Wie wird sich die Krise auf Russland auswirken? Vor allem in Bezug auf die individuellen Einkommen und die ohnehin schon problematischen Ungleichheiten im Land. Welche Art von Auswirkungen kann die Mittelschicht erwarten, und wie könnte die Krise die Konsumnachfrage dämpfen?
Manche Experten warnen vor einer möglichen persönlichen Schuldenkrise, andere sagen eine Aushöhlung des Dienstleistungssektors voraus. Natürlich könnten diese Befürchtungen unangebracht sein. Vielleicht wird es eine schnelle Erholung geben, und die befürchtete zweite Corona-Welle, die im Herbst erwartet wird, bleibt aus.
RT sprach mit zwei hochrangigen russischen Experten, die ihre Meinung zu den vor uns liegenden unruhigen Zeiten äußerten.
Iwan Tkatschew ist Wirtschaftsredakteur bei RBK, einer Tageszeitung und Russlands meistgelesenem Wirtschaftsmedium.
"Die offizielle Prognose des Wirtschaftsministeriums lautet, dass das real verfügbare Einkommen der Russen in diesem Jahr um 3,8 Prozent sinken und 2021 teilweise wieder ansteigen wird (um 2,8 Prozent). Ohne staatliche Maßnahmen zur Unterstützung der Haushalte wäre der reale Einkommensrückgang definitiv schlimmer. Aber nicht sehr stark, denke ich.
Das Problem ist, dass das Unterstützungspaket für die Verbraucher nicht sehr groß ist – rund 800 Milliarden Rubel (10,1 Milliarden Euro) – und sich weitgehend auf die schwächsten sozialen Gruppen oder Mittelklassefamilien mit Kindern konzentriert. Eine typische Familie mit zwei Kindern (etwa drei Viertel der Familien in Russland) wird im zweiten Quartal 2020 jeweils bis zu 25.000 Rubel (316 Euro) an zusätzlichen Sozialleistungen erhalten. Über Juni hinaus sind keine Zahlungen geplant.
In meinem Beispiel entspricht dies 6.250 Rubel (79 Euro) pro Haushaltsmitglied, also etwa 30 US-Dollar pro Monat. Vergleicht man das mit den 32.500 Rubel (410 Euro) pro Monat an Barmitteln, die einem russischen Durchschnittshaushalt zur Verfügung stehen (laut Rosstat-Daten für 2019), oder 47.000 Rubel (594 Euro) für die 'Kern'-Mittelklasse, wie Untersuchungen der Higher School Economics ergeben haben, so wird deutlich, dass die Zahlungen der Regierung in diesem Jahr etwa 4,5 bis 6,5 Prozent zum typischen Haushaltseinkommen beitragen. Angesichts des Ausmaßes der Krise keine riesige Summe.
Unabhängige Ökonomen sagen für dieses Jahr einen Rückgang des real verfügbaren Einkommens um mindestens acht Prozent voraus. Theoretisch könnte die Regierung während der Krise viel mehr für soziale Unterstützung ausgeben, aber sie empfindet das als Geldverschwendung.
Die Mittelschicht – ein schwer fassbares Konzept für Russland – wird in den Jahren 2020 und 2021 definitiv schrumpfen. Schätzungen für 2019 zufolge gehören 38 Prozent der Russen der breiteren Mittelschicht an. Nur sieben Prozent der Bevölkerung teilen jedoch alle sozioökonomischen Merkmale der Mittelschicht (Landhaus oder Datscha; Geld in Ersparnissen und so weiter). Der untere Teil der Mittelschicht läuft Gefahr, in die Armenschicht abzurutschen. Kleinunternehmer werden ein erhebliches Schrumpfen ihrer Unternehmen oder sogar Schließungen erleben. Die Ungleichheit wird wahrscheinlich zunehmen, denn die Reichen werden reich bleiben, während die Mittelschicht ärmer wird.
