Impfpflicht für Pflegekräfte: Planlos in die Versorgungskatastrophe?

Susan Bonath

Die ab Mitte März geltende Corona-Impfpflicht für das Personal in Gesundheitsberufen könnte dazu führen, dass Senioren, Pflegebedürftige und Patienten nicht mehr ausreichend versorgt werden können. Es gibt erste Anzeichen für eine Kündigungswelle. Einen Notfallplan hat die Regierung offenbar nicht.

von Susan Bonath

Die Personaldecke ist auf Kante genäht, schon wenige krankheitsbedingte Ausfälle in einem Pflegeheim, einem ambulanten Dienst oder einem Krankenhaus können einen Notstand auslösen. Das ist seit vielen Jahren bekannt. Nun haben bereits die Corona-Maßnahmen das sinnbildliche Fass vielerorts immer wieder zum Überlaufen gebracht; die Mängel in der Branche werden immer eklatanter. Doch mit der vom Bundestag im Eiltempo beschlossenen Corona-Impfpflicht könnten viele Bedürftige und Erkrankte bald ohne Versorgung dastehen. Es gibt bereits Anzeichen für eine bevorstehende Kündigungswelle. Wie sollen diese Folgen abgefedert werden? Die Bundesregierung hat das offenbar nicht bedacht.

"Nehmen letztlich Todesfälle in Kauf"

"Allein von unserem Pflegeteam werden mindestens vier, vielleicht auch sechs Pflegekräfte kündigen oder sich kündigen lassen", berichtete ein Altenpfleger aus Sachsen-Anhalt, der seinen Namen nicht öffentlich nennen will, im Gespräch mit der Autorin.

"Das wäre die absolute Katastrophe für viele pflegebedürftige Menschen, die man doch angeblich schützen will", resümierte er.

Schon vor Corona habe seine Crew mit Personalnot gerungen. In den letzten beiden Jahren hätten ständig wechselnde Pandemie-Maßnahmen viele Beschäftigte zur endgültigen Aufgabe des Berufs bewogen. "Das war der Stress, der Druck von oben, die erzwungene Isolierung, die vielen alten Menschen den letzte Lebensfreude genommen hat – und jetzt kommt die Impfpflicht hinzu." Auch der Pfleger ist nun auf der Suche nach einer neuen Arbeit. Er will sich "nicht von oben erpressen lassen".

Hubertus Seidler von der SWB Wohnstift Betriebsgesellschaft befürchtet Ähnliches. In drei von 18 Altenheimen, die sein Unternehmen betreibt, hat er eine Umfrage mit erschreckendem Ausgang gemacht, wie er gegenüber derWelt berichtete. Demnach planen mindestens fünf Prozent der Beschäftigten, wegen der Impfpflicht ihren Arbeitsplatz zu kündigen. Weitere Pflegekräfte, die sich nicht impfen lassen wollen, könnten zu dem auf eine Kündigung vom Unternehmen warten, um dann vor das Arbeitsgericht zu ziehen.

Bei vielen ambulanten Pflegediensten dürfte es nicht anders aussehen. Die Politik habe offenbar die Folgen der Einführung der Impfpflicht nicht bedacht, kritisierte Petra Lebelt, Pflegegruppenleiterin im ambulanten Dienst FÖV in Berlin Spandau, gegenüber der Berliner Zeitung. Ihre Sozialstation versorgt demnach etwa 300 Bedürftige zu Hause. Rund ein Viertel der 64 Mitarbeiter sei ungeimpft und denke darüber nach, den Beruf aufzugeben. Ihr Pflegedienst müsste dann etwa 60 Betroffenen die Versorgung kündigen. Das wird in ihren Augen schwere Folgen haben.

Denn dann wären Angehörige der Bedürftigen gezwungen, die Pflege zu übernehmen, dafür ihre Arbeitsplätze aufzugeben, was den sozialen Frieden belaste, so Lebelt. "Wenn das Ziel einer Impfpflicht ist, die vulnerablen Gruppen zu schützen, wird dieses Ziel sicher nicht erreicht", blickte sie gegenüber der Zeitung voraus. Der Gesetzgeber riskiere damit, dass viele Tausende Vulnerable kurzfristig nicht mehr versorgt werden können. Damit nehme die Politik letztlich auch Todesfälle in Kauf.

