Man geht irgendwo in einem Restaurant auf die Toilette und da spielt westliche Pop-Musik. Es gibt westliche Schriftzüge an den Geschäften und es gibt viele Boutiquen mit westlichen Marken.
Ich bin in ein unglaublich modernes Russland gekommen. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen Stadt und Land. Das merkt man schon, wenn man mit der Bahn durchs Land fährt. Dass Russland ein unglaublich modernes Land ist, merkt man schon, wenn man so wie ich in Deutschland mit der Bahn fährt und in der Tasche ein Handy hat, wo jeden Tag drei Meldungen auflaufen von Weichenstörungen, Signalstörungen oder Zugverspätungen. Bei meinen Bahnreisen in Russland sind die Züge immer auf die Minute pünktlich abgefahren und angekommen.
Russland hat unglaublich viel Geld in sein Bahnsystem investiert und investiert es immer noch. Die ganzen Beschriftungen und auch die Ansagen in der Bahn sind mehrsprachig, also Russisch und Englisch. Man kann sie sogar verstehen. In Deutschland habe ich immer den Eindruck, die schicken die Ansager erstmal zum Nuschelkurs, damit man auf keinen Fall versteht, was die da sagen.
Wie groß ist der Unterschied zwischen Arm und Reich?
Ja, es gibt Unterschiede. Das fängt bei den Wohnhäusern an. Es gibt Wohntempel modernster Machart. Aber ein paar Kilometer weiter stehen unglaublich kaputte Plattenbauten. In Moskau und Sankt Petersburg sind die Löhne hoch. In anderen Städten ist das bei Weitem nicht so. Das habe ich von vielen meiner Gesprächspartner erfahren. Aber die Kosten für Wohnung, Strom und Gas sind überall die gleichen. Das heißt, die Leute, die nicht in den Großstädten wohnen, haben wirtschaftlich ganz große Probleme.
Die Betriebskosten für eine Wohnung liegen bei 55 Euro im Monat. Bei Renten von durchschnittlich 160 Euro und Löhnen von durchschnittlich 450 Euro ist das schon eine ganze Ecke.
In Sankt Petersburg hat mich eine Freundin meiner Russischlehrerin durch die Stadt geführt. Sie sprach gut Deutsch und erzählte, dass seit einem Jahr keine Touristen mehr kommen. Meine Stadtführerin hat mir gezeigt, was sie für eine Rente bekommt. Davon kann sie nicht mal die Miete bezahlen. Also die Rentner sind ganz, ganz schlecht dran. Und man sieht das auch überall. Die Babuschkas stehen und verkaufen Blümchen und Obst, das sie im Garten gezüchtet haben.
Also diese Schere zwischen Arm und Reich ist noch viel größer als in Deutschland. Und mein Eindruck ist, dass aus der Jelzin-Zeit der Einfluss der Neokonservativen in Russland doch ganz mächtig zugeschlagen hat. Für viele Menschen in Russland ist das Leben sehr schwierig. Einige leben in Saus und Braus. Die Unterschiede liegen teilweise sehr dicht beieinander. Die einen haben also kaum das Geld zum Leben und im Nachbarhaus gibt es ein großes Tor und einen Wächter davor. Das Tor geht auf und es kommt ein SUV erster Güte raus. Da sitzt eine Frau am Steuer, mit Klunkern an den Händen. Die wissen gar nicht, wohin mit ihrem Geld.
Die alten Plattenbauten verkommen oft. Da wird nicht viel gemacht. Und viele alte Fabriken fallen langsam zusammen. Der Eindruck, den ich hatte, war wie in der DDR. Von den blühenden Landschaften sieht man ja auch nur begrenzt was, da drüben. Also so weit sind wir gar nicht auseinander.
Wie kann sich das ändern?
Das sind Probleme, die die Russen lösen müssen. Die Devise ist, man mischt sich nicht ein in die inneren Angelegenheiten anderer Länder. Es ist ganz viel in Russland passiert. Ganz viele Dinge haben sich zum Positiven gewendet. Das haben mir die Gesprächspartner auch immer wieder bestätigt. Aber an Vielen ist das Positive ganz weit vorbeigegangen.
