von Susan Bonath
Kapitalismus sei alternativlos. Denn die Geschichte habe wohl gezeigt, dass Sozialismus alles nur verschlimmere. Ökologisch und ökonomisch hätten die Versuche versagt. In der Wirtschaftswoche legte Kolumnist Andreas Freytag bereits Mitte August mit derlei Plattitüden, die bis zum 3. Oktober erwartbar exponentiell zunehmend die medialen Schlagzeilen bestimmen werden, schon einmal vor.
Flucht der Unterdrückten aus den imperialistischen Verwerfungen
Was ausgeblendet wird, ist die Geschichte. Seit es Privateigentum an jenen Ressourcen gibt, die der Mensch zur Deckung seiner Existenz benötigt – also Grund und Boden, später Rohstoffe und Maschinen, kurz: Produktionsmittel –, werden viele von wenigen beherrscht. Seither suchen Unterdrückte nach Auswegen, je unerträglicher die Bedingungen werden, desto mehr.
Unter diesem Aspekt ist auch die Entwicklung des sogenannten sozialistischen Ostblocks zu bewerten. Die Mehrheit der einfachen Menschen lebte zur Zeit der Oktoberrevolution in Russland unter katastrophalen Bedingungen. Die kapitalistische Profitmaschine hatte, gemäß ihrem Zweck, für eine enorme Konzentration des Kapitals gesorgt. Imperialistische Nationen hatten sich herausgebildet. Sie rangen um die Vorherrschaft auf den globalen Märkten, was schließlich im Ersten Weltkrieg mündete, der zehn Millionen Zivilisten und noch einmal so vielen Soldaten das Leben kostete.
Die einfachen Menschen hungerten. Auch darum konnten die Bolschewiki im zaristischen Russland mit ihrer Forderung "Brot und Frieden" Hunderttausende mobilisieren. Es kam zu Massenstreiks. Im Februar 1917 jagten die Aufständischen den Zaren aus dem Palast, acht Monate später entmachteten sie das bürgerliche Parlament. Die junge Sowjetunion trat aus dem Weltkrieg aus. Die Oktoberrevolution war somit in erster Linie eine Flucht der unterdrückten Massen nach vorn – heraus aus den imperialistischen Verwerfungen.
Wer sich dem globalen Markt des Kapitals entzieht, wird bekämpft
Dass der Hunger in dem Riesenland nicht sofort verschwand, war nicht die Schuld der Bolschewiki. Denn diese standen einer völlig rückständigen Wirtschaft gegenüber, die vor allem auf dem Land noch feudale Strukturen aufwies. Die Armeen der imperialistischen Mächte fielen ein, um die Umbrüche aufzuhalten. Natürlich, noch heute wird jedes Land von den führenden Imperien bekämpft, das auch nur versucht, sich dem kapitalistischen Markt zu entziehen.
Doch schon Lenin war der Ansicht, dass sich Sozialismus in der Sowjetunion nur entfalten könne, wenn in vielen anderen Staaten entsprechende Revolutionen folgten. Ein Land allein, hieß es, bleibe abhängig vom Markt und könne sich nicht emanzipieren. Man hoffte zum Beispiel auf die Novemberrevolution in Deutschland im Jahr 1918. Die aber wurde von den Herrschenden – unter Führung der SPD – zerschlagen.
Die Perversion der kommunistischen Idee
Dann stieg Stalin zum Führer der UdSSR auf. Seine gegenteilige These vom Sozialismus in einem Land ging einher mit alleinigem Führungsanspruch. Kommunisten, die Stalin kritisierten – viele taten es in den 1920er Jahren wegen seiner zögerlichen Bestrebungen zur Industrialisierung, was große kommunale Landwirtschaftsbetriebe verhinderte und am Ende zu Hungerkatastrophen führte –, endeten im Gulag oder wurden, nach Schauprozessen, hingerichtet.
Tatsächlich gibt es noch heute Linke, die Stalin als "großen Führer" sehen. Doch war er in erster Linie ein Tyrann, der die Idee eines sozialistischen Weges hin zum Kommunismus – einer geldlosen, auf kommunaler Ebene organisierten und auf die Bedürfnisse der Menschen orientierten Gesellschaft – pervertierte. Manche sagen, die Sowjetunion sei mit rund 27 Millionen Todesopfern trotz, nicht wegen Stalins als eine der Siegermächte aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen.
