Der Generalsekretär und seine Adjutanten – Wie der SPIEGEL Jens Stoltenberg interviewt

Leo Ensel

NATO-Generalsekretär Stoltenberg gab unlängst dem "Spiegel" ein Interview, bei dem sich die Redakteure bereitwillig auf die Rolle eines Stichwortgebers beschränkten. Ein Musterbeispiel für den Wandel vom – einstmals – kritischen zum Gefälligkeitsjournalismus.

von Leo Ensel 

Stellen Sie sich vor, Sie wären heutzutage ein kritischer Journalist in einem deutschen Leitmedium – ich weiß, das ist nicht einfach, aber geben Sie sich bitte etwas Mühe! – und Sie hätten die Gelegenheit, ein Interview mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zu führen. Welche Fragen würden Sie ihm stellen? 

Ungestellte Fragen an den Generalsekretär

Mir persönlich würde hier folgendes einfallen:

Wenn Qualitätsjournalisten brav Stichworte apportieren ...

Fragen, die, wie gesagt, mir in diesem Kontext einfallen würden. Und der Spiegel? Weit gefehlt! Wenn heute ein deutsches Leitmedium den Generalsekretär der NATO interviewt, dann sollte man sämtliche Gütekriterien für kritischen Journalismus gleich vergessen! Demgemäß betätigten sich die Qualitätsjournalisten Markus Becker und Peter Müller als brave Stichwortgeber für Stoltenbergs Statements, statt diese kritisch zu hinterfragen. 

Es beginnt gleich mit der postfaktischen Behauptung des Generalsekretärs, die Hauptaufgabe der NATO sei es nicht, Krieg zu führen, sondern diesen zu verhindern. „Das ist uns in den vergangenen 70 Jahren ganz gut gelungen.“ Statt Stoltenbergs Gedächtnis etwas auf die Sprünge zu verhelfen und ihn zum Beispiel an den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Frühjahr 1999 zu erinnern oder an die extensive Auslegung des UN-Mandats, 2011 in Libyen eine Flugverbotszone einzurichten und die Umsetzung eines Waffenembargos zu garantieren, apportieren die Spiegel-Redakteure eilfertig das erste erwünschte Stichwort. 

Es geht – natürlich – um die angebliche Bedrohung Europas durch Russland:

Russland hat in letzter Zeit neue, nuklearfähige Marschflugkörper, Raketen und hochmoderne Hyperschallwaffen eingeführt. Auf diesem Gebiet ist Moskau dem Westen weit überlegen. Wie bedrohlich ist das Ungleichgewicht?

Dass es sich bei den hochmodernen Hyperschallwaffen um eine Reaktion Russlands auf die Kündigung des ABM-Vertrages durch die USA im Jahre 2001 handelt, ist den Herren Becker und Müller entweder unbekannt oder wird – ebenso unverzeihlich! – von ihnen vorsätzlich verschwiegen. Und was die „neuen, nuklearfähigen Marschflugkörper und Raketen“ angeht, so blenden die beiden wohlweislich das umstrittene Thema „Reichweite“ wie die Module des Raketenabwehrsystems der NATO in Rumänien und Polen aus. 

Es wäre zudem ein Gebot der Fairness gewesen, in diesem Zusammenhang an eine Bemerkung Michail Gorbatschows aus einem Interview zu erinnern, das der ehemalige ARD-Korrespondent Fritz Pleitgen am Vorabend des 30. Jahrestags des Mauerfalles mit ihm führte. Dort sagte der Vater des INF-Vertrages zu dessen Kündigung:

Und jetzt wurde dieser Vertrag auf Initiative der Vereinigten Staaten gekündigt. Und was passierte unmittelbar danach? Es stellte sich heraus, dass die USA jetzt an vier Raketenarten dieser Klasse arbeiten, u.a. an ballistischen Raketen. Es ist klar, dass diese Projekte schon lange vorher begonnen haben. Also: Wer kann jetzt wem nicht vertrauen?

Wie einst Helmut Schmidt!

