Der "Staubsaugereffekt" – oder: Deeskalation jetzt!!

Leo Ensel

Der Critical Incident im Asowschen Meer ist der vorläufige Höhepunkt eines geopolitischen Konfliktes, der sich in den vergangenen fünf Jahren immer mehr Lebensbereiche einverleibt hat. Je schwieriger der Ausstieg wird, desto dringender ist er geboten.

von Leo Ensel

Haben Sie schon mal etwas vom „Integrationssog“ gehört? Das ist ein Begriff aus der Konfliktforschung, der die Tatsache umschreibt, dass länger andauernde Konflikte die Tendenz haben, sich auszuweiten, genauer: immer mehr Lebensbereiche zu infizieren und in den Ursprungskonflikt zu integrieren. Etwas weniger akademisch könnte man auch von einem „Staubsaugereffekt“ sprechen. 

Der Neue Ost-West-Konflikt, so wie er sich spätestens infolge der Ereignisse in der Ukraine Ende 2013/Anfang 2014 dramatisch verschärft hat, ist ein Musterbeispiel dafür. Was mit berechtigten Protesten gegen eine korrupte Regierung auf dem Kiewer Maidan begann, wurde umgehend geopolitisch instrumentalisiert, mit dem Ergebnis, dass sich heute der Westen und Russland als Antipoden eines zweiten Kalten Krieges gegenüberstehen, in dem jeder ‚Critical Incident‘ die Lage nicht nur zusätzlich zuspitzt, sondern auch die Gefahr einer nicht mehr zu kontrollierenden Eskalation in sich birgt – im Worst Case bis hin zu einem Szenario, das, wie beim Ausbruch des I. Weltkrieges, alle mitverursacht, so aber niemand gewollt hätte! 

Der Integrationssog: Stufen der Eskalation 

Betrachten wir einmal den Konflikt selbst als System und lassen wir in einer Retrospektive kurz die wichtigsten Lebensbereiche Revue passieren, die in den vergangenen fünf Jahren von der Eskalationsdynamik erfasst und einverleibt wurden. Und vergessen wir dabei nicht: „Staubsaugereffekt“ bedeutet zugleich, dass man, sollte endlich eine grundsätzliche Einigung auf Deeskalation gelungen sein, aus allen genannten Bereichen auch wieder aussteigen muss! Mit anderen Worten: Mit zunehmender Ausweitung und Verfestigung des Konfliktes wird der Ausstieg immer komplizierter! – Hier nun die wichtigsten Stationen des sich radikalisierenden Integrationssogs seit November 2013. 

Soweit die – mit Sicherheit unvollständige – Auflistung der Lebensbereiche, die sich der Ukrainekonflikt, kumulativ radikalisierend, im Laufe von fünf Jahren einverleibt hat, wobei schwerer messbare ‚Soft Facts‘ wie die Zerstörung des Vertrauens zwischen den politischen Akteuren sowie die zunehmende mentale und emotionale Entfremdung der Bevölkerungen noch gar nicht mitberücksichtigt sind. Und noch einmal: Aus all diesen Bereichen muss man irgendwann auch wieder aussteigen, wenn der Konflikt sich nicht verewigen beziehungsweise noch weiter eskalieren soll! 

Deeskalation jetzt!! 

Extrapoliert man nun die verheerende Dynamik des Integrationssogs in die Zukunft, so müsste für jeden vernünftig denkenden Menschen offensichtlich sein, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Der Ausstieg ist eh schon schwierig genug. Umso dringender ist er geboten! 

Eine gute Nachricht gibt es immerhin: Die Bevölkerungen wollen keine weitere Eskalation! Trotz kontinuierlich russlandfeindlicher Berieselung durch die Mainstreammedien sprachen sich einer Umfrage der Körber-Stiftung zufolge im Herbst 2017 95 Prozent der Deutschen und 80 Prozent der Polen für eine politische Wiederannäherung von Europäischer Union und Russland aus. In Russland waren es zwei Drittel der Befragten. Die Eskalationspolitik wird demnach gegen den Willen der Bevölkerungen durchgezogen. 

Praktikable Vorschläge für eine neue Entspannungspolitik, die – guten Willen aller Beteiligten vorausgesetzt – nicht allzu schwer umzusetzen wären, liegen ebenfalls längst vor. Ich skizziere nochmals stichwortartig das anderweitig bereits ausführlicher vorgestellte Konzept der ehemaligen ARD-Russlandkorrespondentin Gabriele Krone-Schmalz: Verzicht des Westens auf die Fertigstellung und Inbetriebnahme des geplanten Raketenabwehrsystems; Rückzug der russischen Iskander-Raketen aus dem Kaliningrader Oblast; Einberufung einer großen Konferenz zur gemeinsamen Sicherheit in Europa und der Welt; Einfrieren des Ukrainekonflikts auf der Basis des Minsk II-Abkommens; Stationierung von UN-Friedenstruppen in der Ostukraine und anderen Hot Spots im postsowjetischen Raum; Erklärung der Krim zum Mandatsgebiet der UN und Durchführung eines international verbindlichen Volksentscheids unter UN-Aufsicht über die staatliche Zugehörigkeit der Halbinsel; Einrichtung eines entmilitarisierten Korridors zwischen NATO und Russland; Stopp der NATO-Erweiterung, insbesondere was die ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine und Georgien angeht; Wiederaufnahme der Verhandlungen über die Abrüstung konventioneller Waffen in Europa.

Ich würde noch ergänzen: Visafreiheit zwischen der EU und Russland sowie mit der allerhöchsten Priorität: Rücknahme der Kündigung des INF-Vertrags und Anpassung des Vertrags an die geopolitischen Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts.

Der Wille der Bevölkerungen ist also vorhanden. Realistische Konzepte für den Entspannungsprozess ebenfalls. Was nach wie vor fehlt, ist eine kraftvolle und breite internationale Bewegung von unten, die die offizielle Politik zur Deeskalation zwingt.

Es wird höchste Zeit, dass sich das ändert!

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