Bundesregierung bemisst Existenzrecht anhand des Grades der Unterwürfigkeit

In Karlsruhe haben Verfassungsrichter  die Sanktionspraxis bei Hartz-IV-Leistungen verhandelt. Die Bundesregierung hatte  diese stets verteidigt. Sozialverbände hoffen auf ein Ende der Hungerstrafen. Doch bei den Ärmsten knausert die Bundesregierung bis zum letzten Cent.

von Susan Bonath

Die politische Klasse in Deutschland schanzt ihrer Unternehmer-Klientel gerne die Milliönchen zu. Die Milliardengräber Stuttgart 21 und BER lassen grüßen. Das Kanzleramt bekommt aktuell mal eben einen protzigen Zusatzbau für 460 Millionen Euro. Für Steuerhinterziehung im Großformat gibt es, wenn sie denn auffliegt, lächerliche Minimalstrafen. Der Rubel des Steuerzahlers rollt, in Aufrüstung, einen gigantischen bürokratischen Apparat und Subventionen für´s Großkapital.

Bei den Armen indes knausert die Bundesregierung bis zum letzten Cent. Wie hoch ist eigentlich das Minimum vom Minimum für die pure Existenz eines Menschen? Kann ein Mensch im spätkapitalistischen Arbeitshaus seine Existenz verwirken? Kann er – nämlich dann, wenn er sich nicht vollständig in dieses integriert. Anders kann man die Stellungnahme von Ulrich Karpenstein von der Anwaltskanzlei der Bundesregierung,Redeker Sellner Dahs, die er am Dienstag in Karlsruhe abgab, nicht verstehen.

Doch von vorn: Am Dienstag verhandelten die Bundesverfassungsrichter darüber, ob das Hartz-IV-Sanktionsregime – rund eine Million der insgesamt sechs Millionen betroffenen Leistungsbezieher sind übrigens Flüchtlinge – gegen die auf geduldigem Papier verankerten Grundrechte auf Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und freie Berufswahl verstößt. Vor Ort berichtete über die Verhandlung unter anderem der Jurist und Journalist Maximilian Steinbeis.

Das Existenzminimum

Der aktuelle Hartz-IV-Regelsatz für einen Alleinstehenden beträgt 424 Euro monatlich. Asylbewerber bekommen 70 Euro weniger, da ihnen Strom und Hausrat gestellt wird. Kinder unter sechs Jahren haben noch ein Anrecht auf 245 Euro Kindergeld, Unterhalt wird darauf und nötigenfalls auch auf die Leistungen der Eltern angerechnet.

Hartz IV ist eine Leistung auf dem Niveau der früheren Sozialhilfe, unter anderem berechnet aus den Verbrauchsausgaben der ärmsten 15 Prozent der deutschen Bevölkerung. Und dies mit vielerlei kleinkarierten Abzügen, etwa für Bücher, Stifte und Weihnachtsbaum. Hartz IV ist der Satz, den die Bundesregierung als physisches und soziokulturelles Existenzminimum bezeichnet.

Als solches deklarierten auch die Verfassungsrichter selbst diese Leistung, unter anderem 2010 in einem Urteil zur Regelsatzhöhe. Damals rügten sie, die Bundesregierung habe die Sätze intransparent und nicht schlüssig berechnet. Das holte sie über ein Jahr später nach – jedenfalls mehr oder weniger. Der Staat, so das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Urteil, habe dieses Minimum immer zu gewährleisten, es sei unverfügbar. Das gebiete die Menschenwürde. Wer dieses nicht habe, dem müsse der Staat es verschaffen.

Und doch kürzen die Jobcenter von Gesetzes wegen Jahr für Jahr rund eine Million Mal eben dieses Minimum – in Zehntausenden Fällen sogar bis auf null. 953.000 Sanktionen hagelte es 2017 gegen 420.000 Menschen. Das heißt: Von den rund 4,2 Millionen Erwerbsfähigen im Hartz-IV-Bezug – von denen übrigens nur 1,5 Millionen als erwerbslos erfasst sind – war jeder Zehnte betroffen, und dies teils doppelt und dreifach. Im Schnitt erhielt jeder Sanktionierte 2017 demnach 2,3 Strafen. Das entspricht einer Kürzungsdauer von sieben Monaten – für jeden Betroffenen.

