von Pierre Levy, Paris
Dass EELV (die französischen Grünen) diesen Mythos von der "grünen Welle" enthusiastisch verbreiten, ist nur allzu verständlich (sie sollten jedoch vorsichtig sein: eine Welle ist eine Vorwärtsbewegung, in deren Natur es liegt, bald darauf wieder zurückzurollen). Aber dass ein Heer von Analytikern, Experten und Kommentatoren diesen Mythos wiederholt und ausweitet, kommt wahrscheinlich nicht von ganz ungefähr. Schließlich ist ein Mythos eine erfundene Erzählung, deren inhaltliche Beschaffenheit auf die Dauer die Realität beeinflusst.
Es ist die zweite Wahl, bei der der "grüne Durchbruch" von allen Seiten begrüßt wurde: Das war bereits bei den Europawahlen im Mai 2019 der Fall, wo er sogar als eine "grüne Welle" bezeichnet wurde, die über den "Alten Kontinent hinweggerollt sei", obwohl die politischen Kräfte, die sich als ökologisch bezeichnen, nur in sieben oder acht Ländern der Europäischen Union (damals 28 Staaten) – oft bescheidene – Fortschritte gemacht hatten. Diese Wahl zeichnete sich bereits durch eine sehr geringe Wahlbeteiligung (49,5 Prozent in Frankreich, 49 Prozent in der übrigen EU) aus. Die französische Liste der Grünen hatte im Rahmen dieser besonders niedrigen Wahlbeteiligung 13,4 Prozent der Stimmen erhalten.
Wieder einmal war das Hauptmerkmal der Wahl vom 28. Juni die massive niedrige Wahlbeteiligung, was vor allem für eine Kommunalwahl außerordentlich ungewöhnlich ist: Mehr als 58 Prozent der Wähler blieben zu Hause. Dies ist ein beispielloser Rekord historischen Ausmaßes für diese Art von Wahl. Lehren und Schlussfolgerungen aus einer Wahl, die im zweiten Wahlgang nur zwei von fünf Wählern mobilisiert hat – letztlich sogar noch weitaus weniger, weil ein Teil der Bürger nicht in die Wählerverzeichnisse eingetragen waren – können daher, gelinde gesagt, nur fraglich sein.
Das Ausmaß dieses Fernbleibens von der Wahlurne konnte natürlich niemandem entgehen. Um nur das Beispiel Grenoble zu nennen, in der einzigen Stadt mit mehr als 100.000 Einwohnern, die einen Bürgermeister mit dem Etikett EELV hat, ist die Wahlbeteiligung mit fast 65 Prozent Nichtwählern von eingeschriebenen Bürgern am höchsten. Eric Piolle, der als vorbildlicher grüner Bürgermeister dargestellt wurde, erhielt so 16.000 Stimmen in einer Stadt von fast 160.000 Einwohnern. Was den Wahl-Tsunami betrifft, hat man schon beeindruckendere Ergebnisse gesehen ...
Hätten die Bürger ihren ökologischen Enthusiasmus in großer Zahl zum Ausdruck bringen wollen, wäre das Ergebnis sicher deutlicher ausgefallen. Darüber hinaus hat es wenig überrascht, dass in dieser Stadt wie auch im Rest des Landes die Zahl der Nichtwähler in der Arbeiterklasse, aber auch bei den jungen Menschen am höchsten war.
Die jüngere Generation ist genau diejenige, die oft als die Speerspitze des Kampfs für die Umwelt dargestellt wird. Wenn die Wahlurnen wirklich den Wunsch nach einem "ökologischen Umbau" zum Ausdruck gebracht hätten, warum sollten dann diejenigen, die angeblich seine Hauptverfechter sind, so zurückhaltend gewählt haben?
Die These von der "über das Land rollenden grünen Welle" beruht auf einer realen Tatsache: Die Partei EELV erobert ein Dutzend Städte mit mehr als 30.000 Einwohnern, darunter einige der größten wie Lyon, Bordeaux und Straßburg. Man muss diese Version jedoch relativieren, denn es gibt immer noch mehr als 250 Kommunen, die mindestens so viele Einwohner haben. Und die Kommunistische Partei, zum Beispiel, obwohl sie als eine große Verliererin dargestellt wird, hält immer noch mehr als zwanzig davon.
