von Leo Ensel
„Wenn Elefanten kämpfen“, lautet bekanntlich der Titel des vor einigen Wochen erschienenen Bestsellers von Deutschlands viel versprechendem Nachwuchsautor Alexander Sebastian Léonce Freiherr von der Wenge Graf Lambsdorff. Wirft man einen Blick auf das mediale Wettrüsten in Sachen Russlandbashing, das sich unsere Leitmedien gerade leisten, wird man den Verdacht nicht los, der Autor habe genau diesen Kampf der Giganten vor seinem visionären Auge gehabt, als er sich vor einigen Monaten an den Schreibtisch setzte!
Sechs Tage, nachdem am 24. April das Hamburger Nachrichtenmagazin mit seinem Fischer- und Lambsdorff-Interview eine Steilvorlage lieferte, um die sich sämtliche Schülerzeitungen der Republik gerissen hätten, legte – es mutet ein bisschen an wie die legendäre Rivalität der feindlichen Turnschuhbrüder von Herzogenaurach – das ehemalige Flaggschiff der Entspannungspolitik nach. Auffällig ist, dass es in beiden Fällen Ex-Linke sind, die sich hier als geläuterte Konvertiten bewähren dürfen: Was dem Spiegel der Ex-Sponti, das ist der ZEIT der ehemalige Maoist und heutige Welt-Kolumnist, die feinsinnige Edel-Feder Alan Posener.
Dabei bewies die Zeit die raffiniertere Personalpolitik, denn ein Ex-Maoist, Ralf Fücks vom „Zentrum Liberale Moderne“ lässt grüßen, ist im Zweifelsfalle stets die bessere Wahl: Immerhin agierten und agitierten die nicht spontimäßig nach dem ‚Bock-Prinzip‘, sondern als straff organisierte Kader, wobei sie damals tollkühn mal eben beide Supermächte zugleich attackierten! Davon ist zwar, was die USA angeht, schon lange nichts mehr übrig geblieben, aber K-Gruppen-gestählte alte Kämpfer wie Fücks und Posener wissen nach wie vor sehr genau, wie man die Sowjetunion, pardon: Russland!, bis aufs Blut reizt. Und diese Qualitäten sind aktuell wieder schwer gefragt.
Das „Säuseln von strategischer Partnerschaft mit Russland“
Poseners Essay „Deutschlands schallendes Schweigen“ gehört zu jener Sorte, bei der man nach der Lektüre geduldig abwarten muss, bis der entleerte Magen auch den Kopf wieder abkühlt. Aber dann kann es losgehen.
Der Geisteswissenschaftler gibt in seiner Einleitung, gelernt ist halt gelernt, noch mal nostalgisch den marxistischen Schriftgelehrten und zitiert – man ahnt schon, wohin der Hase läuft – des Klassikers Friedrich Engels‘ scharfe Kritik am zaristischen Russland, das schon damals „durch seine unaufhörliche Einmischung in die Angelegenheiten des Westens unsere normale Entwicklung hemmt(e) und stört(e)“, um sich die „Herrschaft über Europa zu sichern.“ (Die ML-Schulungen haben zum guten Ende sich doch noch gelohnt: Schließlich gibt es für einen passionierten Polemiker kein extatischeres Wonnegefühl, als im rechten Augenblick ein antikes Zitat eines Säulenheiligen auszugraben, das aktuelle Verwurstung verspricht!)
Und flugs spannt Posener den Bogen zur Gegenwart und macht in einem wahren Parforceritt unbarmherzig sämtliche Fünften Kolonnen, die dem neuen Zaren im Westen willig oder als nützliche Idioten zu Diensten sind, ausfindig – von DDR-Nostalgikern, Linkspartei, „der Gazprom-Fraktion der Sozialdemokratie, alt-neuen Ostlandreitern in den Vorstandsetagen deutscher Energie- und anderer Unternehmen, denen schon immer das Geschäft über die Menschenrechte ging, und ihren Lobbyisten im Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft, im Petersburger Dialog, in Union und FDP“ bis hin zu, es lebe die Kontaktschuld!, unappetitlichen rechtsextremen Strömungen und Autokraten in der Europäischen Union. Deren gemeinsames Verbrechen: Sie warnen vor einem – die polemisch-distanzierten Anführungszeichen stammen von Posener – «neuen Kalten Krieg» und „säuseln von strategischer Partnerschaft mit Russland und Wandel durch Annäherung.“
Dem gilt es nun freilich, ein für alle Male einen Riegel vorzuschieben.
