Focus online und marktradikaler Ökonom auf Sündenbock-Suche

Susan Bonath

Länger arbeiten, weniger Sozialstaat, unproduktive Migranten raus und überhaupt: Armut in Deutschland sei nur gefühlt, aber das Bild vom reichen Deutschland gleichzeitig nur ein Märchen. Makroökonom Daniel Stelter beeindruckt mit marktreligiöser Pseudoexpertise und Propaganda.

von Susan Bonath

Makroökonomen haben im Kapitalismus ihre Daseinsberechtigung. Behände versuchen die "Wissenschaftler" im Auftrag wirtschaftlicher und politischer Profiteure, dem Volk ihre irrationale Marktreligion als alternativlos zu verkaufen. Daniel Stelter bedient im Focus-Interview nicht nur den unsinnigen Vergleich eines Staatshaushalts mit Oma Ernas Geldbörse. Geschickt würfelt er Profiteure und einfache Bevölkerungsmehrheit zusammen und bedient den neoliberalen Mythos vom "Kuchen", der erst wachsen müsse, damit für "die da unten" mehr abfallen könne. Zudem schürt er die rassistische und sozialdarwinistische Spaltung innerhalb der unterdrückten Klasse und begibt sich auf billige Sündenbock-Suche. Letzteres ist ein seit Jahrhunderten funktionierendes Instrument der Oberschicht zur Erhaltung ihrer Herrschaft.

Schuldumkehr 

So fabuliert Stelter, die Zunahme der Armut lasse sich "ganz einfach durch den höheren Anteil an Migranten erklären". Dafür müsse man nur den "einfachen Dreisatz" beherrschen. Und er erklärt: In der Türkei etwa liege das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf bei nur 10.000 US-Dollar pro Jahr, da fühlten sich die Einwanderer doch mit deutschem Hartz IV gar nicht arm.

Was er verschweigt: Aufschluss über den allgemeinen Lebensstandard gibt nur das kaufkraftbereinigte BIP. Das liegt in der Türkei pro Kopf weitaus höher. So betrug es 2017 rund 27.000 US-Dollar und lag damit knapp halb so hoch wie in Deutschland. Dies gibt aber weder Aufschluss über die Lebensrealität von Hartz-IV-Beziehern, noch beinhaltet es irgendeinen ernstzunehmenden Vergleich der Lage der Ärmsten in den jeweiligen Ländern. Letztere ist eine Frage der Verteilung.

Besonders deutlich wird die Verteilungsungleichheit, wenn man bedenkt, dass alle Wirtschaftsbranchen weltweit jedes Jahr gigantische Mengen an Überproduktion vernichten, um die Preise hoch zu halten. Einfach ausgedrückt: Die Wirtschaft produziert längst genug für alle, nur gehört sie eben nicht allen, und immer mehr Menschen haben mangels Kaufkraft keinen Zugang dazu. Stelter betreibt billige Schuldumkehr. 

Verteilung nach oben

Auch ein Blick auf die Verteilung in Deutschland hilft: Im vergangenen Jahr sind allein die privaten Geldvermögen dort laut Bundesbank um 76 Milliarden auf über sechs Billionen Euro gestiegen. Dabei besitzen die 45 reichsten Deutschen so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Befeuert wird diese Entwicklung durch die kapitalistische Konkurrenz, die Profiteure zu steter Profitmaximierung zwingt, zur Konzentration von Reichtum in immer weniger Händen führt und Bank- und Industriekapital miteinander und mit dem Staat verschmelzen lässt, was gleichwohl Kleinkapitalisten in die Pleite treibt. 

Dieses angebliche Phänomen ist logische Folge der – im Übrigen von Beginn an global ausgerichteten – kapitalistischen Produktionsweise. Die Nationalstaaten fungieren dabei als territoriale Manager selbiger. Sie sorgen dafür, dass Lohnabhängige sich freiwillig ausbeuten lassen und nicht auf die Barrikaden gehen.

