Karlsruhe kippt Hungerstrafen: Hartz-IV-Sanktionen sind zum Teil verfassungswidrig

Grundsatzurteil nach 15-jähriger Praxis: Das Bundesverfassungsgericht erklärte am Dienstag Hartz-IV-Sanktionen, bei denen der Regelsatz um mehr als 30 Prozent gekürzt wird, für menschenunwürdig. Auflagen müssen demnach für Erwerbslose erfüllbar sein.

von Susan Bonath

Hartz IV ist das physische und soziokulturelle Existenzminimum. Doch Jahr für Jahr kürzen Jobcenter Hunderttausenden Leistungsbeziehern ebendieses. Die Gründe sind oft banal: Jemand hat einen Termin versäumt, konnte nur fünf statt zehn Bewerbungen nachweisen oder hat das dritte Bewerbungstraining abgebrochen. Monatlich waren zuletzt etwa 7.000 Menschen nach einer wiederholten "Pflichtverletzung" sogar von einer Vollsanktion betroffen: kein Geld zum Leben, nichts für die Miete, keine Beiträge zur Krankenversicherung. Zumindest mit derart drastischen Strafen ist ab sofort Schluss. Sanktionen von mehr als 30 Prozent seien "nicht mehr verhältnismäßig", urteilte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am Dienstag in Karlsruhe. 

Wie erwartet, hat der 1. Senat des BVerfG unter Stephan Harbarth (CDU) damit nach fast 15 Jahren Sanktionspraxis nicht den gesamten repressiven Strafkatalog im Zweiten Sozialgesetzbuch gekippt. Weiterhin dürfe die Politik erwerbsfähigen Leistungsbeziehern "zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der Bedürftigkeit" auferlegen. Hielten sich Betroffene nicht daran, dürfe man ihnen das Minimum in gewissen Grenzen kürzen. In diesem Falle, so das BVerfG in seiner Pressemitteilung, würden die Mittel für eine menschenwürdige Existenz entzogen.

Mit dem Grundgesetz kann das dennoch vereinbar sein, wenn die Sanktion darauf ausgerichtet ist (…), die Bedürftigkeit zu überwinden. 

Keine unzumutbaren Härten 

Die von Jobcentern verhängten Auflagen müssten sich jedoch immer an tatsächlichen Fähigkeiten und Kenntnissen der Leistungsberechtigten orientieren. Sie müssten für die Leistungsbezieher erfüllbar sein, hieß es. Außerdem sei es Betroffenen zu ermöglichen, die Sanktion durch eine Verhaltensänderung vor Ablauf der bisher starren Dreimonatsfrist rückgängig zu machen. Ebenso müssten Jobcenter prüfen, ob besondere unzumutbare Härten gegen eine Sanktion sprächen. So seien die Strafen für Betroffene "außerordentlich belastend", was den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers beschränke, so das BVerfG. 

Der Senat kritisierte zudem die Bundesregierung. Sie habe nicht anhand von Studien darlegen können, inwieweit Sanktionen nützlich für die Integration in den Arbeitsmarkt seien. Belegt seien indes existenziell gravierende Folgen von hohen Sanktionen. Der Gesetzgeber habe sich damit auf pure Annahmen gestützt. Nach 15 Jahren Praxis sei dies zu wenig. 

Zwar hatte das BVerfG vorab klargestellt, dass die härtere Strafpraxis gegenüber Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 15 und 24 Jahren nicht Bestandteil der Entscheidung sei. Allerdings ist damit auch für diese Gruppe eine Kürzung um mehr als 30 Prozent obsolet. Zudem dürfen Jobcenter künftig die Mietbeihilfe sowie die Beiträge zur Krankenversicherung nicht mehr kappen. 

Der Weg vor das Bundesverfassungsgericht hat einige Jahre gedauert. Bereits 2015 verhandelte das Sozialgericht im thüringischen Gotha den Fall eines Mannes, der nach Ablehnung eines Jobangebots zunächst 30 Prozent weniger, nach einer weiteren Ablehnung eines Praktikums 60 Prozent weniger Leistungen erhalten hatte. 

Bundesregierung muss Gesetz ändern 

Die Thüringer Richter bewerteten dies als Verstoß gegen die Grundrechte auf Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und freie Berufswahl und wandten sich an das BVerfG. Der Gothaer Gerichtssprecher Jens Petermann zeigte sich am Dienstag im Gespräch mit der Autorin "weitgehend zufrieden":

Fest steht, dass das Gesetz jetzt geändert werden muss und Jobcenter ab sofort keine Sanktionen von mehr 30 Prozent mehr verhängen dürfen.

Auch die Sozialgerichte müssten sich nun in laufenden Verfahren an dem Karlsruher Urteil orientieren, so Petermann. "Wie das letztendlich konkret umgesetzt wird, vermag ich aber noch nicht zu sagen." 

Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, nannte das Urteil am Dienstag "beschämend für die Bundesregierung". Karlsruhe habe damit nach Jahren ein "Ende der Rohrstockpädagogik" eingeläutet. Nun sei "die Bundesregierung gefordert, schnellstmöglich ein Hilfesystem zu schaffen, das den Einzelnen in den Mittelpunkt stellt", mahnte Schneider. Allerdings: Eine Frist dafür haben die Verfassungsrichter nicht gesetzt. Der Paritätische spricht sich seit langem gegen jede Kürzung des Existenzminimums aus. 