Eine seriöse Analyse der Machtverhältnisse kann sich in jedem Fall nur auf den ersten Wahlgang stützen. Letzterer war ebenfalls durch eine sehr niedrige Wahlbeteiligung (45 Prozent) gekennzeichnet. Er hatte am 15. März stattgefunden und eine gewisse Entwicklung für die Grünen aufgezeigt. Tatsächlich entspricht diese aber nur einer "Neugewichtung" innerhalb der "Linken". Oder, wie in Bordeaux, einem Stimmentransfer von Emmanuel Macron hin zu den Grünen innerhalb der Gruppe der wohlhabenderen Wähler. Es ist kein Geheimnis, dass die Öko-Partei unter letzteren am besten abschneidet. Vor allem in Stadtzentren und Vierteln, die von der "modernen" Bourgeoisie bewohnt werden. Auf der anderen Seite ist sie in Arbeitervierteln oft bedeutungslos.
Die Umverteilung der Karten innerhalb der sogenannten "Linken" (welche jedoch die Herrschaft der Kapitalbesitzer über die Gesellschaft schon lange nicht mehr in Frage stellt) interessiert sicherlich die Taktiker und Strategen, die jetzt mit der Vorbereitung der nächsten Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2022 beschäftigt sind.
Dies bedeutet jedoch keineswegs den Aufstieg einer mächtigen Umweltbewegung in der Bevölkerung insgesamt und insbesondere in den ausgebeuteten Klassen. Letztere sind mit einem brutalen sozialen Schock, insbesondere im Bereich der Beschäftigung, konfrontiert, der sich in den kommenden Monaten noch verschärfen wird. Die Pläne zum Stellenabbau bei Air France, Airbus und Renault sind nur die ersten Manifestationen der geplanten Umstrukturierungen, die größtenteils schon vor der Epidemie geplant waren.
Auf die eine oder andere Weise werden diese Umstrukturierungen damit begründet, "das Klima zu schützen": Wir sollten weniger mit dem Flugzeug verreisen und daher weniger Flugzeuge bauen und auch den Autoverkehr einschränken. So ergibt sich eins aus dem anderen; die gesamte Wirtschaft könnte von der Schockwelle getroffen werden, von der Telekommunikation (Nokia ehem. Alcatel) bis hin zu Medikamenten und Chemikalien (Sanofi). Elf Millionen Arbeitsplätze sind direkt durch den "Green Deal", das eine absolute Priorität der Europäischen Kommission darstellt, bedroht.
Gleicherweise sind "Mäßigung" und "Genügsamkeit", um den "Planeten zu retten", die neuen Kleider der Lohndrückerei. Es wäre also notwendig, "weniger zu konsumieren, weniger zu produzieren und daher weniger zu arbeiten", gemäß der ursprünglichen Formel des sogenannten "Bürgerkonvents" – 150 Bürger, die ausgelost wurden und sich auf wundersame Weise alle einig waren in Bezug auf die Priorität zum Schutze des Planeten. In der Tat ist dies eines der abscheulichsten Beispiele in der Geschichte der ideologischen Manipulation durch einen Staat.
Die "grüne Welle" ist eigentlich ein ideologisches Konstrukt, das darauf abzielt, die von Emmanuel Macron seit Monaten verkündete "immer grünere" Politik zu unterstützen, und die nun von Brüssel und den Chefs des CAC 40 gefördert wird.
Seit Monaten? Genauer gesagt seit dem Herbst 2018, als er eine "Kohlesteuer" auf Benzin und Diesel einführen wollte, um – so hieß es ganz offen – "Verhaltensänderungen zu bewirken". Was folgte, war die Gelbwesten-Bewegung ... und die eilige Rücknahme dieser Steuer.
Wenn einige Leute wirklich glauben, sie hätten das Land von der Notwendigkeit eines "ökologischen Umbaus" überzeugt, indem sie sich auf die Ergebnisse der Kommunalwahlen verlassen und glauben, dass die Zeit gekommen ist, so bereiten sie vielleicht neue und schmerzhafte Überraschungen vor ...
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