"Soziale Marktwirtschaft" versus DDR-Sozialstaat
Deutschland hatte derweil eine zwölf Jahre währende faschistische Diktatur hinter sich. Nicht wenige Bürger hatten sie bis zum Schluss mitgetragen. Mit der Besetzung des Ostens keimte die Hoffnung der Sowjetunion wieder auf: Man wollte gemeinsam mit den wenigen übrig gebliebenen Kommunisten ein "sozialistisches Lager", also den sogenannten Ostblock etablieren. So wollte man eine eigene Wirtschaftszone schaffen.
Dass die Ostzone weit mehr mit den Kriegsfolgen zu kämpfen hatte als der Westen, ist nachvollziehbar. Niemand stellte dort die Warenregale voll, niemand lieferte Rohstoffe auf Kredit und beschleunigte so, wie im Westen, den Boom. Sanktionen und Reparationen erschwerten Wiederaufbau und Versorgung.
Doch die Enteignung der Großgrundbesitzer und -industriellen sorgte anders als im Westen dafür, dass Profite eben nicht mehr in die Taschen der Privatiers fließen konnten. Dass in der jungen BRD die sogenannte "Soziale Marktwirtschaft" eingeführt wurde, hatte in erster Linie ein Ziel: Die herrschende Klasse wollte die kriegsmüde und frustrierte Bevölkerung ruhigstellen. Drohende Aufstände mussten bekämpft werden. Und dies vor dem Hintergrund, dass die DDR nebenan trotz aller ökonomischen Probleme durch Embargos und "Kaltem Krieg" ein Sozialsystem errichtete, das seinesgleichen suchte.
Waren ohne Ende: Warum die DDR nicht mithalten konnte
Im Kapitalismus wird das Privateigentum an Produktionsmitteln – einen besseren Ausdruck gibt es dafür einfach nicht – hochgehalten. Mehr noch: Das ist das Kernelement dieser Wirtschaftsweise: Heißt: Jedes Produkt wird mittels Lohnarbeit nicht etwa wegen eines Bedarfs produziert, sondern einzig zum Zweck der Profitmaximierung. Kurzum: Der Eigentümer eines Betriebes oder Konzerns ist, unter Strafe seines Untergangs, dazu gezwungen, Maximalprofite zu erwirtschaften – und dies auf Kosten der Lohnarbeiter.
Das führt freilich zu einer ungeheuren Warensammlung, wie es schon Marx im "Kapital" ausdrückte. Um diese konsumieren zu können, braucht es Kaufkraft. Wer keine Produktionsmittel besitzt, kann diese nur auf einem Weg erwerben: Er muss seine Arbeitskraft als einzige Ware, die er besitzt, am Markt veräußern. Und dies zu einem einzigen Zweck: um den Profiteuren hohe Renditen zu bescheren.
Von Anfang an strebte der Markt dabei nach Globalisierung. Denn in seinem Wachstumswahn braucht er immer mehr Rohstoffe. Und die lagern nicht vor der Haustür. Es ist klar, dass ein kleines Land wie die DDR, weitgehend abgeschnitten von diesem globalen Markt, dabei nicht mithalten konnte. Dass exponentielles Wachstum auf einem begrenzten Planeten nicht funktioniert, bleibt ungeachtet dessen trotzdem wahr.
Im Fokus der Konterrevolution, unter der Knute von Embargos
Doch der medial geschönte Blick in die gigantische Warenwelt des Westens schürte Neid und Frust in der DDR-Bevölkerung. Die Gründe dafür wurde dieser viel zu wenig erklärt. Gleichwohl setzten sich diktatorische Auswüchse immer stärker durch. Doch abseits der berechtigten Kritik daran hatte auch dies durchaus eine Ursache: Der Westen war ja nicht untätig, was die Vorbereitung einer Konterrevolution betraf.
So warb er von der DDR gut und teuer ausgebildete Studenten und Facharbeiter ab. Man lockte sie mit hohen Gehältern und ebendieser bunten Warenwelt. Das war eine echte Bedrohung für das kleine Land. Der Mauerbau 1961 war in erster Linie eine Abwehrmaßnahme dagegen.