Caritas will "Impfpflicht für alle" gegen Personalflucht

In Südbaden rechnet der Vorstandsvorsitzende des Caritas-Verbandes Schwarzwald Baar, Michael Stöffelmeier, damit, dass mindestens zehn Prozent des Personals in seinen dortigen Pflegeheimen Mitte März kündigen. Als Gründe nannte er gegenüber dem SWR eine extreme Arbeitsbelastung und die Furcht, dass ihnen die Impfung durch Nebenwirkungen mehr schadet als nützt.

Caritas-Sprecherin Mathilde Langendorf sagte auf Anfrage der Autorin, ihr Verband könne auf Bundesebene nicht abschätzen, wie groß die Kündigungswelle werden könnte und ob sich überhaupt eine abzeichnet. Die etwa 6.000 einzelnen Caritas-Träger mit rund 700.000 Beschäftigten arbeiteten autonom und eine Stelle, an die sie ihre Personalvorgänge melden könnten, gebe es nicht. Sie wisse nur, dass "Einrichtungsleiterinnen und -leiter vermehrt die Sorge äußern, dass die auf Gesundheits- und Pflegeberufe bezogene Impfpflicht das Personal spaltet", erklärte sie. "Vereinzelt" hätten Beschäftigte die Absicht geäußert zu kündigen. Grund sei – neben der Impfpflicht – aber "auch die extrem hohe emotionale und physische Arbeitsbelastung".

Der Caritas-Vorstand sieht demnach zwar einen seit langem bestehenden "eklatanten Mangel an Kolleginnen und Kollegen", der es "zunehmend schwierig und ab einem gewissen Punkt unmöglich macht, Senioren und Behinderte in Einrichtungen zu betreuen". Er fordert aber keineswegs die Rücknahme der Impfpflicht, um eine Verschärfung des Notstandes zu verhindern. Im Gegenteil: Die allgemeine Impfpflicht für die gesamte Bevölkerung soll her. Denn dann, so die Erklärung, wäre das Personal nicht mehr gespalten, weil sich dann ohnehin alle impfen lassen müssten. Langendorf sagte:

"Es darf grundsätzlich nicht sein, dass die Verantwortung für die Bekämpfung der Pandemie auf bestimmte Gruppen abgewälzt wird – und auch noch gerade die Gruppen, die seit nunmehr fast zwei Jahren am meisten gefordert sind. Alle müssen dazu beitragen, das Virus zu stoppen."

Einem Bericht des Bayerischen Rundfunks zufolge sehen auch andere Sozialverbände, die auch in der Pflege aktiv sind, die allgemeine Impfpflicht für jedermann als Ausweg aus dem Dilemma. In einigen Einrichtungen liege die Impfquote beim Personal bei nur 70 Prozent, heißt es. Neben der Caritas kündigten demnach die Arbeiterwohlfahrt (AWO) und die Diakonie bereits Mitte Dezember an, bei der Pflegekasse eine sogenannte Überlastungsanzeige zu stellen. Damit sichern sich etwa Träger von Heimen ab, nicht belangt zu werden, weil sie eine adäquate Versorgung nicht mehr sicherstellen können.

Bundesagentur für Arbeit: Mehr Arbeitslosmeldungen als sonst

Laut Magdeburger Volksstimme gibt es bei den Arbeitsagenturen in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen bereits Hinweise darauf, dass Pflegekräfte und andere medizinische Angestellte wegen der anstehenden Impfpflicht ihren Beruf verlassen werden. Diese registrierten bereits vermehrt Arbeitslosmeldungen zum 15. März, dem Stichtag, an welchem nicht geimpftes Personal unbezahlt freigestellt werden soll.

Christian Weinert, Sprecher der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Nürnberg, erklärte allerdings auf Anfrage der Autorin zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei es "schwierig, eine konkrete Zahl von erwarteten Kündigungen zu nennen". Denn der Arbeitsmarkt sei schließlich "immer in Bewegung". Erste Hinweise auf vermehrte Personalflucht aus Pflegeberufen gebe es allerdings dennoch.

Üblicherweise, so Weinert weiter, meldeten sich im Dezember etwa 600 Pflegekräfte weniger arbeitssuchend als im November. Im zurückliegenden Monat allerdings habe seine Behörde im Gegenteil einen Anstieg um 300 Meldungen verzeichnet. Ob es einen Zusammenhang zur Impfpflicht in der Pflege gebe, sei noch unklar. Einerseits erfasse die BA solche Daten nicht. Andererseits seien seriöse Schätzungen noch nicht möglich, weil das Gesetz erst am 10. Dezember beschlossen wurde, mahnte er. Der "statistische Zähltag" war demnach bereits der 13. Dezember. Man müsse also die Zahlen für Januar und Februar abwarten.