Was die Auswirkungen betrifft, die dies auf Russlands Innenpolitik haben könnte, so denke ich, dass mehr Menschen politische Veränderungen, mehr Repräsentation und mehr Rechenschaftspflicht von den Beamten fordern werden.
Es wird keine schnelle Erholung geben, aber ich erwarte keine sozioökonomische Katastrophe. Wenn das BIP in diesem Jahr um fünf Prozent zurückgeht, wie die Regierung es erwartet, wird wahrscheinlich alles gut. Im Falle eines tieferen Einbruchs (zwischen sechs und acht Prozent, wie von anderen einschließlich der Weltbank und der OECD erwartet) wäre es problematischer. Die Wahrscheinlichkeit einer Spirale unbezahlter Schulden ist bisher nur gering, da die Regierung einen Großteil der potenziellen Verbindlichkeiten von Unternehmen durch Programme für Kreditgarantien und subventionierte Kredite übernommen hat. Wenn ein Teil dieser Schuldner zahlungsunfähig wird, hat die Regierung einen beträchtlichen Spielraum, um Verluste bei denjenigen Aktiva hinzunehmen, die potenziell toxisch werden könnten."
Konstantin Gurdschijew ist außerordentlicher Professor für Finanzen am Middlebury Institute of International Studies in Monterey (Kalifornien, USA) sowie außerplanmäßiger Professor für Finanzen an der Trinity Business School am Trinity College Dublin (Irland).
"Die Durchschnittslöhne in Rubel waren bis Februar 2020 statisch, gingen jedoch in Euro und Dollar zurück, während die inländische Inflation von 4,5 Prozent im Jahr 2019 auf 2,6 Prozent bis April 2020 zurückging. Das bedeutet, dass die russischen Reallöhne vor der Pandemie unter Druck standen. Dieses Risiko beschleunigte sich, höchstwahrscheinlich bis Mai 2020, wobei die Nominallöhne aufgrund reduzierter Arbeitsstunden, geringerer Beschäftigung und einiger Arbeitnehmer, die nicht in die mit der Pandemie verbundenen fiskalischen Unterstützungsprogramme einbezogen wurden, sanken.
Obwohl Prognosen in einer Zeit großer Unsicherheit, die durch die aktuelle Krise hervorgerufen wird, eine gefährliche Übung sind, ist es wahrscheinlich, dass der Gesamtkonsum in Russland im Jahr 2020 um 0,9 bis 2,5 Prozentpunkte schrumpfen wird. Die Investitionen werden um etwa 6,5 Prozent, und die Importe um mehr als zehn Prozent zurückgehen.
Die jüngsten Schätzungen gehen davon aus, dass die russische Wirtschaft im Jahr 2020 zwischen 4,7 und fünf Prozent schrumpfen wird. Die Inflation dürfte im Gesamtjahr 2020 in der Größenordnung von vier Prozent liegen – erneut niedriger als im vergangenen Monat prognostiziert, aber immer noch beträchtlich. Meiner Ansicht nach wird der private Konsum im Jahr 2020 wahrscheinlich um 5,3 bis 5,5 Prozentpunkte zurückgehen und sich erst Mitte 2022 erholen.
Die Löhne und Gehälter werden in diesem Jahr um 6,3 Prozent fallen, 2021 teilweise um 4,5 bis fünf Prozent wieder steigen und frühestens Mitte 2022 wieder das reale Niveau von 2019 erreichen. Meiner Prognose zufolge werden die russischen Reallöhne bis Ende 2022 wahrscheinlich nur 3,8 Prozentpunkte höher sein als Ende 2014. Dieselbe Ansicht wird durch die Zahlen und Prognosen für die Einzelhandelsumsätze gestützt. Meinen Erwartungen zufolge werden die russischen Einzelhandelsumsätze bis Ende 2022 real etwa 8,6 Prozentpunkte unter dem Niveau von Ende 2014 liegen. Auf der Grundlage längerfristiger Prognosen ist es unwahrscheinlich, dass sich die Einzelhandelsumsätze vor Mitte 2027 wieder auf ihr reales Niveau von Ende 2014 erholen werden. Das Verbrauchervertrauen lag vom dritten Quartal 2019 bis zum ersten Quartal 2020 im zweistelligen negativen Bereich (die jüngsten Daten deuten auf einen stärkeren Rückgang im zweiten Quartal hin).