Es gibt natürlich auch Menschen, die fragen, was kommt nach Putin. Diese Menschen sehen die Defizite in der Entwicklung demokratischer Strukturen. Aber Russland ist ein Land mit 60 Jahren Kommunismus. Ich habe jahrelang in den USA gelebt. Da herrscht ja auch das Chaos und die Probleme sind gewaltig.
Wie ist es als Tourist in den russischen Hotels. Ist es angenehm oder muss man sich ständig ärgern?
Man muss sich gar nicht ärgern und ich bin erstaunt, wie gut das alles funktioniert. Hotels habe ich natürlich vorher alle per Internet gebucht. IT-mäßig sind die hier unglaublich gut drauf. Ich musste mit kleinem Budget reisen und habe mit sehr einfachen Hotels vorliebnehmen müssen. Die Teuersten war die schlechtesten und die Billigsten waren die besten.
Was war an einem teuren Hotel schlecht?
In einigen teuren Hotels gab es nur eine Steckdose, und dann steht man da mit drei Steckern, der Rechner will bedient werden und es gibt noch zwei Handys. Man muss natürlich ein Handy mit russischer Telefonnummer dabeihaben. Anders geht es nicht.
Wie war der Service?
Die Service-Mentalität ist unheimlich hoch. Ich habe es nur zwei oder dreimal erlebt, dass ich irgendwo hinkam und irgend so eine Matuschka hat sich gar nicht gekümmert, dass da ein Kunde stand und hat erstmal ihre Bretter abgewischt und ihre Messer sortiert, bis sie sich dann herabgelassen und mich bedient hat. Naja, so'n bisschen Vergangenheit gibt es nicht nur in Deutschland, sondern auch in Russland. Das macht's dann ein bisschen symphytisch.
Wie teuer ist es, in Russland zu reisen?
Russland ist für uns Deutsche sehr preisgünstig. Die Fahrten mit der Bahn zum Beispiel. Wenn ich da an die Preise der Deutschen Bundesbahn denke, wo es dann sogar für mich als Einzelreisender oft preisgünstiger ist, mit dem Auto anstatt mit der Bahn zu fahren. Wenn man in ein normales Restaurant geht, krieg man ein qualitativ gutes Essen mit einem guten Bier oder einem Wein für umgerechnet zehn Euro.
Sie waren auf der Krim. Haben Sie da gebadet?
Ja, das Baden habe ich unheimlich genossen. Das Wasser am Strand von Jalta hatte 16 Grad. Schönes, klares Wasser. Jalta ist ein unglaublich toller Ort. Mediterranes Meer, kleine verwinkelte Gassen, nette Restaurants. Am Strand alles toll gemacht. Es gibt Steinstrand. Man braucht Schuhe. Ich hab's ohne gemacht. Überlebt man auch.
Wie ist es eigentlich mit Corona gewesen? In Deutschland gab es ja einen Lockdown und Sie sitzen hier ohne Maske.
Ich hatte mir Karten für das Marinski-Theater in Sankt Petersburg besorgt. Es war sehr schön nach einem Jahr kulturlosem Leben in Deutschland. Wir haben zehn Jahre gebraucht, um eine schöne Elb-Philharmonie hinzustellen, und nun tote Hose. Nichts läuft da. In Russland hatte ich gar nicht so viel Zeit, wie ich Kulturveranstaltungen hätte besuchen können.
Und da saßen die Leute mit Maske?
Nein, da saßen die Leute dicht an dicht. An einigen Stellen wird dann mit Schildern noch darauf hingewiesen, Maske zu tragen. In der U-Bahn, wenn es sehr voll wurde, habe ich dann manchmal auch eine Maske getragen. Aber in der Regel habe ich alles ohne Maske erlebt. Die Menschen sitzen in den Lokalen dicht beieinander. Ein ganz normales Leben. Business as usual. Die Russen hatten ja auch eine Lockdown-Phase, die nicht so lustig war. Aber das ist jetzt alles vorbei und alles ohne Probleme.
Was sagen Sie zu der Berichterstattung der deutschen Medien über Russland?
Die schlechte und falsche Berichterstattung über Russland entsteht oft einfach durch Auslassung. Viele Dinge finden in den deutschen Medien einfach nicht statt.
