Marshall–Plan: Uneigennütziges Hilfsprogramm oder US-Strategie zur Unterwerfung Westeuropas?

Anton Latzo

Zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Westeuropas nach dem 2. Weltkrieg vergaben die USA im Rahmen des Marshall-Plans milliardenschwere Kredite. Dabei war der Marshall-Plan keinesfalls ein uneigennütziges Hilfsprogramm der USA, als der er heute oft dargestellt wird.

von Prof. Dr. Anton Latzo

Der Marshall-Plan wurde nach dem damaligen Außenminister der USA, George C. Marshall, benannt. Der betonte in einer Rede in der Harvard-Universität am 7. Juni 1947 die "Uneigennützigkeit" der USA und erklärte, damit europäische Länder, die in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten waren, bei der wirtschaftlichen Wiederherstellung unterstützen zu wollen. Bedeutende Teile der Wirtschaftseliten in den kapitalistischen Staaten Westeuropas begrüßten die Vorschläge. Ihr eiferten die Führer der rechten Sozialdemokratie nach. Er wurde am 5. März 1948 vom USA-Kongress angenommen und trat am 8. April 1948 in Kraft.

Der wahre Charakter dieser Vorschläge wird deutlich, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass die Sowjetunion, die die größten menschlichen und materiellen Verluste des Zweiten Weltkrieges getragen hat, in den Jahren 1945, 1946 und im Frühjahr 1947 in  den USA vergeblich nach einem langfristigen Staatskredit angefragt hatte,  für den US-amerikanische Waren und Industrieausrüstungen an die UdSSR geliefert werden sollten. Auf amerikanischer Seite gab es dazu aber kein positives Echo.

Die USA wollten ihr wirtschaftliches Potenzial keineswegs für eine gleichberechtigte Zusammenarbeit mit anderen Staaten nutzen. Dafür spricht unter anderen die Tatsache, dass bereits 1946 die Zustimmung für eine große Anleihe für Großbritannien im Kongress der USA mit der Begründung gegeben wurde, dass sie die Möglichkeiten für den Einsatz Großbritanniens im Kampf gegen die Sowjetunion verstärkt. In der Debatte im US-amerikanischen Kongress erklärte der damalige Senator Wheeler unverblümt:

Soweit ich das übersehe, ist der einzige Sinn einer solchen Anleihe, die Engländer soweit zu stützen, dass sie den Kommunismus in Europa entmachten können. (Zit. nach: Geschichte der  sowjetischen Außenpolitik 1945 – 1970, Berlin 1971, S. 182)

Das als Europäisches Wiederaufbauprogramm (European Recovery Programm) bezeichnete Programm sollte "demokratische Stabilität" in den kapitalistischen Staaten hervorbringen, auf deren Grundlage der Wohlfahrtsstaat mit Hilfe der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie geschaffen werden sollte.

Die kommunistisch gesteuerten Gewerkschaften in Frankreich und Italien waren damals außerordentlich mächtig. Von daher war der Marshallplan ein entscheidendes Instrument, Westeuropa vor dem Kommunismus zu bewahren. ( Vgl. Steiniger, Rolf, Der kalte Krieg, 2004, S. 56f) 

Der Marshallplan ist bedeutendes Instrument bei der praktischen Ausgestaltung der mit der Truman-Doktrin konzipierten Politik der USA. Er hatte als Hauptziele, den beherrschenden wirtschaftlichen, politischen und militärischen Einfluss der USA in den vom Krieg zerstörten westeuropäischen Staaten zu sichern, den Aufschwung der in vielen Ländern beträchtlich zugenommenen revolutionären Bewegung zu verhindern, sowie die damals volksdemokratischen Länder in Osteuropa von der UdSSR zu trennen und wieder auf den kapitalistischen Entwicklungsweg zurückzuführen. Es ging darum, in ganz Europa die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der wirtschaftlichen Eliten, der großen Unternehmen, aufrechtzuerhalten.

Es ist auch heute noch nützlich, sich die Botschaften von Truman und Marshall zu vergegenwärtigen, um den  wirklichen Sinn auch der aktuellen Politik der USA zu erkennen, die die Weltmacht zum Ziel hat.  Truman forderte die rückwärtsgewandten politischen Kräfte der europäischen Länder auf, die "nationalen Vorurteile" in diesen Ländern zu zerstören, die nationalen Traditionen dieser Völker zu verbannen und die Politik der Diversion und Aggression als "Verteidigung der freien Welt" zu betrachten.

