Neoliberale Front von SPD über CDU bis AfD will Hartz-IV-Sanktionen erhalten

Susan Bonath

Grundsatzurteil zu den Hartz-IV-Sanktionen mit Tücken: Die Mehrheit im Bundestag aus CDU/CSU, SPD, FDP und AfD will Erwerbslose weiterhin mit harten Strafkürzungen des Existenzminimums in den Niedriglohnsektor zwingen. Das ist auch möglich.

von Susan Bonath

Am 5. November hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Hartz-IV-Sanktionen von mehr als 30 Prozent als "derzeit unverhältnismäßig" eingestuft. Die Freude bei Betroffenen und Sozialverbänden war zunächst groß. Von einem "Quantensprung für soziale Grundrechte" und einem "Ende der Rohrstockpädagogik" war die Rede. Doch die Freude war möglicherweise verfrüht.

Verwertung auf dem Arbeitsmarkt ist Menschenwürde

Denn keineswegs hat das höchste Gericht jegliche Eingriffe in das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum für verfassungswidrig erklärt. Die Rede vom Existenzminimum meint hier 424 Euro zuzüglich einer "angemessenen" Miete für eine Kleinstwohnung im untersten Preissegment (die es vielerorts heutzutage gar nicht mehr gibt!) für Alleinstehende. Von diesen 424 Euro muss diese Person alles Übrige bezahlen: Stromrechnung, Bus- und Bahntickets, Telefonkosten, Internetzugang, Waschmaschinenreparatur, Wohnungsrenovierung, Kleidung, Schuhe und so weiter. Davon noch 30 Prozent – das sind immerhin 127,20 Euro – abzuziehen, damit haben die Grundgesetzhüter in Karlsruhe gar kein Problem. Es bleiben also weniger als 300 Euro im Monat übrig!

Doch selbst diese 30 Prozent hat das BVerfG noch nicht als oberste Sanktionsgrenze angesehen. Es erklärte lediglich, die Bundesregierung habe in 15 Jahren Praxis nicht hinreichend nachgewiesen, ob höhere Strafen ihr erklärtes Ziel erfüllen, nämlich diese Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zu "integrieren". Denn – so die Richter – wer arbeitsfähig sei, aber ein Jobangebot oder eine Integrationsmaßnahme ablehne, der sei ja theoretisch gar nicht hilfebedürftig. Der 1. Senat des BVerfG unter dem CDU-Mann Stephan Harbarth, der bis 2018 selbst als Abgeordneter im Bundestag die Sanktionen verteidigt hatte, stellte also auf eine fiktive Nichtbedürftigkeit ab.

Die Karlsruher Richter knüpften damit die Gewährung des laut Gesetzgeber untersten Limits zur Sicherung der "physischen und soziokulturellen Existenz" an die Bereitschaft der Betroffenen, sich "verwerten" zu lassen, egal zu welchem Preis. Anders ausgedrückt: Nur wer bereit ist, sich zu fast jedweden Bedingungen in den Prozess der profitablen Kapitalverwertung eingliedern zu lassen, nur derjenige müsse auch menschenwürdig behandelt werden.

AfD: Hartz IV ohne harte Sanktionen sei "grüner Sozialismus"

Diese Argumentationen des BVerfG picken freilich die Sanktionsverfechter im Bundestag aus dem langen Urteil heraus. Am 14. November wurde das besonders deutlich. An diesem Tag beriet das Plenum einen gemeinsamen Antrag der Fraktionen der Linkspartei und der Grünen unter dem Titel "Soziale Garantien ohne Sanktionen". Er ist politisch bereits zum Scheitern verurteilt.

Matthias Zimmer (CDU) stellte klar: "Das Unterschreiten des Existenzminimums um 30 Prozent ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden." Und theoretisch seien auch höhere Sanktionen weiterhin denkbar. "Wir müssen das nur nachweisen, dass sie arbeitsmarktpolitisch wirken", so Zimmer. Blöderweise sei das jetzt komplizierter, da man hohe Kürzungen erst einmal aussetzen müsse, rügte er.