Menschen brauchen mehr als Nahrung

Die meisten Sanktionen – 77 Prozent – betrafen Terminversäumnisse. Pro Einzelfall schwindet dann die Leistung um zehn Prozent. Wagt es jemand, eine Sinnlosmaßnahme oder einen Ausbeutungsjob abzulehnen, streichen Jobcenter beim ersten "Vergehen"  30, beim zweiten 60 Prozent der Regelleistung, beim dritten Mal fällt alles inklusive des Mietzuschusses weg. Bei 15- bis 24-Jährigen kappen sie bereits beim ersten "Regelverstoß"  für drei Monate die gesamte Leistung.

Nun stellt die Bundesregierung auf Nachfragen zum Existenzminimum gerne darauf ab, dass es ja Sachleistungen gebe. Damit meint sie Gutscheine für Lebensmittel, im Einzelfall und auf besonderen Antrag auch mal für Seife oder Zahnpasta. Doch das Gutscheinsystem hat Haken: Erstens beträgt der Gesamtwert dieser Leistungen maximal einen halben Regelsatz pro Monat, also gut 200 Euro. Zweitens müssen die Gutscheine aufwändig beantragt werden. Drittens muss das Jobcenter diese "Kann-Leistung"  nicht gewähren.

Viertens: Strom, Heizung, Telefonrechnung, Bus, Bahn sowie die Miete können  davon nicht bezahlt werden. Dabei deklarierten die Verfassungsrichter all dies sogar in mehreren Urteilen als zugehörig zum unbedingt sicher zu stellenden Existenzminimum. Menschen benötigen eben mehr als pure Nahrungsaufnahme. 

Massive Hürden bis nach Karlsruhe 

Zurück zur Verhandlung in Karlsruhe. Stattfinden konnte diese nur, weil das Sozialgericht im thüringischen Gotha die Sanktionspraxis 2015 als verfassungswidrig eingestuft hatte. Mit einer ersten Vorlage beim BVerfG scheiterte es wegen "Formfehler". Es erneuerte sie entsprechend und wandte sich 2016 erneut an Karlsruhe. Der Fall: Ein Kläger wurde einmal zu 30 und dann zu 60 Prozent sanktioniert, weil er erst ein Arbeitsangebot abgelehnt und ein zweites Mal einen Gutschein zur Probearbeit nicht eingelöst hatte.

Einfach war es nicht, mit dem Thema Sanktionen bis nach Karlsruhe durchzudringen. Wie der Sprecher des Gothaer Sozialgerichts, Jens Petermann, im Gespräch mit der Autorin sagte, brauchte es dazu einen "wasserdichten Fall". Man musste etwa haarklein beweisen, dass das Jobcenter Erfurt die beklagten Sanktionen auch wirklich nach Recht und Gesetz verhängt hatte. Deshalb dauerte es 14 Jahre, um bis zur höchsten Instanz durchzudringen. Zuvor hatte Karlsruhe Hunderte Verfassungsbeschwerden abgewiesen.

Existenzrecht nur für Untertanen?

Regierungsjurist Ulrich Karpenstein erklärte nun, befragt von den Richtern, das Paradox vom bis auf null minimierten Minimum recht abenteuerlich: Der bedürftige Mensch müsse seinen Anspruch auf das menschenwürdige Minimum durch eigene Mitwirkung erst verdienen, erklärte er etwa. Wenn also der Staat ihm entsprechende Pflichten auferlegt, z. B.  jedweden Job oder Maßnahme annehmen zu müssen, falle dies unter "Ausgestaltung eines Grundrechts" und sei nicht etwa ein Eingriff in selbiges. 

Somit füge nicht der Staat dem  – aus welchen Gründen auch immer – Bedürftigen die Gefährdung seiner Existenz zu, sondern der Bedürftige sich selbst, mahnte Karpenstein. Mehr noch: Gerade der Vorrang der Selbsthilfe folge aus dem Gebot der Menschenwürde. Laut verfassungsblog.de "staunte ein Teil der Richter nicht schlecht" . Berichterstatterin Susanne Baer wollte wissen, ob  der Anwalt damit etwa die Menschenwürde unter Abwägungsvorbehalt stelle. Hinter dieser könne aber keine Leistungsidee stehen. 

Und Richter Andreas Paulus habe wissen wollen, wo denn nun eigentlich das unerlässliche Minimum liege. "In der Verhältnismäßigkeit", so Karpenstein . "Mit welchem Ziel?",  kam die Nachfrage. Antwort: Ziel sei die Integration in den Arbeitsmarkt. Allein daraus ergebe sich die Untergrenze für das Minimal-Minimum. Heißt laut Karpenstein: Macht das Amt jemanden obdachlos, dann findet er "erst recht keinen Job mehr". Da werde die Sanktion dann "unverhältnismäßig". Trotzdem werden munter Wohnkosten gekürzt.

