Armenien: Eine authentische Volksrevolution – und kein Maidan!

Leo Ensel

Die friedliche Revolution in Armenien ist mit dem gewalttätigen Umbruch auf dem Maidan nicht zu vergleichen. Geopolitik spielt hier keine Rolle. Das Volk ist nicht gespalten, der Umbruch vollzieht sich im Einklang mit der Verfassung.

von Leo Ensel

Revolution in Armenien – und dieses Mal ist es tatsächlich eine! Alle Bedingungen - von Lenin auf die klassische Formel "Die Oberen können nicht mehr wie zuvor, die Unteren wollen nicht mehr wie zuvor" gebracht - sind erfüllt. Ein charismatischer Anführer, Nikol Paschinjan, hat sein Volk während eines mehrwöchigen langen Marsches durch die Provinz bis in die Hauptstadt aus der Lethargie gerüttelt, ihm die Angst genommen und seine Würde zurückgegeben, indem er den Menschen beibrachte und sie erfahren ließ, was Demokratie wirklich bedeutet: Einmischung in die eigenen Angelegenheiten!

Eine Revolution – unblutig und fröhlich

Und alles ohne Gewalt. Armenien, ein kleines, bitterarmes Land im Kaukasus, eingezwängt zwischen den mit ihm verfeindeten Staaten Türkei und Aserbaidschan, mit nur zwei schmalen offenen Grenzen, nach Georgien im Norden und im Süden zum Iran. Die Menschen hochtraumatisiert durch den türkischen Genozid von vor über hundert Jahren, bei dem bis zu anderthalb Millionen Armenier ermordet, geschändet, ausgeraubt und buchstäblich in die Wüste getrieben wurden. Und nun geht ein ganzes Volk – dieses so oft missbrauchte Wort ist hier nicht nur erlaubt, sondern geboten – zu Hunderttausenden auf die Straßen, um sich von einer gänzlich korrupten Politikerkaste und deren Lakaien in Staat und Gesellschaft zu befreien. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Krieg mit Aserbaidschan um die Enklave Bergkarabach hatte das endlich unabhängig gewordene Land noch eine weitere bittere Lektion lernen müssen: Unabhängigkeit bedeutete lediglich, dass man nicht mehr von den fremden, sondern dafür von den eigenen Leuten betrogen, belogen und ausgesaugt wurde.

Jahrzehntelang hatte das Land resigniert in einer Dornröschenstarre verharrt. Ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, die Arbeitslosenrate beträgt fast 19 Prozent, die Wirtschaft stagniert – ganz im Gegensatz zur Inflationsrate – seit Jahren. Weite Teile des Landes hängen am Tropf der Zuwendungen der weltweiten armenischen Exilgemeinde, ohne wirklich auf eigene Füße zu kommen. Seit vielen Jahren verlassen die besten Menschen das Land: Zwischen 1991 und 2017 verminderte sich die Bevölkerungszahl von über vier auf unter drei Millionen.

Nun aber ist ein ganzes Volk aufgewacht. Eine ganze Gesellschaft lernt im Senkrechtstart den zivilen Widerstand. Ohne externe Missionare. Die Menschen haben keine Angst mehr. Und der Protest geht durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten. Die Plätze quellen über von friedlichen Demonstranten, Straßen werden blockiert, ganze Stadtteile schlagen zu bestimmten Tages- und Nachtzeiten auf Kochtöpfen die Trommel, um der herrschenden Republikanischen Partei und dem bestechlichen Beamtenapparat zu signalisieren, dass ihre Zeit nun abgelaufen ist. Wer diese Bilder gesehen hat, wird sie nie mehr vergessen! Aber der Protest beschränkt sich nicht auf die Straßen, er hat längst auch tiefere Gesellschaftsschichten erreicht: Die gut ausgebildete Jugend will ihr Land nicht mehr verlassen müssen. Studenten, von der Hochschulleitung in die Universitäten eingesperrt, befreien sich. Korrupte Schulleiter werden von Eltern und Schülern zur Rechenschaft gezogen. Die Menschen kennen nun ihre Rechte. Und sie nehmen sie wahr.

Die Revolutionäre verbitten sich jegliche Einmischung von außen. Mit Erfolg: Der Westen blieb draußen und Russland verhielt sich neutral. Und die Revolution beweist gelassen Stärke, Fröhlichkeit und Humor. Die Demonstranten räumen post festum nach den Großkundgebungen auch noch ihren Müll selber weg.

Der Umbruch in Armenien war kein Maidan

Der in den letzten Wochen immer wieder gezogene Vergleich zum Umsturz in der Ukraine, zum Maidan, hinkt. Schaut man sich die armenische Revolution 2018 und die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan 2013/14 genauer an, so springen die Unterschiede deutlich ins Auge:

Demgegenüber stellt sich der Umbruch in Armenien vollkommen anders dar:

Es verwundert daher nicht, dass die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, die armenische Revolution folgendermaßen kommentierte:

Ein Volk, welches die Kraft hat, sich sogar in schwierigen Momenten seiner Geschichte ungeachtet grundlegender Meinungsverschiedenheiten nicht zu spalten und die Achtung voreinander zu behalten, ist ein großes Volk.

Dem ist nichts hinzuzufügen.

In der Tat: Den armenischen Revolutionären geht es nicht um Geopolitik. Sie wissen sehr genau, dass es ohne Russland, mit dem das Land zwar keine heißblütige Liebesaffäre, aber immerhin eine stabile Vernunftehe verbindet, nicht geht. Russland ist für Armenien seit Jahrzehnten Schutzmacht gegenüber dem hochtraumatisch besetzten und zunehmend unberechenbarer werdenden NATO-Land im Westen.

Die Mühen der Ebene

Heute, am 8. Mai, wurde der Held des Volkes, Nikol Paschinjan, zum Ministerpräsidenten gewählt. Die Revolution hat gesiegt. Und die Menschen in Armenien haben nochmals in eindrucksvollen Bildern der Welt gezeigt, dass sie nun ihr Haus in Ordnung bringen und friedlich eine neue, demokratische Gesellschaft aufbauen wollen. Ohne Korruption und Vetternwirtschaft. Ab morgen beginnt der Alltag. Brechts Mühen der Ebene rufen: die unspektakulären, die notwendigen, die unpopulären, gar schmerzvollen. Ein Augiasstall muss ausgemistet werden. Ich wünsche dem mutigen armenischen Volk, dass es in der Durststrecke, die unweigerlich kommen wird, aus den Sternstunden der letzten Wochen die Kraft zum endgültigen Umbruch schöpfen wird.

Und dass es sich auf seinem langen Weg von keiner Seite – schon gar nicht geopolitisch – vereinnahmen lässt.

RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.