Die Bedrohung war gleichwohl auch militärisch real. Der Kalte Krieg zwang den Ostblock zur Aufrüstung. Gelder, die in Wirtschaft und Sozialwesen hätten fließen können, waren damit gebunden. Um die Bedrohung überhaupt einschätzen zu können, war auch ein Geheimdienst nötig. Natürlich trieben westliche Agenten ihr Unwesen und versuchten, DDR-Bürger zu rekrutieren. Man kann also bestenfalls die harte und teils unreflektierte Vorgehensweise der Stasi beklagen, nicht aber ihre Existenz.
Und schließlich hatten auch die ökologischen Verwerfungen ihre Ursache. Die kleine DDR, wirtschaftlich weitgehend abgeschnitten vom übergroßen kapitalistischen Rest der Welt, musste notgedrungen erst einmal zusehen, wie sie mit eigenen Ressourcen 17 Millionen Menschen versorgen konnte, während sie zugleich dem Kalten Krieg etwas entgegensetzen musste. Hinzu kommt: Technologie, Wissenschaft und Umweltbewusstsein waren damals weder in Ost- noch in Westdeutschland so weit entwickelt wie heute.
Die richtige Kritik mit Blick auf die Umstände
Es ist also reine Propaganda, die ökonomischen Probleme und ökologischen Verwerfungen dem Versuch, einen sozialistischen Weg einzuschlagen, in die Schuhe zu schieben. Man mag kritisieren, dass die Stasi im eigenen Land teilweise tatsächlich sehr brutal vorging. Man muss den Schießbefehl eindeutig anprangern sowie die Abkehr von halbwegs demokratischen Bedingungen. Ja, die Arbeiterklasse wurde von der Führung, anders als stets gepredigt, so gut wie gar nicht einbezogen. Und das war ein Problem.
Und es gab noch mehr Probleme: Die autoritäre Erziehung, die in den 40 Jahren nicht überwunden werden konnte – und wahrscheinlich auch nicht sollte – zum Beispiel. Die mangelnde Aufklärung über ökonomische Missstände ebenso. Es scheint, als war den meisten DDR-Bürgern am Ende nicht mehr klar, wofür sie die DDR erhalten sollten. Fehlendes Wissen lenkt den Fokus auf Oberflächlichkeiten. So war es während des sozialistischen Versuchs, so ist es im aktuellen realkapitalistischen Wahnsinn. Kurzum: Die DDR hat offenbar vergessen, ihre Bürger mitzunehmen. Sie ist ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden.
Die ersten Bürgerrechtler, die die Montagsdemonstrationen 1989 ins Leben gerufen hatten, wollten aber keineswegs die DDR beseitigen. Sie wollten sie reformieren. Und paradoxerweise war es der Fall der Mauer, der Massen in eine Art Konsumwahn versetzte. Kaum war die Grenze offen, pilgerten Schwadronen von Propagandisten – von der West-CDU bis hin zur NPD – in den Osten. Im irrationalen "Bruder- und Konsum-Taumel" begann die Menge, mit ihnen gemeinsam nach der D-Mark zu brüllen.
Die Eigentumsfrage: Weg vom Profit, hin zum Bedarf
Doch Mandarinen im Herbst, Erdbeeren im Winter und Bananen das ganze Jahr über sind nicht alles, was ein Mensch zum Leben braucht. Wenn die Menschen heute einen dritten imperialistischen Weltkrieg, der wirtschaftlich schon lange tobt, verhindern wollen, wenn sie die dem kapitalistischen Wachstumswahn geschuldete ökologische Ausplünderung sowie damit einhergehende Massenverelendung und Flüchtlingsströme stoppen wollen, kommen sie nicht darum herum, die Eigentumsfrage zu stellen.
Nur eine Wirtschaft, die auf Bedarf statt Profitmaximierung ausgerichtet ist, kann die gegenwärtigen wachsenden Verwerfungen beseitigen. Dafür muss sie aber allen und darf nicht Einzelnen gehören. Nur ein System mit einer ökonomischen und ökologischen Grundlage, die niemanden ausgrenzt, die nicht auf Egomanie und permanenter Konkurrenz beruht, die es jedem erlaubt, sich nach seinen Fähigkeiten einzubringen und keinem die Existenz zerstört, wäre in der Lage, dauerhaften Frieden zu schaffen. Aus den Fehlern der gescheiterten realsozialistischen Experimente sollte man dabei lernen. Und die fußen gerade nicht auf der Enteignung der Profiteure.
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