Toxische Indifferenz: Heinrich-Böll-Stiftung, Atomwaffen und der "Aufschrei" der Basis

Leo Ensel

Wer sich sexistisch oder rassistisch äußert, muss heute umgehend von Führungspositionen zurücktreten. Wo aber bleibt der kollektive Aufschrei, wenn ein Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung sich für die "nukleare Teilhabe" und massive Aufrüstung der Bundeswehr ausspricht?

von Leo Ensel

Gerade mal anderthalb Wochen ist es her, dass der Präsident des Komitees für die kommenden Olympischen Sommerspiele in Japan Yoshiro Mori zurücktreten musste. Folgende Aussage wurde ihm zum Verhängnis: Frauen hätten einen starken Sinn für Rivalität. "Wenn eine von ihnen ihre Hand hebt, denken sie wahrscheinlich, dass sie auch etwas sagen müssen. Und dann sagen alle etwas", wurde Mori zitiert. Auf diese Weise zögen sich Sitzungen mit Frauen in die Länge. Diese Bemerkung war dumm und geschmacklos; sie war, um es im heutigen Jargon auszudrücken: sexistisch.

Die Strafe folgte auf dem Fuße: Ein Sturm der Entrüstung fegte durch Japan und zog auch international weite Kreise. Binnen drei Tagen wurden für eine Onlinepetition, die Moris Rücktritt forderte, 100.000 Unterschriften gesammelt. Rund 390 freiwillige Olympia-Helfer weigerten sich aus Protest, ihr Ehrenamt anzutreten. Eine Umfrage der Nachrichtenagentur Kyodo ergab, dass 60 Prozent der Japanerinnen und Japaner den ehemaligen Premierminister Mori für sein aktuelles Amt für ungeeignet halten. Das Internationale Olympische Komitee erklärte, die Aussagen des japanischen Funktionärs seien "absolut unangebracht und im Widerspruch zu den Verpflichtungen des IOC und den Reformen seiner Olympischen Agenda 2020." Und die deutsche taz verlieh Mori prompt die "Goldmedaille für Sexismus". Dass Mori sich kleinlaut halbherzig entschuldigte, nützte ihm nichts mehr. Sein Rücktritt war besiegelt.

Der Fall demonstriert zweierlei: Er zeigt zum einen, wie stark Sexismus in den meisten Ländern und internationalen Organisationen nach wie vor verankert ist. Er macht aber auch klar, wie peinlich genau mittlerweile in der westlichen Welt eine wache Öffentlichkeit jede Entgleisung registriert und unerbittlich ahndet. Kurz: Er signalisiert unmissverständlich den heutigen Maßstab und die Fallhöhe für sexistische und, so kann man ergänzen, rassistische Äußerungen.

Die negative Explosion

Nun sind allerdings sexistische und rassistische Entgleisungen nicht die einzigen skandalträchtigen Ausführungen auf diesem Planeten. Was geschieht beispielsweise, wenn sich ein Vorstandsmitglied einer Organisation mit Wurzeln in der Friedensbewegung an einem Strategiepapier beteiligt, das von Deutschland eine "wesentliche Kraftanstrengungen zur besseren konventionellen Verteidigungsfähigkeit der NATO", eine "nukleare Teilhabe" und eine "nukleare Schutzzusage" der USA fordert, "solange es Nuklearwaffenstaaten außerhalb der NATO gibt"?

Was passiert also, wenn Ellen Ueberschär von der Heinrich-Böll-Stiftung, die den Namen eines Literaturnobelpreisträgers trägt, der auf der großen Friedensdemonstration am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen die Hauptrede hielt und zwei Jahre später zusammen mit anderen Prominenten die Zufahrtswege zum Raketenstützpunkt Mutlangen blockierte, dafür plädiert? Welcher Orkan bricht los, wenn diese Dame zusammen mit Vertretern aller transatlantischen Thinktanks ein solches Dossier nicht nur unterzeichnet, sondern auch noch maßgeblich mitverfasst und in ihrer Stiftung stolz der Öffentlichkeit präsentiert?

Machen wir, um uns diese Ungeheuerlichkeit in ihrem ganzen Ausmaß zu vergegenwärtigen, nochmals klar, was mit dem wohlklingenden Wort "nukleare Teilhabe" eigentlich gemeint ist: Im sogenannten "Ernstfall" würden Bundeswehrsoldaten mithilfe gerade bestellter US-amerikanischer F18-Kampfjets die im rheinland-pfälzischen Büchel gelagerten zwanzig Atomsprengköpfe ins Ziel, d.h sehr wahrscheinlich nach Russland, fliegen und dort ausklinken. Mit anderen Worten: Die grüne Theologin Dr. Ellen Ueberschär nimmt – sehr moderat formuliert – die hunderttausend- oder millionenfache Tötung russischer Frauen, Kinder und Männer billigend in Kauf!

Wo aber bleibt der fällige kollektive Aufschrei, wenn ein Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung dermaßen eklatant gegen das Leitbild der eigenen Organisation – "Gewaltfreiheit und eine aktive Friedenspolitik" – verstößt?

Machen wir es kurz und schmerzlos: Das Echo im grünen Umfeld glich einer negativen Explosion!

"Verwundert, schleierhaft, ganz alte Lieder"

Dort passierte nämlich folgendes:

Ex-Fundi Jürgen Trittin äußerte sich "verwundert": "Wer von einer Neubestimmung des transatlantischen Verhältnisses redet, sollte mehr liefern als Rezepte der Achtzigerjahre. Wer das anachronistische Zwei-Prozent-Ziel, Aufrüstung und nukleare Abschreckung zum Kern eines neuen Bündnisses liberaler Demokratien machen will, singt ganz alte Lieder." Schleierhaft sei ihm, was "an diesem neokonservativen Aufschlag grünennah sein soll".