Das ideologische Manifest dafür wurde von Winston Churchill in seiner Fulton-Rede im März 1946 öffentlich verkündet. Darin sprach er als erster von einem "Eisernen Vorhang" und forderte die offensive Bekämpfung der Sowjetunion. Nur ein Jahr zuvor, im Februar 1945, stellte er noch fest:

Die Rote Armee feiert ihren 27. Jahrestag in einer Situation von Siegen, die die grenzenlose Begeisterung ihrer Verbündeten hervorgerufen und das Schicksal des deutschen Militarismus entschieden haben. Die künftigen Generationen werden sich ebenso vorbehaltlos der Roten Armee verpflichtet fühlen wie wir, die wir Zeugen dieser großangelegten Heldentaten sind. (Zit. nach: Geschichte der Außenpolitik …, S. 19)

Das geostrategische Konzept entwickelte US-Präsident Truman in seiner Rede vom 12. März 1947 vor dem US-Kongress. Schon kurz nachdem er Präsident der USA geworden war, erklärte er unzweideutig, dass "der Sieg dem amerikanischen Volk die ständige Verantwortung für die Führung der Welt übertragen hat. … wir können keine Veränderungen im Status quo zulassen." (Public Papers of the President of the United States, 1961, S. 549)

Walter Lippmann, intimer Kenner der Materie, schrieb:

Wir haben die Türkei und Griechenland nicht deshalb ausgewählt, weil sie besonders hilfsbedürftig sind, und auch nicht deshalb, weil sie glänzende Muster für Demokratie sind, sondern weil sie das strategische Tor darstellen, dass ins Schwarze Meer führt, in das Herz der Sowjetunion. (W. Lippmann, The Cold War, New York 1947, S . 29f)

Polizeidienst an den Grenzen Russlands

Und der ehemalige Vizepräsident der USA in der Regierung von Franklin D. Roosevelt, Henry A. Wallace, beschrieb die Ziele der USA so: "Truman hat praktisch vorgeschlagen, daß die Amerikaner einen Polizeidienst entlang aller Grenzen Russlands ausüben." (Prawda, 15.3.1947) Es ist zu berücksichtigen, dass zur damaligen Zeit die USA das einzige Land waren, das über Atomwaffen verfügte, die sie kurze Zeit vorher gegen Japan sogar eingesetzt hatten!

Die offene Aggressivität der Truman Doktrin und des Marshallplanes sowie ihr expansionistischer Charakter konnten auch dadurch nicht unsichtbar gemacht werden, dass die Außenminister von Frankreich und Großbritannien die Sowjetunion einluden, an einer gemeinsamen Konferenz übe die Vorschläge des Marshalls teilzunehmen. Man spekulierte offensichtlich damit, der Sowjetunion eine Tür zu öffnen, durch die sie nicht gehen wird. Am 22. Juni 1947 teilte die sowjetische Regierung aber mit, dass sie teilnehmen will.

In den Direktiven für die sowjetische Regierung wurde jedoch festgestellt:

Bei der Erörterung aller konkreten Vorschläge, die eine amerikanische Hilfe für Europa betreffen, muss die sowjetisch Delegation Einspruch gegen solche Bedingungen erheben, die eine Beeinträchtigung der Souveränität der europäischen Staaten oder eine Verletzung ihrer ökonomischen Selbständigkeit nach sich ziehen können. (Zit. nach: Geschichte Außenpolitik der Sowjetunion 1945-1970, S. 184)

Da sich die Vertreter der Westmächte weigerten, solchen Grundsätzen zu folgen und die dem entsprechenden Vorschläge zu beraten, verzichteten nicht nur die UdSSR, sondern auch Albanien, Bulgarien, Ungarn, Polen, Rumänien, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Finnland auf eine Beteiligung am Marshallplan.

Dieser sah vor, bis 1952 "Auslandshilfe" in Höhe von bis  zu 17,8 Mrd. Dollar zu gewähren. Er war auf diejenigen europäischen Staaten begrenzt, die der Truman-Doktrin zustimmten und sich im Kampf gegen die Sowjetunion und die volksdemokratischen Staaten aktiv einreihten. Damit war ein weiterer Schritt zur Trennung Europas getan.

