Analyse: Die Taliban sind jetzt militärisch besser ausgerüstet als viele NATO-Länder

Rainer Rupp

Nach der US-geführten NATO stehen nun die afghanischen Taliban an zweiter Stelle der Rangliste der größten und militärisch bestausgerüsteten Terrororganisationen der Welt, sogar mit eigener Luftwaffe. Allerdings mehren sich die Zweifel, ob der Begriff Terrororganisation für die Taliban noch angebracht ist.

von Rainer Rupp

Im Unterschied zu den USA und anderen staatlichen NATO-Militaristen, die trotz der vernichtenden Niederlage in Afghanistan ihre imperialistische Politik zur Terrorisierung anderer Länder fortführen wollen, gibt es vor allem in den letzten Wochen und Monaten überzeugende Hinweise, dass die Einordnung der neuen Taliban als Terrororganisation nicht länger zutrifft. Denn die neuen Taliban haben nicht nur in der Hauptstadt Kabul, sondern im ganzen Land ohne nennenswerten Widerstand – weder von den bewaffneten Organen der US/NATO-Marionetten noch von der Bevölkerung – die Macht übernommen.

Die Taliban-Kämpfer zeigten sich sehr diszipliniert. Die vom Westen beschworenen Massaker an Minderheiten oder Andersgläubigen blieben bisher aus. Auch kam es zu keinen Plünderungen, vielmehr beschützten die Taliban während des Machtwechsels die öffentlichen Gebäude und Museen vor Plünderung durch Zivilisten. Welch ein Kontrast zur völkerrechtswidrigen US-Eroberung der irakischen Hauptstadt Bagdad, in der unter den Augen untätiger US-Soldaten die archäologischen Museen der Stadt in den ersten Tagen vom Mob geplündert und unersetzbare Schätze gestohlen worden waren.

Den Taliban scheint es gelungen zu sein, sich von der rein ethnischen Organisation aus religiös-fanatisierten, paschtunischen Gotteskriegern von vor 25 Jahren, die von saudi-arabischen Wahhabis und dem pakistanischen Geheimdienst Interservice Intelligence (ISI) unterstützt und finanziert wurden, zu einer multiethnischen, nationalen Befreiungsbewegung mit inklusivem Charakter zu wandeln. Andernfalls wäre der Machtwechsel nicht so schnell und gewaltlos möglich gewesen.

Die Tatsache, dass die schiitische Regierung in Iran, die mit den alten Taliban wegen derer vielen Massaker an der schiitischen Minderheit in Zentralafghanistan auf bitterbösem Kriegsfuß gestanden hatte, nun die neuen Taliban bereits vor dem offiziellen Machtwechsel in Kabul offiziell unterstützt hat, lässt den Schluss zu, dass sich in der neuen Taliban-Führung eine moderate und inklusive Richtung durchgesetzt hat. In die gleiche Richtung deuten auch die positiven Einschätzungen der Resultate der intensiven Gespräche, die eine hochrangige Taliban-Delegation in Russland und China geführt hat, wobei es über eine enge Zusammenarbeit beim Wiederaufbau Afghanistans unter einer Regierung der nationalen Einheit unter Führung der Taliban ging.

In Vorbereitung auf das inzwischen unaufhaltsam gewordene Jahrhundert ohne US-Einmischung in Zentralasien war die umfangreiche Taliban-Delegation vor einigen Wochen in Moskau von Außenminister Sergei Lawrow und in China von Außenminister Wang Yi empfangen worden. Von allen Seiten wurden die Gespräche als sehr positiv bewertet. Vor diesem Hintergrund sorgt sich nun Washington, was mit der Masse der teils hochmodernen US-Waffen in Afghanistan geschieht.