Unter Strafe in den Niedriglohnsektor 

Das Arbeitslosengeld II, im Volksmund Hartz IV genannt, ist nur einer von mehreren Bestandteilen der 2003 unter SPD-Altkanzler Gerhard Schröder auf den Weg gebrachten Agenda 2010. Danach erhielt ab 2005 jeder, der je nach Alter länger als ein bis zwei Jahre erwerbslos war, nur noch eine Unterstützung in Höhe der Sozialhilfe. Das mitgelieferte rigide Sanktionsregime läuft bis heute unter dem Motto "Fordern und Fördern". 

Damals stimmten alle im Bundestag vertretenen Fraktionen dem massivem Sozialabbau zu. Ganz offen hatte Schröder damals erklärt, Ziel der Agenda 2010 sei vor allem der Aufbau "eines der besten Niedriglohnsektoren in Europa". Die Hartz-IV-Sanktionspraxis sei dafür wesentlich entscheidend. 

Noch heute werden die Hartz-IV-Sanktionen von der CDU, der CSU, der FDP und der AfD rigoros befürwortet. Die SPD setzte die Praxis jahrelang an vorderster Front mit durch und goutiert sie bis heute in weiten Teilen. 

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat bereits Reformvorschläge eingebracht, mit denen unter anderem die härtere Bestrafung Jugendlicher und junger Erwachsener aufgehoben und die Miete nicht mehr gekürzt werden soll. Abgekehrt haben sich inzwischen die Grünen. Die Linke spricht sich bereits seit ihrer Gründung im Jahr 2007 vehement gegen Hartz-IV-Sanktionen aus. 

Verheerende Bilanz 

Die Bilanz knapp 15 Jahre später ist verheerend: Der Niedriglohnsektor blüht bis heute, das Lohnniveau ist gesunken. Gewerkschaften und Betriebsräte gerieten unter Druck, schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Leiharbeit wurde zum gängigen Beschäftigungsmodell vieler Großkonzerne. 

Inzwischen arbeitet im Westen ein Fünftel, im Osten ein Drittel der Lohnabhängigen für den Mindestlohn oder nur wenig mehr. Die Zahl der Tafeln hat sich verdreifacht, die Obdachlosigkeit ist sprunghaft gestiegen. Mehr als jedes fünfte Kind und immer mehr Rentner leben unter der Armutsgefährdungsgrenze. 

Die Sanktionspraxis schaffte dafür die entsprechende Drohkulisse: Wer nicht jeden zumutbaren Job annimmt, unabhängig von der Qualifikation, dem kann der Staat ganz schnell die Mittel für die Existenz entziehen. Schon für einen verpassten Termin gibt es drei Monate lang zehn Prozent weniger Leistung. 

Wer eine Maßnahme oder einen Job ablehnte oder zu wenige Bewerbungen schrieb, bekam zunächst 30 Prozent entzogen. Bei der zweiten "Pflichtverletzung" gab es drei Monate lang 60 Prozent weniger, danach fiel das gesamte Budget weg. Unter 25-Jährigen drohte bereits beim ersten Auflagenverstoß der Komplettentzug des Regelsatzes, beim zweiten auch der Miete und Krankenversicherung. Betroffene konnten dann nur im Jobcenter um Lebensmittelgutscheine bitten und klagen. 

Obdachlosigkeit, Hunger, Kleinkriminalität 

Die Auswirkungen sind bedenklich: Selbst die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages hatten in einer Auswertung verschiedener Studien im Februar 2017 konstatiert, dass insbesondere hohe Kürzungsstrafen regelmäßig zur Mangelversorgung mit Nahrung und Medikamenten bis hin zu Obdachlosigkeit und Hunger führten und Menschen notgedrungen in die Kleinkriminalität trieben. 

Insgesamt waren im vergangenen Jahr 8,5 Prozent aller über 15-jährigen Hartz-IV-Bezieher von einer oder mehreren Sanktionen betroffen. Etwa 7.000 Menschen litten Monat für Monat unter einem Totalentzug des Existenzminimums. Überproportional traf es dabei 15- bis 24-Jährige, Migranten und Asylbewerber. 

Nach Ansicht der Sanktionsverfechter müssen Sozialleistungen nicht bedingungslos gewährt werden. So argumentierte am Sonnabend vor der Urteilsverkündung auch Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, gegenüber der Zeitung Neue Westfälische

Was dabei vergessen wird: Ausweislich der peniblen Berechnung der Bundesregierung ist das ungekürzte Hartz-IV-Budget aber ebenjenes Minimum, das laut einem BVerfG-Urteil von 2010 "unverfügbar" sei. 

Sanktionen in der Kritik 

In Stellungnahmen an das BVerfG hatten sich bereits vor knapp drei Jahren zahlreiche Sozialverbände, der Deutsche Anwaltsverein (DAV) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) gegen Hartz-IV-Sanktionen ausgesprochen. Der Erwerbslosenverein Tacheles hatte eine Umfrage zu den Auswirkungen der Sanktionen gestartet, ausgewertet und vorgelegt. Diese belegte Fälle von massiver sozialer Verelendung. 

Der DGB verglich Hartz-IV-Bezieher mit Straftätern. Letzteren dürfe der Staat selbst bei schweren Verbrechen das Existenzminimum nicht entziehen, während bei ersteren schon ein geringfügiger Auflagenverstoß fernab des Strafrechts dazu führen könne. Auch der Deutsche Sozialgerichtstag erklärte Kürzungen von mehr als 30 Prozent in seiner Stellungnahme für verfassungswidrig.

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