„Außenpolitische Abenteuer“
Schließlich ist, laut Posener, der russische Präsident aufgrund gerade schwindender innenpolitischer Unterstützung umso mehr auf „außenpolitische Abenteuer“ aus. Es wird also brenzlig für Europa und den Anfang macht Putin natürlich mit der Ukraine – immerhin ließ er gerade Zehntausende Soldaten vor deren Ostgrenze aufmarschieren! Allerdings geht in der Argumentation des Qualitätskolumnisten – ob aus Absicht oder Unkenntnis, beides ist unentschuldbar – einiges kunterbunt durcheinander und wichtige Kontextinformationen werden, wie im deutschen Mainstream üblich, ausgeblendet.
Dass die NATO gerade zeitgleich im Rahmen der „Defender Europe 2021“ -Großmanöver mit mehr als 28.000 Soldaten aus 26 Nationen (die Ukraine, Moldawien und Georgien sind zufälligerweise auch dabei) im Baltikum, auf dem Balkan und im Schwarzen Meer, sprich: vor Russlands Haustür, den Krieg übt, wobei die Ukraine der NATO auch noch großzügig gestattete, die Krim mit Militärflugzeugen zu überfliegen – für Posener noch nicht mal eine erwähnenwerte Petitesse!
Dass der ukrainische Präsident Selenskij selbst mit gar nicht so clandestiner westlicher Militärhilfe Truppen an der Grenze zu den abtrünnigen Rebellenrepubliken Donezk und Lugansk zusammenzieht und im Karabachkrieg bestens bewährte türkische Kampfdrohnen vom Typ Bayraktar über der Ostukraine erprobt – geschenkt! Dass Selenskij Anfang Februar drei oppositionelle Fernsehkanäle ohne Gerichtsbeschluss abschalten ließ, ist ebenfalls völlig in Ordnung, schließlich ging er damit, laut Posener, „nur gegen prorussische Oligarchen und Medien vor“. (Die Erregung des Journalisten für den Fall, dass im vorangegangenen Satz statt des Namens des ukrainischen, der des russischen Präsidenten und statt der prorussischen Medien die Worte „Deutsche Welle“ oder „von ausländischen Agenten unterstützte Sender“ gestanden hätten, kann sich jedes Kind ausmalen.)
Der Clou kommt aber noch: Selenskij weigert sich nämlich, und scheint dafür Poseners volle Sympathie zu genießen, „den von prorussischen Kräften okkupierten Ostprovinzen seines Landes ‚Autonomie‘ [Anführungsstriche Posener] zu gewähren, was faktisch einem Anschluss an Russland gleichkäme.“ Nein, Herr Posener, genau das bedeutet es nicht! Tatsächlich geht es hier um die Umsetzung der Paragraphen IV, IX und XI des von der Ukraine und Vertretern der Rebellenrepubliken am 12. Februar 2015 unterzeichneten Minsk II-Abkommens, in dem sich die Ukraine unter anderem verpflichtete, bis Ende 2015 (!) eine Verfassungsreform zu verabschieden, die – Originaltext Minsk II, Paragraph XI – „als Schlüsselelement eine Dezentralisierung (unter Berücksichtigung der Besonderheiten der gesonderten Kreise der Gebiete Donezk und Lugansk, die mit den Vertretern dieser Kreise abgestimmt ist) enthalten sollte“. Die Weigerung Selenskijs bedeutet also im Klartext nichts Anderes als die Kündigung von Minsk II – wofür er von Posener auch noch wohlwollende Schützenhilfe erhält!