Mit massiven Waffenlieferungen hatte das Pentagon vor allem im letzten Jahr die Armee der US-Marionetten in der afghanischen Regierung für den erwarteten Bürgerkrieg aufgerüstet. Den wollten nämlich die US-Kriegsherren nach ihrem Abzug aus Afghanistan von Washington aus weiter steuern. Zu diesem Zweck hatten US-, NATO- und Bundeswehrsoldaten das afghanische Kanonenfutter ausgebildet.

Allerdings scheinen die einfachen afghanischen Soldaten schlauer zu sein als ihre westlichen Kollegen. Denn die afghanischen Soldaten waren fast ausnahmslos nicht bereit, für die korrupten US-Marionetten gegen die Taliban zu kämpfen und zu sterben. Und so kam es, dass der neuen Taliban-Regierung als Bonus eine der größten und schlagkräftigsten Armeen Zentralasien mit vielen unversehrten Waffensystemen samt Luftwaffe in die Hände gefallen ist.

In seinen Äußerungen zur Lage in Afghanistan vom 16. August 2021 gab US-Präsident Joe Biden höchstpersönlich einen Einblick in das ganze Ausmaß des ungewollten militärischen Geschenks an die Taliban.

"Wir haben eine afghanische Streitmacht von etwa 300.000 Mann ausgebildet und ausgerüstet – unglaublich gut ausgerüstet –, eine Streitmacht, die größer ist als das Militär vieler unserer NATO-Verbündeten. Wir gaben ihnen jedes Werkzeug, das sie brauchen konnten. Wir zahlten ihre Gehälter und sorgten für die Aufrechterhaltung ihrer Luftwaffe."

Pentagon-Pressesprecher Admiral John Kirby sagte am Freitag, dem 13. August, zwei Tage vor der blitzschnellen Übernahme der Hauptstadt Kabul:

"Wir sind immer besorgt über US-Ausrüstung, die in die Hände eines Gegners fallen könnte. (…) Welche Maßnahmen wir ergreifen könnten, um dies zu verhindern, darüber werde ich heute nicht spekulieren."

Die Vereinigten Staaten haben seit 2001 insgesamt 2,25 Billionen US-Dollar (2.250.000.000.000 ) für ihren Krieg in Afghanistan ausgegeben. Davon haben sie seit 2002 fast 83 Milliarden US-Dollar für die Ausrüstung und Ausbildung der afghanischen Regierungsarmee ausgegeben. Darunter fielen vor allem in den letzten Jahren fast zehn Milliarden US-Dollar für militärische Flugzeuge und Fahrzeuge.

Im Juni 2021 verfügte die afghanische Luftwaffe über etwas mehr als 200 Flugzeuge, aber laut dem US-Sonderinspektor für den Wiederaufbau Afghanistans standen nur 167 für den Einsatz zur Verfügung. Die meisten Flugzeuge operierten von zwei Stützpunkten aus, einer in Kabul und der andere in Kandahar. Die Taliban übernahmen am Freitag die Kontrolle über Kandahar, einschließlich des Flugplatzes.

Einen Tag später zeigten mehrere Twitter-Nachrichten Bilder von hochmoderne UH-60-"Black Hawks"-Kampfhubschraubern und anderen Hubschraubern der afghanischen Luftwaffe, die unbeschädigt in die Hand der Taliban gefallen waren, die den Flughafen Kandahar kampflos überrannt hatten.

Viele der Flugzeuge und Hubschrauber der afghanischen Ex-Regierungsarmee sind bewaffnet, aber die gefährlichsten sind eine kleine Flotte von etwas mehr als zwei Dutzend propellergetriebenen Kampfflugzeugen. Diese A-29-Super-Tucanos sind hervorragend in gebirgigem Gelände zur Unterstützung von Bodenkämpfen aus der Nähe geeignet und wurden speziell zu diesem Zweck an die afghanischen Streitkräfte geliefert. Sie können u. a. auch lasergesteuerte und andere Arten von Bomben abwerfen.