"Verwundert" gab er sich. "Schleierhaft" war ihm zumute. Und "ganz alte Lieder" wurden seiner Meinung nach gesungen. Handzahmer und altersmilder hätte die Stellungnahme des Parteilinken angesichts dieses Eklats nicht ausfallen können!

Und er war nicht der Einzige.

"Gerne auch in gemeinsamen Projekten"

Vertreterinnen einer "Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit", die einen, was immer das sein mag, "intersektional-feministischen Blick auf Atomwaffen" werfen, appellierten lauwarm an die Heinrich-Böll-Stiftung, sich doch bitte "auch beim Themenkomplex Atomwaffen an einem feministischen Sicherheitsverständnis zu orientieren". So müsse die Perspektive der Überlebenden von Atomwaffeneinsätzen – "insbesondere mehrfach marginalisierte Gruppen, beispielsweise indigene Gruppen pazifischer Inselstaaten, welche bis heute mit den gesundheitlichen und ökologischen Folgen von Atomwaffentests konfrontiert sind" – weltweit in den Fokus gerückt werden. Zudem seien "Menschen mit Eierstöcken und Gebärmutter von einem höheren Risiko von Langzeitfolgen betroffen". Man, pardon: frau, habe "kein Verständnis dafür, dass Frau Dr. Ellen Ueberschär als Vorstand der parteinahen Stiftung der Grünen die besagte Veröffentlichung mitträgt und die Stiftung selbst die Veröffentlichungsveranstaltung sogar organisierte".

Damit hatten die streitbaren Feministinnen die Heinrich-Böll-Stiftung zwar brillant mit deren eigenen Waffen geschlagen, aber letztlich beschränkten auch sie sich auf hochgezogene Augenbrauen und den (augenzwinkernd) drohenden Zeigefinger: Aber, aber! So was macht man doch nicht!

Denn zum Schluss gab es doch noch unter Schwestern ein Versöhnungsküsschen auf die Backe: "Wir hoffen, dass sich Frau Dr. Ellen Ueberschär und die Heinrich-Böll-Stiftung ihrer Verantwortung bewusst sind und in Zukunft wieder vermehrt konstruktive Impulse für menschliche und feministische Sicherheitskonzepte beim Themenkomplex Atomwaffen und nukleare Abrüstung setzen – gerne auch in gemeinsamen Projekten."

Na, also. "Gerne auch in gemeinsamen Projekten." Anbiedernder ging es nicht mehr!

War da was? Nein, alles wieder gut! Wie beim Pawlow'schen Hund scheint allein der Gedanke an die zum Greifen nahen Fleischtöpfe der kommenden Regierungsbeteiligung den Speichel in Fluss zu bringen: Schwestern, zur Sonne, zu den Projekten, den ABM-Stellen und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnenstellen in der Ministerialadministration! Unwillkürlich fragt man sich, was in diesem Milieu los gewesen wäre, hätte nicht eine Vorständin sich öffentlich für die "nukleare Teilhabe" ausgesprochen, sondern ein (männliches) Vorstandsmitglied sich über ausuferndes weibliches Redeverhalten beschwert ...

Toxische Indifferenz

Am deutlichsten, wenn auch in wohlgesetzt höflichen Worten, formulierten ihre Kritik noch die Stiftungsstipendiaten. Die zeigten sich von der Unterstützung der nuklearen Teilhabe im Positionspapier "zutiefst enttäuscht". Deren Abschreckungswirkung sei fraglich und ihre Völkerrechtskonformität "unter Experten*innen umstritten". Doch auch die grünen Nachwuchskräfte schlossen ihren höchst moderaten "Diskussionsbeitrag" versöhnlich mit einem friedenspolitischen Allerweltszitat des Literaturnobelpreisträgers: "Für den Frieden sind wir alle, die Frage ist nur, wie er sicherer wird – durch Rüstung oder Abrüstung."

Das war es.

Traute sich – "Traut Euch!" lautet schließlich das neue Motto – irgendjemand aus dem gesamten grün-alternativen Milieu, wo jedes dritte Wort "Zivilcourage", "Gesicht zeigen!" oder wenigstens "streitbare Toleranz" lautet, den Rücktritt der atomwaffenaffinen grünen Theologin zu fordern? – Keineswegs!

Mittlerweile ist man längst wieder zur Tagesordnung übergegangen. Die Heinrich-Böll-Stiftung widmet sich nun anderen menschheitsrettenden Themen: "ZUSAMMEN – Spiel dich fit für Vielfalt", "Russland: Für Rechtsstaatlichkeit, gegen staatliche Gewalt", "Urban, sozial, grün, gemischt! – Nachhaltige neue Stadtquartiere in Berlin und anderswo" oder "Boxen im Nationalsozialismus" lauten die aktuellen Stichworte. Und Frau Dr. Ellen Ueberschär kann sich beruhigt zurücklehnen, sie wird – dafür sorgt der Opportunismus des Milieus – auch weiterhin gut schlafen können. Das Schicksal eines Herrn Mori wird sie niemals ereilen.

Kurz, der negative Aufschrei der grünen Basis war ohrenbetäubend. Das Wort, das ich für dieses jämmerliche Versagen vorschlage, lautet:

Toxische Indifferenz!

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