Kerstin Tack von der SPD sprach von einem "weisen weil differenzierten Urteil". FDP-Mann Pascal Kober erklärte, seine Partei wolle den "Sozialstaat" motivierender gestalten. Dafür hatte die FDP einen eigenen Antrag eingebracht, wonach die Zuverdienst-Grenzen leicht erhöht werden sollten. Sanktionen müsse man aber auf jeden Fall beibehalten, forderte der Politiker.

Besonders lautstark wetterte der AfD-Abgeordnete Norbert Kleinwächter gegen das Ansinnen der Linken und Grünen. Wer wolle, "dass Hartz-IV- und Sozialhilfeempfängern rein gar nichts passiert, wenn sie Termine schwänzen, keinen Bock auf Arbeit haben und auf Steuerzahlerknete ausschlafen", so Kleinwächter, der befinde sich "geradewegs auf dem Weg ins Paradies" und erkläre "Müßiggang zur Staatsräson".

Das sei gar "ein Anschlag auf die Solidargemeinschaft" und "grüner Sozialismus", rief der AfD-Mann. Im Anschluss ließ er sich über "Faule" in der "sozialen Hängematte" aus, die den "Fleißigen" auf der Tasche lägen und ihnen durch ihr "bedingungsloses Faulheitseinkommen" gar "unsägliches Leid" zufügten.

Kongolesische Verhältnisse für Aussortierte?

Eine Woche zuvor, am 7. November, hatte die AfD zusammen mit den Fraktionen der CDU/CSU, der FDP und der SPD eine von den Linken geforderte Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze und höhere Wohnkostenzuschüsse für Hartz-IV-Betroffene bereits abgelehnt. Trotz Belegen für ein Argument der Linken: Die gewährten Mietobergrenzen bleiben immer stärker hinter den realen Wohnkosten zurück. Außerdem betonten sie in ihrem Antrag, dass die Hartz-IV-Sätze durch das Herausrechnen von zahlreichen weiteren menschenwürdigen Bedürfnissen, etwa für Bildung, minimiert wurden.

Martin Sichert (AfD) warnte, dann würden höhere Leistungsansprüche ja auch für Asylbewerber gelten. Er machte eine demagogische Rechnung auf: Im Kongo müsse man "für 582 Euro anderthalb Jahre lang hart arbeiten". Dass es sich um eines der ärmsten und am schlimmsten ausgebeuteten Länder handelt und zugleich dort niedrigere Lebenshaltungskosten einen solchen Vergleich hierzulande ad absurdum führen, interessierte ihn nicht.

Ebenso einig schimpften AfD, CDU/CSU und FDP gegen einen Linke-Antrag für die Anhebung des bundesdeutschen Mindestlohnes von derzeit 9,19 Euro auf zwölf Euro pro Stunde. Jörg Schneider (AfD) gab die bekannte neoliberale Erzählung zum Besten: Lohnerhöhungen brächten Arbeitsplätze in Gefahr.

Auch die gängige Sperrzeit von bis zu zwölf Wochen für die Versicherungsleistung zustehenden Arbeitslosengeldes (ALG) I für alle jene, die ihren Job selbst gekündigt hatten, findet Schneider richtig. Sein Argument ist auch dasjenige der Bundesregierung: Wer seinen Job aufgebe – aus welchen Gründen auch immer – dürfe nicht mit einem vom Unternehmen Entlassenen gleichgestellt werden, jahrelange Einzahlung in diese Versicherung hin oder her.

Das passt zur reißerischen Bild-Schlagzeile nach dem Urteil aus Karlsruhe. So titelte das Springer-Blatt am 6. November: "Jetzt gibt’s Hartz IV auf dem Silbertablett". Und "Deutschlands faulster Arbeitsloser" sei "begeistert".

Mit der Hungerpeitsche in den Niedriglohnsektor

Kurzum: Das Hartz-IV-Urteil lässt weiten Deutungsspielraum zu, und die Deuter aus dem neoliberalen Lager sind bereits am Werk. Die Sanktionspeitsche, mit welcher Betroffene, die nicht fügsam genug sind, seit fast 15 Jahren bis in die Obdachlosigkeit getrieben werden, wird erhalten bleiben. Zwar sagte der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Detlef Scheele, der Presse, man will vorerst keine Sanktionsbescheide verschicken und noch gültige ältere Strafen auf 30 Prozent senken.