So zwingen beispielsweise deutsche Jobcenter Menschen unter Androhung existenzgefährdender Sanktionen in den wachsenden Niedriglohnsektor. Natürlich sind dem nicht nur einheimische Lohnabhängige unterworfen, auch Migranten trifft es. Und sehr wahrscheinlich werden sie sich noch williger diesem Diktat unterwerfen. Die Alternative für sie wären schließlich noch weitaus schlechtere Bedingungen in ihrer Heimat. Sie sind also nicht Ursache der global wachsenden sozialen Ungleichheit, sondern Folge. Und die deutsche Industrie benutzt sie genauso wie einheimische Lohnabhängige auch.

Stelter bedient hier eine bekannte Demagogie: Er suggeriert, dass die Opfer aggressiver imperialistischer deutscher Wirtschaftspolitik zugunsten der wenigen ihren Reichtum mehrenden Profiteure den Sozialstaat "ausplünderten", da viele Migranten eher als Einheimische auf Sozialleistungen angewiesen seien. Im Umkehrschluss bedient er ein widerliches Menschenbild: Für den Markt produktive Migranten sollen rein, denn sie sorgen schließlich für Profite, der Rest soll im Elend verharren. 

Der Staat als Dienstleister der Profiteure

Dementsprechend befeuert Stelter auch die Opferrolle der Mittelschicht. Die sei "gefrustet", weil der Staat ihr alles wegnehme. Nun, gefrustet ist sie sicher, und tatsächlich greift der Staat immer tiefer in ihre Taschen. Aber als Ökonom sollte er wissen, dass jeglicher Profit nur aus wertschaffender Arbeit stammt. Geld allein kann man auch heute nicht essen. Der Mensch lebt nach wie vor von realen Produkten.

Kurzum: Produktive Arbeiter schaffen Profit, indem sie ihren "Arbeitgebern" möglichst hohe Umsätze bescheren, daran aber nur marginal über den Lohn beteiligt werden. Die lediglich Profit realisierenden Branchen wie Banken, Handel, Transport und Werbeindustrie kassieren als Dienstleister nur ihren Anteil davon. Ebenso tut es der Staat als territorialer Manager des Spiels – natürlich im Auftrag der Profiteure.

Deutschland ist in diesem Sinne ein Dienstleistungsimperium. Mehr als zwei Drittel der Unternehmen sind laut Statistischem Bundesamt reine Dienstleister. Das heißt: Rohstoffe werden in Drittweltländern unter elenden Bedingungen gefördert, viele Grundprodukte unter selbigen dort hergestellt. In Imperien wie Deutschland erfolgt oft maximal die Endmontage, und es blühen Handel und Geldverleih. Profite werden massig abkassiert, nur landen diese in den Taschen der Kapitaleigentümer. Dank des Staates klappt das bestens.

Marktradikale Pseudologik 

Um der Armut entgegenzuwirken, etwa die Rententöpfe zu füllen, propagiert Stelter aber nicht nur die dumpfe rechte Parole à la "Unproduktive Migranten raus!" Er bedient sich einer weiteren so bekannten wie irrwitzigen marktradikalen Pseudologik:

Wir müssen zu einem System kommen, in dem die Menschen länger arbeiten. Und wir müssen konsequent auf Roboter und Automatisierung setzen, anstatt davor Angst zu haben.

Nur so könne, meint der Makroökonom, die Produktivität steigen, damit der Kuchen zum Verteilen größer werde. Dass der Kuchen längst groß genug für alle ist, die Besitzenden aber dummerweise fast alles für sich beanspruchen, es also an der Verteilung hapert, und dass schon heute gigantische Mengen an Überproduktion vernichtet werden, wurde oben bereits erklärt. Bekannt ist auch, dass ewiges Wirtschaftswachstum, wie Stelter es hier propagiert, auf einem begrenzten Planeten unmöglich ist.