Die afghanische Regierung verfügt auch über 50 in den USA hergestellte MD-530-Kampfhubschrauber, die mit Maschinengewehren und Raketen bewaffnet sind. Darüber hinaus fliegt die afghanische Luftwaffe in Russland hergestellte Mi-17- und Mi-24-Kampfhubschrauber sowie C-130-und Cessna-Transportflugzeuge und eine kleine Flotte bewaffneter Cessnas.

Nun ist es eine Sache, funktionierende Flugzeuge zu erobern, und eine andere, sie ohne angemessene Ausbildung zu fliegen. Ein ausgebildeter Pilot könnte sie zwar fliegen, aber auch er müsste mit dem gezielten Abwurf der Bomben und Abfeuern der Raketen erst vertraut werden. Und die Techniker müssten wissen, wie die Flugzeuge gewartet und aufmunitioniert werden. Und da die Flugzeuge regelmäßig gewartet werden müssen und auch Ersatzteile wie Spezialfilter gebraucht werden, ist es unwahrscheinlich, dass die Taliban aus eigener Kraft die Flugzeuge und Hubschrauber lange fliegen könnten, selbst wenn es ihnen gelingen sollte, die erfahrenen Piloten der ehemaligen Regierungsarmee in ihre neue Taliban-Armee zu integrieren.

Dennoch wird in Washington inzwischen ganz öffentlich darüber nachgedacht, die Flugzeuge- und Hubschrauber-Beute der Taliban sowie die Militärflugplätze mit den Reparaturhangars durch flächendeckende Bombardierung zu zerstören. Denn die Washingtoner Falken befürchten, dass die Taliban technische Hilfe von Iran, Russland, China oder Pakistan bekommen könnten, die zugleich die in den Flugzeugen installierte US-Kommunikations-, Zielerfassungs- und eventuell auch Kodierungstechnik studieren könnten.

Angeführt von US-Senator Marco Rubio (Republikaner für Florida) haben am 18. August 24 weitere Senatoren (also ein Viertel des US-Senats in Washington) einen Brief an Pentagon-Chef, Ex-General und Ex-Rüstungslobbyist Lloyd Austin gerichtet, in dem eine vollständige Darstellung der in Afghanistan zurückgelassenen US-Militärausrüstung gefordert wird, die in die Hände der Taliban gefallen ist. Hier folgt eine Übersetzung der ersten beiden Absätze des Briefes.

"Sehr geehrter Minister Austin,

wir schreiben in großer Besorgnis über den Status der US-Militärausrüstung, die in Afghanistan als Folge unseres schlecht ausgeführten Rückzugs aus dem Land zurückgelassen wurde. Als wir die Bilder aus Afghanistan sahen, als die Taliban das Land zurückeroberten, waren wir entsetzt, US-Ausrüstung – einschließlich UH-60 Black Hawks – in den Händen der Taliban zu sehen.

Es ist gewissenlos, dass Hightech-Militärausrüstung, die von US-Steuerzahlern bezahlt wird, in die Hände der Taliban und ihrer terroristischen Verbündeten gefallen ist. Die Sicherung von US-Vermögenswerten hätte vor der Ankündigung des Rückzugs aus Afghanistan zu den obersten Prioritäten des US-Verteidigungsministeriums gehören sollen. Wir bitten daher um detaillierte Informationen zu folgenden Themen (...)."

Es folgen sieben Punkte, von denen die beiden letzten besonders aufschlussreich sind:

"6. Wir fordern eine Bewertung der Wahrscheinlichkeit, dass die Taliban versuchen werden, mit Russland, Pakistan, Iran oder der Volksrepublik China zusammenzuarbeiten, um Ausbildung, Treibstoff oder Infrastruktur zu erhalten, die erforderlich sind, um die Ausrüstung zu nutzen, die sie nicht selbst nutzen können; und

7. Wir wollen Aufschluss über alle geplanten oder laufenden Bemühungen der Regierung, Ausrüstung zurückzuerobern oder zu zerstören, die in Afghanistan verblieben ist und Gefahr läuft, von terroristischen Organisationen verwendet zu werden."