Regierung ohne Plan?

Sicher ist bislang eins: Die berufsbezogene Impfpflicht wird zu einem weiteren Schwund an Arbeitskräften in Pflegeheimen, Kliniken, ambulanten Betreuungsdiensten, Arztpraxen, bei der Behindertenhilfe und anderen sozialen Einrichtungen führen. Das dürfte ausgerechnet jene vulnerablen Menschen in Not bringen, welche die Bundesregierung mit der Impfpflicht angeblich vor Corona schützen will.

Hat die Regierung vor der Verabschiedung des Gesetzes durch Bundestag und Bundesrat die möglichen Folgen der Impfpflicht analysiert, also beispielsweise Umfragen in Kliniken und Einrichtungen vornehmen lassen? Hat sie Vorkehrungen getroffen, um Schaden von Pflegebedürftigen und Kranken abzuwenden? Mit welchem Ausmaß an Kündigungen rechnet sie eigentlich? Das wollte die Autorin vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) unter Minister Karl Lauterbach (SPD) wissen.

BMG-Sprecher Sebastian Gülde räumte auf Nachfrage ein, sein Haus verfüge über keinerlei Daten darüber, wie viele Pflegekräfte ihre Arbeitslosigkeit ab Mitte März bereits angemeldet hätten. Das BMG stehe aber "in engem Kontakt mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales", dem die BA untersteht.

Auf die Frage nach einem Notfallplan zum Sicherstellen der Versorgung antwortete er ausweichend, in Kurzform: Das BMG stelle den Schutz Pflegebedürftiger sicher, in dem sie nur von geimpften oder genesenen Personen gepflegt werden dürfen. Die Impfpflicht habe man gerade auch deshalb eingeführt, weil die Impfquoten beim Personal in medizinischen Einrichtungen teilweise sehr niedrig seien. Gülde zufolge blickt das BMG den Folgen gelassen entgegen. Er sagte:

"Das BMG geht nicht davon aus, dass eine Regelung, die den Schutz vulnerabler Personengruppen stärken soll und kann, zu Kündigungen von Pflege- und Betreuungspersonal in größerer Zahl führt. Dies entspricht auch nicht den Erfahrungen in anderen Ländern."

Mit den "anderen Ländern" kann Gülde jedenfalls nicht Italien oder die USA meinen. Wie der österreichische Kurier bereits vor einem Monat berichtete, leiden italienische Kliniken unter massivem Personalmangel durch die Impfpflicht. Einige fordern daher, ungeimpftes Personal zurückholen zu dürfen. Auch in den USA litten Kliniken unter einer Kündigungswelle von nicht impfwilligen Ärzten und Pflegekräften, wie unter anderem die Welt berichtete. Etliche Krankenhäuser sollen dort die Geschassten bereits wieder eingestellt haben.

Das BMG will aber die Bedürftigen und deren Angehörigen selbst in die Pflicht nehmen, wenn es zu Versorgungsengpässen kommt. Sie könnten, sofern ihnen ein Pflegegrad ab Stufe 2 anerkannt wurde, einen Antrag auf Kostenerstattung in Höhe der ambulanten Sachleistungsbeträge stellen. Befindet die Kasse, dass tatsächlich ein eklatanter Versorgungsmangel besteht, könne sie dem Betroffenen das Geld nach eigenem Ermessen auszahlen. Dieser wiederum müsse sich damit selbst um Hilfe kümmern. Doch was passiert, wenn sie niemanden finden? Nach einem Plan, der die Versorgung sicherstellt, klingt das nicht.

Winzige Hintertür im Gesetz?

Für Pflegepersonal könnte es allerdings eine Hintertür geben. Wie das Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte (KriStA) ausführt, lässt das Infektionsschutzgesetz zumindest Ausnahmen zu. So müssten medizinische und Pflegeeinrichtungen lediglich den Gesundheitsämtern am 16. März jene Beschäftigten melden, die bis dahin keinen Nachweis über ihre Impfung oder Genesung vorgelegt haben. Damit trete nicht automatisch ein Beschäftigungsverbot in Kraft, so das Netzwerk. Dieses könne das zuständige Amt nach einem zweistufigen Verfahren aussprechen, müsse es aber nicht. Es könne etwa davon absehen, wenn die öffentliche Gesundheit in Gefahr gerät oder schwere Mängel drohen.

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