von Pierre Lévy
Ursula von der Leyen wird voraussichtlich ab dem 1. November den Vorsitz in der Europäischen Kommission übernehmen. Angela Merkel überreicht der EU ihre derzeitige Verteidigungsministerin, die in dieser Position nach verschiedenen Missgriffen und Skandalen bislang geschwächt schien. Von der Leyen ist eine glühende Verfechterin der NATO und träumt von den "Vereinigten Staaten von Europa".
Der Belgier Charles Michel, der zum zukünftigen Präsidenten des Europäischen Rates (ab dem 1. Dezember) ernannt wurde, hat das Rentenalter sicherlich noch nicht erreicht. Bei den belgischen Parlaments- und Regionalwahlen am 26. Mai jedoch hat er eine doppelte Niederlage erlitten. Sowohl seine "liberale" Reformbewegung (MR) als auch alle Parteien der von ihm geführten Koalitionsregierung mussten herbe Wahlschlappen einstecken. Die Chancen, in seinem Land erneut eine Spitzenposition zu finden, waren gleich null.
Mit 63 Jahren wird die Französin Christine Lagarde die Leitung der Europäischen Zentralbank übernehmen. Die Frau, die ihre 25 Jahre währende Karriere in einem der wichtigsten US-amerikanischen Maklergeschäfte begonnen hat, bevor sie Ministerin in Paris und dann IWF-Chefin in Washington wurde, wird sich nun in Frankfurt weiterverpflichten. Die Griechen, die die Troika nicht vergessen haben, werden begeistert sein.
Und die italienische EU-Diplomatie-Chefin Federica Mogherini wird durch den spanischen Sozialisten Josep Borrell, 72, ehemaliger Präsident des EU-Parlaments und derzeitiger Leiter der Diplomatie in der provisorischen Regierung in Madrid, ersetzt. Eine Position, in der er kürzlich Russland als "alten Feind" bezeichnet hat, der "wieder zur Bedrohung wird".
Dieser riesige Kuhhandel gleicht einem komplexen Geschacher, bei dem fast alles erlaubt ist – Bündniswechsel, Bluffen, Druck und ultimativer Verrat. Dieses "Game of Throne" fasziniert Politiker und Journalisten in der Brüsseler Euro-Blase, während es die Bürger der verschiedenen Länder zumeist völlig kaltlässt. Dabei hatte das EU-Establishment noch vor den Wahlen zum EU-Parlament mühsam an der Legende gestrickt, dass in der Staatenunion künftig mehr Bürgernähe und Transparenz herrschen werde und die Stimmen der Bürger diesmal endlich Gewicht hätten.
Doch am 20. Juni wurden die jeweiligen Spitzenkandidaten der drei größten Fraktionen des Parlaments vom Europäischen Rat disqualifiziert. Insbesondere wurde Merkels Wunschkandidat Manfred Weber von Emmanuel Macron verjagt, der ihn um keinen Preis in seinen Reihen wollte. Und Macron forderte die Kanzlerin auf, zu kandidieren, wohl wissend, dass sie diese Möglichkeit ausgeschlossen hatte.
Der Hinterzimmer-Kuhhandel spiegelt die Realität wider: die Entstehung einer Europäischen Union, die zunehmend durch Interessenswidersprüche untergraben wird. Zugegebenermaßen ist die europäische Integration noch nie reibungslos verlaufen. Aber vor allem seit 2004 – der Erweiterung von 15 auf 25 Mitgliedsstaaten – und dann 2008 – der Umsetzung des Lissabon-Vertrags – hat sich das Problem für die europäischen Regierungseliten vollends verändert: Die EU befindet sich derzeit in einer Phase der Auflösung, auch wenn niemand den genauen Weg und das genaue Tempo kennt. Der Brexit ist ein Vorzeichen.
Dabei trennt die meisten EU-Vertreter auf ideologischer Ebene wenig – Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale, Grüne, sogar die Linken: Alle verfechten in unterschiedlichem Maße ihren Glauben an das europäische Abenteuer, zu dem es "keine Alternative" gäbe. Andererseits treten die Interessenunterschiede zwischen den Ländern nun deutlicher und schonungsloser zutage, und zwar in allen Bereichen: Wirtschaft, Soziales, Industrie, Handel, Demografie, Migration, ganz zu schweigen von den politischen Kulturen, die, geprägt von Geschichte und Geographie, so unterschiedlich sind. All dies sind Bereiche, die die Zusammenstöße der letzten Jahre vorzeichneten: zwischen den Ländern im Westen und Osten, im Norden und Süden, zwischen Großen und Kleinen, zwischen Washington-Fans und EU-Souveränisten ...
Interessenunterschiede sind an sich kein Problem. Sie können bestehende Widersprüche widerspiegeln, Anlass für eine Zusammenarbeit und Gegenstand diplomatischer Verhandlungen zwischen souveränen Ländern sein. Aber sie werden zum Problem, sobald es darum geht, alle in die gleiche integrierte Form zu zwingen. Es ist also genau die zentrale Forderung der Verträge – "eine immer engere Union" –, die den Samen der Spaltung, Gegensätze und Konflikte gesät hat. Und die Zeit ist vorbei, in der das "deutsch-französische Paar" die Disziplin in der EU durchsetzen konnte. Und dies umso weniger, als die Zahl der Streitigkeiten zwischen Berlin und Paris zugenommen hat. Der Dienstag-Deal zwischen Merkel und Macron, auf dem von der Leyens Nominierung zur EU-Kommissionspräsidentin fußt, hat daran nichts geändert.
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