Was wird zum Beispiel nicht gebracht?
Die Lebenswirklichkeit in Russland. Es wird ständig so getan, als ob die russischen Truppen schon an der portugiesischen Grenze am Atlantik stehen und als wenn Putin Kiew bombardiert. Es gibt auch kein Bemühen der Presse zu zeigen, wie denn die Russen leben.
Die Berichterstattung über Russland in unseren Medien, die ja unisono den gleichen Mist erzählen, ist eigentlich Propaganda.
Und was sagen die Russen über ihre Medien?
In vielen Gesprächen in Russland – und das ist das Interessante – habe ich gehört, dass Putin viel Positives bewirkt hat, nach der schwierigen Jelzin-Zeit. Ich habe aber auch gehört, dass es Defizite in Demokratie und Presseberichterstattung gibt. Und diese Defizite sind eigentlich auf dem gleichen Level wie in Deutschland, wo die fortschrittlichen Menschen sagen, ARD guck ich nicht mehr, ZDF guck ich mir auch nicht mehr an, den Spiegel muss ich auch nicht lesen, weil ich da nicht vernünftig informiert werde. Und die gleiche Erfahrung erzählen mir die Leute hier in Russland. Das ist so wie früher in der DDR. Man hört kein Ost-Radio und sieht kein Ost-Fernsehen. Auf so einem Level sind wir angelangt. Und das ist doch irgendwie erschreckend.
Die Russen gucken ihr eigenes Fernsehen nicht?
Ja, die sagen, da ist zu viel Propaganda. Da werden die Dinge, die uns auf den Nägeln brennen, nicht gebracht.
Jetzt ist ja bald der 22. Juni, der 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion.
Wir Deutschen haben Russland, die Ukraine und Weißrussland plattgemacht. Für mich als Deutscher ist die Geschichtsvergessenheit unserer Politiker unerträglich. Aber von den Russen habe ich kein böses Wort über die Deutschen gehört. Es gibt eine unglaubliche gute Meinung der Russen über Deutschland.
Wer hat Auschwitz befreit? Das waren die Russen. Und was steht in der deutschen Presse: Es waren die Alliierten. Gott sei Dank wissen die Russen gar nicht, wie schlecht über dieses Thema in Deutschland geredet wird oder eben gar nicht mehr geredet wird. Für mich ist es eine heilige Pflicht, an diesem Gedenktag inne zu halten.
Vor meiner Reise hatte ich in der Hamburger Senatskanzlei angefragt, welche Kontakte es in die russischen Partnerstädte gibt. Ich wollte eigentlich an einer organisierten Reise teilnehmen. In der Senatsverwaltung gab es zwar bei den Personen, die für den Austausch mit Russland zuständig sind, schöne Visitenkarten mit schönen Titeln, aber sie konnten mir keine Kontakte nach Russland vermitteln.
Was kann man da als einfacher Bürger tun?
Aus meiner Erfahrung einer E-Mail-Freundschaft mit einem Russen weiß ich, wie wichtig es ist, dass die Menschen miteinander sprechen, dass sie merken, die ticken doch gar nicht so anders als wir. Persönliche Kontakte sind das wichtigste Mittel gegen Propaganda und Hetze.
Ich kann nur jedem raten, fahrt nach Russland. Es ist ein unheimlich schönes Reiseland. Und ich kenne die Vorbehalte meiner Freunde, die sagen: 'Was, nach Russland willst du?' Dazu muss ich sagen, Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, wovon sie reden.
Danke für das Gespräch.
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Das Interview führte Ulrich Heyden.
Zur Person: Manfred Marunge ist Automatisierungs- und Vertriebsingenieur im "Ruhestand". Geboren, Facharbeiterausbildung und Studium in Westberlin, danach in Hamburg. Er war weltweit beruflich aktiv, darunter in Südostasien, Europa und in den USA, unter anderen als Projekt- und Vertriebsmanager. Er wohnt in der Nähe von Kiel, ist kritisches SPD-Mitglied und aktiv bei den Nachdenkseiten-Gesprächskreisen. Er bietet Vorträge über seine Russland-Reise an. Interessenten können ihn über folgende E-Mail erreichen: vortragru@marunge.de