Die Forderungen der 25 Senatoren an Pentagon-Chef Austin sind angesichts der Masse der US-gelieferten Rüstungsgüter nicht im Entferntesten zu erfüllen, wie bereits eine grobe Übersicht über die wichtigsten Posten zeigt:

• ca. eine Mio. Handfeuerwaffen

• mehrere Milliarden Schuss Munition

• 600 Schützenpanzer, Typ M1117

• geschätzte 1.000 Kampf- und Schützenpanzer sowjetischer Produktion (u.a. T-62 und BMP-1)

• rund 600 leichte und schwere Artilleriegeschütze sowjetischer und US-amerikanischer Produktion

• 8.500 Militär-Geländewagen (Humvees)

• 150 geschützte Hightech-Fahrzeuge MaxxPro

• 100.000 Geländewagen Toyota Hilux und Ford Ranger

• 68 Aufklärungs- und Kampfhubschrauber Typ MD 500

• 19 Bodenkampfflugzeuge Typ A-29

• 16 UH-60-Black-Hawk-Kampfhubschrauber

• vier Herkules-C-130-Transportflugzeuge

• 100 Angriffshubschrauber vom Typ Mi17 und Mi-24

• dazu mehrere Drohnen, Typ Scan Eagle

Praktischerweise haben die USA und auch Deutschland 300.000 afghanische Soldaten ausgebildet, die das Mordwerkzeug auch bedienen können. Die Taliban verfügen laut Präsident Biden jetzt über ein besseres Waffenarsenal als mancher NATO-Staat. Das ist das "grandiose" Ergebnis von 20 Jahren "humanitärem" militärischem Engagement der westlichen "Wertegemeinschaft" in Afghanistan.

Eines scheint jetzt schon ziemlich klar zu sein: Der "Wertewesten" wird in der Zukunft Afghanistans höchstens noch eine marginale Rolle spielen. Wenn die Taliban klug sind, nehmen sie das Hilfsangebot Irans, Russlands und Chinas zum Wiederaufbau an. Die meisten zentralasiatischen direkten Nachbarländer Afghanistans werden mit Russland und China an einem Strang ziehen. Und auch über Pakistan wird der Westen keinen Einfluss mehr auf Afghanistan haben, den Pakistans Interessen sind zunehmend auf die Zusammenarbeit mit Peking im Rahmen der Neuen Seidenstraße orientiert.

Allerdings werden die bevorstehenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen in Afghanistan nicht ohne Probleme und Reibungsverluste vonstattengehen. Es wird Arbeitslosigkeit geben, allein schon deshalb, weil die Taliban-Regierung keine 300.000-Mann-Berufsarmee unterhalten kann und der wirtschaftliche Umbau und die Schaffung neuer Arbeitsplätze nicht schnell genug geht. Wenn wir jedoch verhindern wollen, dass daraus ein neuer Flüchtlingsstrom nach Deutschland entsteht, sollten wir nicht darauf bauen, dass die Migration von der Türkei aufgefangen wird. CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet scheint das begriffen zu haben.

Der Unterschied zum größten deutschen Außenminister aller Zeiten Heiko Maas von der SPD könnte deutlicher nicht sein. Wie eine beleidigte Leberwurst will Maas keinen Cent mehr für Afghanistan lockermachen, weil sich die Regierungsarmee und die Taliban geweigert haben, sich gegenseitig für den Westen zu massakrieren. Laschet dagegen will mit den Taliban reden und hoffentlich auch beim Aufbau ehrlich helfen. Denn jeder in Afghanistan mit deutscher Hilfe geschaffener produktiver Arbeitsplatz bedeutet einen potenziellen Migranten weniger auf dem Weg nach Deutschland.

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