Marshall-Plan als Grundlage für die NATO

Mit dem Marshall-Plan wurde ebenso die ökonomische Plattform für die Politik der USA geschaffen, die zur Gründung der NATO führte. Eine besondere Rolle wurde mit dem Marshall-Plan der Wiederherstellung der alten Großkonzerne und des Militarismus in Deutschland zugeschrieben. Nur 20 Tage nach der Rede Marshalls in Harvard über die USA-"Hilfe" erklärte sein Nachfolger im Amt, Dean Acheson, vor dem Repräsentantenhaus, dass die US-Regierung die Aufgabe, die deutsche Industrie wiederherzustellen, als Grundlage des Marshall-Planes betrachtet. (Vgl. Geschichte sowjetischer Außenpolitik…, S. 187)

Auch Konrad Adenauer hob in seinen "Erinnerungen" von 1965 hervor, dass eines der Hauptelemente  des Marshall-Planes von Anfang an darin bestand, mit Hilfe amerikanischen Kapitals - trotz der Einsprüche Frankreichs - die Schwerindustrie und besonders die Produktion von Stahl und Stahlerzeugnissen in Westen Deutschlands wiederherzustellen. (S. 114) Die Übereinstimmung ist nicht zu übersehen!

Bereits am 15. April 1945, also drei Wochen vor Beendigung des Krieges in Europa und vier Monate vor dem Potsdamer Abkommen, berieten im Außenministerium  der USA Experten, darunter auch der spätere Außenminister John F. Dulles, über die Nachkriegsentwicklung unter Berücksichtigung der künftigen Rolle Deutschlands. Man beschloss, Deutschland wieder aufzubauen und dann zu remilitarisieren. Deutschland sollte zu einem "Bollwerk gegen Russland" gemacht werden. (Vgl.: IMI-Analyse 2005/18)

Dabei musste nicht nur auf die deutschen Generäle im Dienste des Faschismus als Berater zurückgegriffen werden, sondern auch die deutsche Wirtschaft, die deutsche Rüstungsindustrie wieder funktionsfähig gemacht werden. Es wurde besonders die Macht der Schwer- und Chemieindustrie sowie der Banken abgesichert. Krupp, Klöckner, Thyssen, Mannesmann, Haniel, Hoesch spielten erneut eine wesentliche Rolle. Der Marshall-Plan hat wesentliche Anschubhilfe geleistet. Adenauer rühmte sich in einer Rede, die er am 9. Juli 1952 im Bundestag hielt, dass Westdeutschland 12,5 Milliarden D-Mark an "Wirtschaftshilfe" von den USA erhalten habe.

Und Tatsache ist, dass die gesamte Wirtschaft sich deutlich belebt hat. Nicht zuletzt trat eine erste Belebung der Außenwirtschaftsbeziehungen zu den kapitalistischen Staaten ein. Aber Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft, die auch Verbesserungen im Lebensalltag brachte, hieß vor allem Wiederaufbau der deutschen Monopole mitsamt ihren Zielen und ihrer Politik, die sich daraus ergaben, dass sie seit ihrer Existenz immer "aufholen" und andere in Konkurrenz verdrängen musste. Dafür brauchte Adenauer und brauchten auch die USA lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb.

Es gab auch eine Verbesserung in den Lebensbedingungen. Diese wurden aber missbraucht, um die ideologische Grundlage für eine Politik zu schaffen, die zur Spaltung Deutschlands, zur Bindung an die USA und zur Verhinderung einer Alternative zu den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen führte. Er schuf die materielle Grundlage für die Wiederkehr der Fabrikantendynastien. Diese haben sich nicht verrechnet. Mit dem Marshall-Plan wurde vollzogen, was IG-Farben-Mann und SA-Hauptmann Georg von Schnitzler schon bei der Begrüßung der US-amerikanischen Besatzungsvertreter in der Zentrale der IG Farben voraussagte:

Meine Herren, es wird mir ein aufrichtiges Vergnügen sein, wieder mit Ihnen zusammenzuarbeiten.

Seinen Interessen und seiner Rolle als Bollwerk gegen die östliche Besatzungszone Deutschlands, gegen die Sowjetunion und den Osten Europas konnte den deutschen Großkonzernen nur genügen, wenn die alten deutschen Offiziere und Generäle samt ihrer aggressiven Ideologie wieder in Amt und Würden gehoben sind. Dazu musste Deutschland gespalten werden!

Mit der "Hilfe" der USA wurden die Völker Europas und das deutsche Volk hilflos gemacht!

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