von Leo Ensel
Wer genauer wissen will, welche außen- und rüstungspolitischen Diskussionen in russischen Fachkreisen aktuell geführt werden, der sollte regelmäßig einen Blick auf die Webseite des Moskauer Thinktanks "Российский Совет по Международным Делам" (englisch: "Russian International Affairs Council") werfen. Jeder, der einigermaßen vorurteilsfrei sich die dort veröffentlichten Essays ansieht, wird erstaunt sein über die Meinungsvielfalt und Sachlichkeit der hier geführten Debatten.
Besonders lesenswert sind immer wieder die Texte des Präsidenten des РСМД (RIAC), Igor Iwanow – zwischen 1998 und 2004 russischer Außenminister –, ein frustrierter, aber zum Glück nicht verzweifelter "Westler", sprich: ein Politiker der Generation, die, wie auch Präsident Putin, noch bis in die Nuller Jahre hinein den ersten Kalten Krieg endgültig überwinden wollten und eine enge konstruktive Zusammenarbeit mit dem Westen anstrebten. Auf Augenhöhe, versteht sich.
Daraus ist, moderat formuliert, vorerst nicht allzu viel geworden, aber Iwanow bleibt unermüdlich am Ball, um noch zu retten, was zu retten ist. Vor drei Wochen publizierte er wieder einmal einen richtungsweisenden Essay mit dem programmatischen Titel "Zeit für Diplomatie". Es lohnt sich, ihn näher anzusehen.
"Die Welt befindet sich bereits im Krieg!"
Schon der Untertitel signalisiert unmissverständlich, worum es dem Ex-Außenminister geht: "Jede Krise kann zu einer globalen Katastrophe führen." Und Iwanow spricht sofort Klartext:
"Allem Anschein nach befindet sich die Welt bereits im Krieg. Nennen Sie es, wie Sie wollen: psychologische Kriegsführung, Informationskrieg, ideologische, hybride Kriegsführung oder sonst wie. Nicht das Etikett ist wichtig, sondern die immer offensichtlicher werdenden Risiken einer militärischen Konfrontation. Und auch wenn der Krieg nicht in eine 'heiße' Phase übergeht, wächst der Schaden für alle Parteien aus dem seit mehreren Jahren andauernden Konflikt in sämtlichen Bereichen – in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und anderen – unaufhaltsam."
Ein Krieg könne, so Iwanow, nur auf zwei Weisen beendet werden: Entweder gelänge einer Seite ein durchschlagender Sieg oder die Kontrahenten fänden einen Kompromiss, der den Interessen beider Seiten entspricht. Und da im Atomzeitalter keine Seite mehr in der Lage ist, einen modernen Krieg zu gewinnen – weder regional und erst recht nicht global –, bleibe nur die Option, nach Vereinbarungen zu suchen, vom derzeitigen Weg zur globalen Zerstörung abzukommen und allen Ländern Möglichkeiten für eine produktive Zusammenarbeit zu eröffnen.
Die COVID-19-Pandemie habe jüngst die Verwundbarkeit der Menschheit angesichts eines tödlichen Virus gezeigt. Die gerade weltweit durchgeführten Massenimpfungen würden nach Ansicht vieler Experten die Entwicklung einer globalen "Herdenimmunität" ermöglichen, um die Pandemie endgültig zu überwinden. Und auch wenn Versuche unternommen würden, das Impfthema zu politisieren, gewinne die Sensibilität für die wechselseitige Abhängigkeit der internationalen Gemeinschaft und das Verständnis für die Notwendigkeit, sich in schwierigen Zeiten zu helfen, allmählich die Oberhand.
"Jede Krise kann zu einer globalen Katastrophe führen"
Leider sei jedoch ein entsprechendes Bewusstsein für die Vernetzung und Gemeinsamkeit der Geschicke einzelner Länder, Regionen und Kontinente im Sicherheitsbereich auch bei führenden Politikern, Experten sowie in der internationalen Gemeinschaft insgesamt immer noch nicht vorhanden. Iwanow:
"Heutzutage kann sich jede ernste Krise der internationalen Beziehungen, selbst im entlegensten Winkel der Erde, jederzeit zu einer globalen Katastrophe auswachsen – ebenso wie eine gefährliche Infektionskrankheit, wo immer sie sich manifestiert, zu einer Bedrohung für die gesamte Menschheit werden kann. Kaum jemand ist sich bewusst, dass in den letzten Jahren praktisch alle über Jahrzehnte geschaffenen 'Sicherheitsmechanismen' zerstört wurden, die es im Krisenfall ermöglichten, eine Eskalation zu einem direkten militärischen Zusammenstoß zu verhindern. Jetzt bleiben immer weniger solcher Mechanismen, während sich immer mehr Konfliktsituationen anhäufen."