Atomkraft, Schlussstrich und die Ukraine in die NATO!
Den derart eingestimmten Lesern glaubt der Leitjournalist nun fast alles verkaufen zu können. So beschloss Nawalny zum Beispiel – man traut seinen Augen nicht! – jesusgleich „sein Leben aufs Spiel zu setzen für die Freiheit in Russland und damit für den Frieden in Europa.“ Europa dagegen, allen voran Deutschland, ist undankbar, degeneriert und korrumpiert. Schließlich giert es, wie Kretschmer und Söder unlängst bewiesen, nach Sputnik V und obendrein nach russischem Gas. Kurz: Das am Öl- und Gastropf und bald auch noch an der Sputnik-Fixe hängende Europa „bleibt außenpolitisch eine Geisel Putins.“ Und das einzige Kleinbonum, das dem russischen Cäsar noch Widerstand entgegenzusetzen wagt, sind – Sie ahnen es dunkel – die GRÜNEN!
Endlich kommt Posener zur Sache. Aber wenn Sie meinen, es ginge lediglich gegen Nord Stream 2, dann irren Sie sich gewaltig! Diesen Bissen hatten dem wackeren Kämpfer für die Autonomie Europas ja schon Joschka Fischer und der FDP-Graf im Spiegel weggeschnappt. Nun müssen erheblich schärfere Sachen her und Posener meistert diese Aufgabe mit Bravour: Mit dem Ende der russischen Öl- und Gaslieferungen „würde sich eine Kanzlerin Annalena Baerbock sehr schnell mit der Frage konfrontiert sehen, ob ein Industrieland tatsächlich die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern allein mit alternativen Energien überwinden kann. Ohne Atomkraft dürfte das kaum möglich sein.“ (Welch ein Zufall, dass diese gewagten Thesen sich exakt mit denen der Petersburger-Dialog-Mitfrau, Ukraineversteherin und Mitdame des Fachbeirats Europa/Transatlantik der Heinrich-Böll-Stiftung, der „Nuclear-Pride“-Frau, Dr. Anna Veronika Wendland decken!)
Mit diesem mutigen Plädoyer für eine Renaissance der Atomenergie hat Posener sich zweifellos den ersten Tusch verdient, aber einmal in Fahrt gekommen, ist er nicht mehr zu bremsen. Jetzt steht nichts weniger als eine Kulturrevolution an: „Klimaschutz und Geopolitik müssen hier ein Überdenken alter grüner Dogmen erzwingen.“
Und nun zaubert der Magier der Sinne die finale Pointe aus dem Zylinder, auf die er achttausend Zeichen lang zielgerichtet zugesteuert hatte:
„Darüber hinaus muss sich gerade die kulturelle Linke von der Vorstellung lösen, der Frieden mit Russland um beinahe jeden Preis sei wegen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941 eine moralische Pflicht.“
Stattdessen sollte es „zur deutschen Staatsräson gehören“, der von Stalin geschundenen Ukraine „Sicherheit in der NATO zu geben und einen Weg zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu weisen“.
Poseners Conclusio erübrigt jeden Kommentar. Sie verdient es, der Nachwelt – sollte diese nach konsequenter Umsetzung seines Vabanquespiels noch existieren – in Stein gemeißelt hinterlassen zu werden!
PS:
Dass Posener, wenn er will, durchaus auch anders kann, hat er unter anderem vor zwei Jahrzehnten mit seiner klugen und empfindsamen Biographie einer gewissen Mirjam aus Nazareth unter Beweis gestellt. Es ist dem leidenschaftlichen Russlandbasher zu wünschen, dass er so schnell wie möglich in diese Liga zurückfindet! Wie wäre es zum Beispiel – es ist gerade hochaktuell – mit der Lebensgeschichte des Heiligen Franz von Assisi?
Von ihm könnte Posener nicht zuletzt die Tugend der Selbstbescheidung lernen.
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