Die Idee der Bundesregierung lautet somit: Die vollständige Integration in die Tretmühle des Arbeitsmarktes, und sei es auch zu widrigsten Bedingungen, ist die einzige Pflicht der Lohnabhängigen. Wer hier kein absoluter Untertan sein will, hat sein Recht auf (seine)die pure Existenz verwirkt. 

Floskeln statt Fakten von der Regierung

Dann ging es stundenlang um Mitwirkungspflichten und darum, wie Sanktionen wirken und was sie überhaupt bringen. "Da stellte das Gericht durchaus eine gehörige Diskrepanz fest zwischen den Aussagen von Bundesregierung und Bundesagentur für Arbeit (BA) sowie den Aussagen von Sozialverbänden", sagte der Gothaer Sozialgerichtssprecher Petermann.

Während die Verbände von gravierenden Auswirkungen berichteten, von schweren psychischen Problemen wie Angst, Depressionen und Totalresignation bis hin zu Wohnungsverlust, Hunger und medizinischer Mangelversorgung, redeten BA und Regierungsvertreter die Realität schön. Von "es sind ja nur drei Prozent betroffen" (was, wie oben ausgeführt, nicht stimmt) bis "es gibt ja Sachleistungen" (die eben nicht das Minimum abdecken) war alles dabei. Und außerdem bewirkten Sanktionen ja tatsächlich Arbeitsaufnahme. 

Dies aber habe die Bundesregierung niemals untermauern können, mahnte Verfassungsrichterin Gabriele Britz an. Sie jedenfalls habe von dieser Seite, vor allem zu den hohen Sanktionen  von mehr als 30 bis zu 100 Prozent, "klare, belastbare Zahlen nicht gehört".

Die Bundesregierung war nun auch persönlich anwesend, in persona Arbeitsminister Hubertus Heil und BA-Chef Detlef Scheele (beide SPD). Die ehemalige Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann (Die Linke) sagte, Scheele habe die Sanktionen in Karlsruhe verteidigt und sogar behauptet, die Sachbearbeiter im Jobcenter seien dazu befähigt, psychische Probleme zu erkennen. Alles Ärzte? Nein, aber es gebe ja einen amtseigenen psychologischen Dienst. Heil habe, nach Aussagen weiterer Verfahrensbeobachter, zwar geäußert, dass er ja gerne "was machen"wolle. Doch  gebe es dafür "keine politischen Mehrheiten".

Vom Täter zum Richter

Das Urteil indes ist erst in einigen Monaten zu erwarten. Der Senat will nun darüber beraten. Vertreter von Sozialverbänden spekulierten nach der Verhandlung verhalten optimistisch. Karlsruhe werde wohl den Totalentzug von Leistungen und Kürzungen bei den Wohnkosten verbieten, hieß es. Und das unzureichende Gutscheinsystem, das jeder Berechnungsgrundlage entbehrt und nach Ermessen verweigert werden kann, könnte demnach zur Debatte stehen. Ein weiterer Streitpunkt im Gerichtssaal sei die Mitbetroffenheit von Familienangehörigen gewesen. So leiden unter einer Sanktion zwangsläufig auch etwa die Kinder.

Allerdings sollten die Hoffnungen nicht zu hoch geschraubt werden. Denn dem 1. Senat, der am Dienstag verhandelte, steht seit Dezember ausgerechnet der ehemalige CDU-Abgeordnete Stephan Harbarth vor. Im November war dieser direkt aus dem Bundesparlament nach Karlsruhe gewechselt. Er ist Vizepräsident des BVerfG und soll in zwei Jahren den Präsidentenstuhl  von Andreas Voßkuhle erklimmen.

Als CDU-Abgeordneter verteidigte er von 2009 bis 2018 die Sanktionen vehement. Zuletzt stimmte er im Juni 2018 für deren Beibehaltung. Auf den Vorwurf der daraus resultierenden möglichen Befangenheit, den die Linkspartei kurz vor der Verhandlung geäußert hatte, reagierte er aber nicht. Harbarth muss nun gemeinsam mit dem Senat über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes entscheiden, das er bisher selbst verteidigte.