Doch das gilt nur bis zu einer Übergangsregelung, die Ende November vorliegen soll und bis zu einer Gesetzesänderung gelten werde. In einer internen Dienstanweisung an die Jobcenter, die der Autorin vorliegt, stellt die BA zudem klar: Sanktionsverfahren werden sehr wohl dennoch eingeleitet, man hält nur Bescheide zurück.

Dies gilt danach zunächst auch für 15- bis 24-Jährige, obwohl für sie das Urteil gar nicht gilt. Diese Altersgruppe wird seit 2007 sogar noch härter als Ältere sanktioniert. Beim ersten "Pflichtverstoß" – also der Ablehnung einer Maßnahme, ein nicht angetretener oder abgebrochener Job, zu wenig nachgewiesene Bewerbungen oder unerlaubte Entfernung vom wohnortnahen Bereich – können Jobcenter ihnen für drei Monate den gesamten Regelsatz streichen. Beim zweiten Verstoß innerhalb eines Jahres fällt zudem auch noch der Mietzuschuss weg.

Nun urteilte das BVerfG zwar, derart hohe Kürzungen seien wohl doch "unverhältnismäßig". Aber eben nur dann, wenn das Amt anerkennt, jemand sei wirklich nicht fähig, eine bestimmte Arbeit (natürlich gerne im Niedriglohnsektor) auszuführen. Andernfalls darf es gern noch härter zugehen. So heißt es im Urteil: Betroffene seien verpflichtet, ihre Existenz durch eine "zumutbare Arbeit" selbst zu sichern. Was "zumutbar" ist, bestimmt freilich das Amt. Wörtlich schreiben die Richter:

Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgehen stehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.

Es könnte also künftig sogar noch viel schneller zu einem Totalentzug der Mindestsicherung kommen, wenn Erwerbslose oder "Aufstocker" nicht fügsam genug sind, und zwar sogar zu einem dauerhaften Entzug. Und genau auf diese Zeilen vom BVerfG pochten nun explizit die Fraktionen der CDU/CSU und der AfD. Anders ausgedrückt: Die Peitsche mit der Drohung von Hunger und Obdachlosigkeit, die Menschen in den Niedriglohnsektor zwingen soll, ist von ganz oben abgesegnet.

Drohkulisse für alle Lohnabhängigen

Sanktionen auf das Existenzminimum stellen somit auch eine effektive Drohkulisse für alle übrigen Lohnabhängigen dar. Aus Angst vor dem existenziellen Totalabstieg – wozu ja nicht nur Sanktionen, sondern auch der drohende Verlust erarbeiteten Kleineigentums, wie Haus, Garten und PKW gehören – trauen auch sie sich nicht mehr, gegen Lohndumping oder miserable Arbeitsbedingungen zu protestieren. So macht man Menschen gefügig.

Hartz IV ist damit als effektivstes Instrument seit Beginn dieses Jahrtausends einzustufen, einen gigantischen Niedriglohnsektor in Deutschland zu schaffen. Heute arbeitet jeder fünfte westdeutsche und jeder dritte ostdeutsche Beschäftigte für einen Lohn von unter zehn Euro pro Stunde. Das war ja auch das erklärte Ansinnen der damaligen Hartz-Kommission unter dem inzwischen vorbestraften Ex-Volkswagen-Manager Peter Hartz.

Hinzu kommt die von oben befeuerte gesellschaftliche Stigmatisierung von Erwerbslosen als "faul" oder "Schmarotzer". Dafür setzen die Propagandisten seit jeher Lohnarbeit mit Arbeit gleich. Dass der größte Teil der von Menschen geleisteten Arbeit gesellschaftlich zwar unentbehrlich, aber gar keine Lohnarbeit ist, bleibt ebenfalls außer Acht: Kindererziehung, Nachbarschaftshilfe, Pflege von Angehörigen, das Ehrenamt im Sportverein, all das zählt heute zur puren unentgeltlichen Freizeitbeschäftigung. Das macht dann die Drohkulisse für alle Lohnabhängigen perfekt.

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