Die vom NATO-Generalsekretär und seinen journalistischen Adjutanten einträchtig geteilte subkutane „Argumentation“ – man schämt sich, dieses Wort hier überhaupt zu verwenden – ist wie gehabt: keine! Dass Russland „hochgefährliche“ Mittelstreckenraketen besitzt, gilt, wie angebliche russische Absichten, Polen und das Baltikum zu bedrohen, als so selbstverständlich, dass dies erst gar nicht mehr bewiesen werden muss. 

Und weil dem so ist, eignet sich der unterstellte Sachverhalt natürlich bestens für die Überschrift: „Russlands neue Raketen sind hochgefährlich“, titelt das Hamburger Nachrichtenmagazin – und pflanzt damit in die Köpfe der Leser die erwünschte Konsequenz: „Höchste Zeit, dass der Westen etwas dagegen unternimmt!“ – Wer die Debatten um den sogenannten „NATO-Nachrüstungsbeschluss“ in den Achtziger Jahren noch miterlebt hat, erleidet einen Flashback! 

Und das hat seine Berechtigung. Denn prompt bedienen sich die Spiegel-Redakteure – es gibt nichts Neues unter der Sonne! – exakt einer aktualisierten Version der Argumente Helmut Schmidts, mit denen dieser im Oktober 1977 für den späteren „NATO-Doppelbeschluss“ geworben hatte:

Die russische Regierung könnte einen Erstschlag mit taktischen Atomwaffen in Europa erwägen, da sie wohl annimmt, die USA würden aus Angst vor einem Atomkrieg nicht mit ihren großen strategischen Raketen zurückschlagen. Was denken Sie: Würde US-Präsident Donald Trump New York aufs Spiel setzen, um Tallin zu verteidigen?

Noch einmal: Dies ist genau die Schmidt‘sche „Abkoppelungswarnung“, die hier eine beklemmende Auferstehung feiert!

Aber Herr Stoltenberg gibt sich christlich. Jedenfalls behauptet er, nicht Gleiches mit Gleichem vergelten zu wollen:

Wir werden es Russland nicht gleichtun. Unsere Abschreckung muss aber glaubwürdig sein, und das bedeutet, dass wir uns neuen Gegebenheiten anpassen müssen – in diesem Fall den neuen russischen Waffen. 

Auf die naheliegende Frage, was das denn konkret bedeute und welche Maßnahmen die NATO hier plane, kommen die Spiegel-Redakteure allerdings nicht. Statt dessen schlucken sie begierig die in diesem Kontext fällige Beruhigungspille: „Zudem wollen wir Abrüstung und Rüstungskontrolle stärken.“ Aber auch jetzt kommt keiner der Qualitätsjournalisten auf die Idee, nachzufragen, welche Projekte dem Generalsekretär hier genau vorschweben würden. 

Gekrönt wird dieses Interview mit einer Graphik, die es schafft, selbst das demagogische Niveau einer Süddeutschen nochmals zu überbieten. Hat man sich doch beim Spiegel nicht mal mehr die Mühe gemacht, mit atemberaubenden Zahlenjonglagen die Wahrheit zu lügen – das Nachrichtenmagazin liefert gleich gar keine Zahlen mehr! Kümmerliche altmodische Fliegerbomben, so suggeriert es die Grafik, sind die einzigen Trägersysteme für Atomsprengköpfe, die die NATO in Europa der Hightech made in Russia noch entgegensetzen kann! 

Immerhin hat das Leitmedium einen Rest an Seriosität bewiesen, indem es wenigstens die Quelle dieser atemberaubend nichtssagenden Grafik offenlegte: Es ist – das U.S. Department of Defense! 

PS:

Und noch eine kleine Vignette aus dem Interview, die den Lesern nicht vorenthalten werden darf:„Bevor ich Generalsekretär wurde,“ berichtet Stoltenberg, „war ich Klimabotschafter der Vereinten Nationen, ich habe mich viele Jahre mit dem Thema beschäftigt. Wenn die NATO ihre Operationen energieeffizienter gestaltet, hat das auch praktische Vorteile. Niemand bestreitet, dass die Temperaturen ansteigen. Deshalb können wir das Thema auch angehen, etwa indem wir Emissionen reduzieren und mehr erneuerbare Energien nutzen. So werden wir unabhängiger von fossilen Brennstoffen.“ 

Öko-NATO!

RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Mehr zum Thema - Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert! – Wie das Auswärtige Amt den NVV retten will