Kampf gegen fallende Profitrate 

Hinzu kommt: Als Ökonom sollte Daniel Stelter auch wissen, dass ausgerechnet der Segen des technologischen Fortschritts die Gesamt-Profitrate, um die sich im Kapitalismus alles dreht, zu Fall bringt. Anders ausgedrückt: Der technologische Fortschritt torpediert den einzigen irrationalen Selbstzweck dieses Wirtschaftssystems, die Profitmaximierung.

Man kann es sich so vorstellen: Jedes Produkt besteht aus Rohstoffen und Arbeit. Je mehr menschliche Arbeit in ihm steckt, also je mehr Zeit diese beansprucht, desto höher ist sein Marktpreis. Maschinen und Computer sorgen hingegen für Massenproduktion. Sie erhöhen die Menge bestimmter Waren auf dem Markt mit gleichem Gebrauchszweck und verbilligen zugleich ihre Herstellung. Folglich sinken die Preise. 

Ein Beispiel: Kauft ein Unternehmer eine moderne Maschine, hat er zwar einen kurzfristigen Wettbewerbsvorteil und kann durch Steigerung der Produktivität bei gleichzeitiger Einsparung von Lohnkosten hohe Einzelprofite einfahren. Doch die Konkurrenz rüstet nach, derweil die überflüssig gewordenen Lohnarbeiter die Menge der Armen erhöhen. So sinken langfristig die Preise, wogegen nach marktradikaler Logik wiederum Warenvernichtung und künstliche Inflation wirken sollen, vor allem aber endloses exponentielles Wirtschaftswachstum. 

EZB-gesteuerte "Sonderkonjunktur"

Ein Gradmesser für den tendenziellen Fall der Profitrate sind die Zentralbanken. Ein Blick auf deren Geldpolitik zeigt: Fast alle Institute weltweit senken nach und nach ihren Leitzins. Es ist ein steter Fall zu sehen. Der Leitzins beziffert den Preis, den die Zentralbanken von den Banken für den Geldverleih an sie verlangen. Hohe Leitzinsen geben die Banken an ihre Kreditnehmer weiter. Kredite werden teurer. Sinkt der Leitzins, kommen sie billiger an Geld und geben auch dies weiter. Kredite und damit Investitionen werden billiger.

Sinkt nun insgesamt die Profitrate, werden Investitionen in neues Kapital unrentabler. Die Wirtschaft hält sich zurück, die Konjunktur flaut ab. Billige Kredite sollen sie wieder ankurbeln. Diesen Zusammenhang erklärt Stelter freilich nicht. Doch bezeichnet er das aktuell bejubelte deutsche Wirtschaftswunder durchaus zu Recht als "Sonderkonjunktur", angekurbelt durch die Europäische Zentralbank (EZB). Ihr Leitzins befindet sich bereits seit 2015 auf null. Ein Ende ist nicht in Sicht.

Teilen und herrschen 

Das zeigt vor allem eins: Die Produktivkräfte haben schlicht die kapitalistische Produktionsweise überholt. Letztere hat kein Mittel, um den Zwang zum Wirtschaftswachstum zu bremsen. Denn sie basiert auf dessen Ursachen: ökonomischem Privateigentum in ständiger Konkurrenz zueinander und dem daraus resultierenden Zwang zur Profitmaximierung. Genau daraus entsteht auch die Tendenz zur Kapitalkonzentration auf der einen und zur Verarmung auf der anderen Seite.

Selbstverständlich ist dieser Wahnsinn zum Scheitern verurteilt, mit oder ohne Migranten. Doch spätestens an dieser Stelle endet das Denken aller Makroökonomen. Sicher weiß diese systemisch wertvolle Klientel, dass der normale Bürger sich mit so etwas nicht befasst. So lassen sich trefflich ökonomische Märchen verbreiten sowie angestaute Aggressionen auf Sündenböcke um- und von den wahren Ursachen ablenken. Solange sich die Bevölkerung in Ausländer und Einheimische, Christen und Muslime, arm und reich, alt und jung, Frau und Mann spalten lässt, läuft die Profitmaschinerie – und zwar gegen sie.

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