Man sieht, Iwanows Analyse basiert – ohne den Begriff explizit zu verwenden – exakt auf dem, was Michail Gorbatschow das "Neue Denken" nennt. Die Tragweite der Zerstörung fast sämtlicher noch während des Kalten Krieges geschaffenen internationalen Sicherheitsmechanismen – die, das spricht der Ex-Diplomat wohlweislich nicht direkt aus, von der Kündigung des ABM-Vertrages 2001 und des INF-Vertrages 2019 bis hin zum Ausstieg aus dem Open-Skies-Vertrag 2020 nahezu ausschließlich auf das Konto der USA geht – ist auch im Westen überhaupt nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert. Sonst hätten zum Beispiel erheblich mehr Politiker der im Bundestag vertretenen Parteien – man kann sie im Moment an maximal zwei Händen ablesen –, flankiert von einer Friedensbewegung 2.0, längst wieder vernehmlich für eine neue Entspannungspolitik plädiert. Und eine Bewegung wie "Fridays for Future" hätte, sich von der ausschließlichen Fixierung auf den Klimawandel lösend, einen erweiterten Ökologiebegriff entwickelt, der auch die Folgen der weltweiten Aufrüstung integriert.
Ein punktgenauer Weckruf zur rechten Zeit
Iwanows skeptisch-realistischer Blick auf die äußerst fragile sicherheitspolitische Weltlage bleibt, das ist das Angenehme an seinen Texten, stets lösungsorientiert. Es werde, so schreibt er, keinen einfachen Ausweg aus der gegenwärtigen Situation geben. Niemand sei in der Lage, das Gewirr der internationalen Probleme auf einen Schlag aufzulösen – selbst wenn der politische Wille dazu vorhanden wäre. Daher sei es notwendig, sich auf lange, schwierige Verhandlungen vorzubereiten.
"Die vielleicht einzige wirkliche Gelegenheit, diesen komplexen Verhandlungsmechanismus zu starten, wäre die schnellstmögliche Umsetzung des Vorschlags des russischen Präsidenten Wladimir Putin, ein Arbeitstreffen der Führer der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats zu organisieren. Bei diesem Treffen müssen die Teilnehmer konstatieren, dass die Welt sich dem sprichwörtlichen ‚Point of no Return‘ annähert und anerkennen, dass es in einem globalen Krieg keine Gewinner geben wird. Ausgehend von dieser selbstverständlichen Schlussfolgerung könnten sie unter der Schirmherrschaft des UN-Sicherheitsrates eine Arbeitsgruppe bilden, um künftige Verhandlungen über die Schlüsselprobleme der internationalen Beziehungen vorzubereiten und zu beginnen."
Durch einen solchen Beschluss würden die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats ihrer durch die UN-Charta übertragenen "primären Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" nachkommen.
Iwanows Einwurf ist ein punktgenauer Weckruf zur rechten Zeit. Und es ist vermutlich kein Zufall, dass er ihn ausgerechnet im Vorfeld des Gipfeltreffens von Joe Biden und Wladimir Putin platzierte. Dass als Ort ausgerechnet Genf gewählt wurde, könnte man mit vorsichtigem Optimismus als positives Omen deuten.
Hier wäre für die beiden Präsidenten der ideale Ort, um unmittelbar an Iwanows Vorschlag anzuknüpfen und die Genfer Erklärung von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow vom November 1985 zu erneuern, dass es in einem Atomkrieg keinen Gewinner geben kann und keine Seite Überlegenheit anstreben darf, und im Anschluss daran den Startschuss für die anschließenden langwierigen Verhandlungen en détail unter der Ägide des UN-Sicherheitsrates zu geben.
Auch dann wäre es noch ein weiter Weg, den Knäuel der zahlreichen internationalen Konflikte zu entwirren. Ein nicht zu unterschätzender atmosphärischer Anfang allerdings wäre gemacht!
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Der Essay erschien zuerst am 4. Juni 2021 im Info-Bulletin Nr. 15 des Deutsch-Russischen Forums.
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