All dies bedeutet, dass die Mittelschicht in Russland sowohl kurzfristige Verluste (Konsum und Realeinkommen) als auch längerfristige Lebenszyklusverluste (geringere Investitionen und höhere vorsorgliche Ersparnisse) erleiden wird.
Das Problem ist, dass Russland nur sehr begrenzte Möglichkeiten hat, die mittelfristige Belastung der jüngeren Mittelschicht und der oberen Mittelschicht zu mildern. Dies sind demografische Gruppen, die den größten Teil der Schulden der privaten Haushalte tragen und in naher Zukunft eine höhere Verschuldung aufrechterhalten müssen.
Die russische Geldpolitik ist jedoch zu restriktiv, um gleichzeitig schrumpfende oder statische Realeinkommen und eine hohe Verschuldung der jüngeren Haushalte zuzulassen. Die Zentralbank sollte einen Leitzins von etwa 2,5 bis drei Prozent in den Jahren 2020 und 2021 anstreben, während die aktuelle Prognose für 2020 bei etwa 4,5 Prozent liegt und bis 2021 auf 4,75 Prozent ansteigt.
Die russische Fiskalpolitik ist auf der Grundlage der aggregierten Bilanz solide, aber diese Politik unterstützt keine signifikanten öffentlichen und privaten Investitionen und führt somit nicht zu einer Aufwärtsdynamik bei der Kapitalvertiefung (die wegen des alternden Kapitalbestands und des Mangels an bedeutenden F&E-Investitionen im privaten Sektor notwendig ist). Sie unterstützt außerdem nicht die Neuausrichtung der russischen Wirtschaft weg von inländischen Dienstleistungen und Fördersektoren. Ohne eine aggressive Neigung der russischen Wirtschaft zu einer höheren Kapitalintensität und einer schnelleren Übernahme und Verbreitung von Technologien sowie zu einer stärker exportorientierten und importsubstituierenden Produktion werden die Einkommen der russischen oberen Mittelschicht im laufenden Jahrzehnt wahrscheinlich stagnieren oder zurückgehen.
Bei einem Vergleich zwischen dem US-Dollar und dem Rubel lohnt es sich, die Kaufkraftparität zu berücksichtigen. Einfach ausgedrückt: Ein US-Dollar geht in Russland viel weiter als in weiten Teilen des Westens. Die OECD verwendet einen Wechselkurs von 25 Rubel zum US-Dollar, um die russische Kaufkraftparität zu messen.
Zum Zeitpunkt der Anfertigung dieses Artikels liegt der Marktwechselkurs bei 69 Rubel für einen Dollar. Im Durchschnitt bedeutet das, dass ein US-Dollar 2,7 Mal mehr Wert hat als in den Vereinigten Staaten. Mit anderen Worten, ein Russe, der 69.000 Rubel im Monat (1.000 US-Dollar) verdient, hat also die gleiche Kaufkraft wie ein Amerikaner mit 2.700 US-Dollar. Es muss auch darauf hingewiesen werden, dass Russland, wie so ziemlich alle postsowjetischen Staaten, über eine beträchtliche Schattenwirtschaft verfügt. Der IWF schätzt sie auf 38 Prozent des BIP, gegenüber nur acht Prozent in den USA. Viele Russen haben also "inoffizielles" Einkommen, das in den offiziellen Statistiken nicht berücksichtigt wird."
Zusammengestellt von Bryan MacDonald
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