von Leo Ensel
Der neue US-Präsident Joe Biden hat vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Krise um die Ostukraine dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ein persönliches Gipfeltreffen in einem Drittland vorgeschlagen, um "die ganze Bandbreite der Themen zu erörtern, mit denen die Vereinigten Staaten und Russland konfrontiert sind". Dem Weißen Haus zufolge soll Biden auch sein Ziel bekräftigt haben, eine stabile Beziehung mit Russland aufzubauen, und die Absicht erklärt haben, einen strategischen Dialog mit Moskau über Sicherheitsfragen und Rüstungskontrolle zu verfolgen.
Der erste und letzte Präsident der ehemaligen Sowjetunion, Michail Gorbatschow, der Mitte der Achtzigerjahre demonstriert hatte, wie man aus einer scheinbar ausweglosen Sackgasse herauskommen kann, wenn man das wirklich will, reagierte umgehend und packte Bidens Vorschlag beim Schopf:
"Dies ist der einzige Weg, um bilaterale Beziehungen auf eine neue Weise aufzubauen. Darüber hinaus haben unsere Länder Erfahrungen. Ich denke an meine Treffen mit Präsident Reagan in Genf und Reykjavík. Die Zeit läuft davon. Wir müssen unverzüglich handeln und die Botschafter und Außenminister anweisen, mit den Vorbereitungen für den Gipfel zu beginnen."
Nehmen wir also einmal an, Bidens Vorschlag wäre kein Eröffnungsschachzug für ein intendiertes "Blamegame", sondern tatsächlich ernst gemeint, und unterstellen wir weiterhin, Präsident Putin hätte ebenfalls Interesse an einer grundsätzlichen Neuorientierung der Beziehungen und würde daher – wie seinerzeit Gorbatschow, den Helmut Kohl ja anfangs mit Goebbels verglichen hatte – beide Augen zudrücken und im Dienste der Deeskalation Bidens beleidigende "Mörder"-Äußerung vergessen: Welche ersten Schritte gäbe es dann für beide Seiten, gesichtswahrend aus der gegenwärtigen Sackgasse herauszukommen und im optimalen Falle sogar einen Neustart für eine Entspannungspolitik 2.0 zu initiieren?
Die gute Nachricht: Praktikable Vorschläge liegen längst vor. Die noch bessere Nachricht: Ein erster wesentlicher Schritt wurde von beiden Seiten bereits unternommen. Der New-START-Vertrag, der die Zahl der amerikanischen und russischen strategischen Atomsprengköpfe auf je 1.500 und die der Trägersysteme auf je 800 begrenzt, wurde Anfang Februar in buchstäblich letzter Minute doch noch um fünf Jahre verlängert, wodurch zumindest die akute Gefahr eines neuen atomaren Wettrüstens auf strategischer Ebene unterbunden wurde. Welche Schritte könnten auf einem intendierten Gipfeltreffen folgen – vorausgesetzt, der politische Wille dazu wäre vorhanden?
Erste Schritte aus der Konfrontation
Als Allererstes könnten beide Seiten die Erklärung des ersten Gipfeltreffens von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow in Genf im November 1985 erneuern, nach der ein Atomkrieg keinen Gewinner haben kann, daher auch niemals begonnen werden darf und keine Seite Überlegenheit anstrebt. Um dieser Erklärung unmittelbar Taten folgen zu lassen, könnten die USA und Russland wieder in den Open-Skies-Vertrag einsteigen, der durch wechselseitige kontrollierte Überflugrechte den Vertragsparteien 'Glasnost' ermöglicht und damit der Vertrauensbildung dient.
Zugleich sollten Russland und die USA betonen, dass sie nach wie vor hinter den Vereinbarungen von Minsk II stehen und alle Vertragsparteien auffordern, ihren jeweiligen Verpflichtungen aus dem Abkommen nachzukommen. Beide Seiten könnten sich zudem offiziell verpflichten, sich jeglicher externer Einmischung in den innerukrainischen Konflikt zu enthalten. Sollten die USA und Russland tatsächlich an einer unmittelbaren Deeskalation in der Ukraine sowie im bilateralen Verhältnis untereinander interessiert sein, so könnten die USA im optimalen Falle die Manöver "Defender 2021" stoppen, was Russland die Gelegenheit gäbe, seine an der Grenze zur Ukraine zusammengezogenen Truppenverbände ins Landesinnere zurückzuziehen.
All diese Maßnahmen könnten ohne großen Aufwand zeitnah umgesetzt werden und würden – vor allem, wenn die USA sich tatsächlich dazu entschließen sollten, dem Iran-Atomabkommen wieder beizutreten und dort konstruktiv mit allen Seiten zu kooperieren – die Atmosphäre zwischen den USA und Russland schlagartig deutlich verbessern.
In einem so entspannteren Umfeld könnten dann bilaterale Verhandlungen über land- und möglicherweise auch seegestützte ballistische Raketen und Marschflugkörper mittlerer und kürzerer Reichweite aufgenommen werden. Beide Seiten sollten sich zudem verpflichten, für den Zeitraum der Verhandlungen keine der genannten Waffensysteme zu stationieren. Gorbatschow, der seinerzeit mit dem INF-Vertrag den bedeutendsten Abrüstungsvertrag der Weltgeschichte erreichte, schrieb dazu in seinem 'politischen Testament' "Was jetzt auf dem Spiel steht":
"Wenn Russland und die Vereinigten Staaten sich erneut an den Verhandlungstisch setzen, wird sich auch die Stimmung insgesamt verbessern. Und ebenso die Voraussetzungen für den Dialog mit anderen Ländern, die ebenfalls Atomwaffen besitzen. Die Erfahrung zeigt, dass nicht nur bei atomarer Aufrüstung Wettbewerb möglich ist, sondern auch beim Verzicht."
Eine neue Entspannungspolitik
Damit könnte der Weg frei sein für eine Entspannungspolitik 2.0 zwischen dem Westen und Russland. In ihrem vor drei Jahren erschienenen Buch "Eiszeit" hat die ehemalige Russlandkorrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, eine Roadmap aus der gegenwärtigen politischen Sackgasse vorgelegt, an die beide Seiten, guten Willen immer vorausgesetzt, nun anknüpfen könnten.
Ich skizziere hier nochmals kurz ihre nach wie vor aktuellen Gedanken: Verzicht der NATO auf die Fertigstellung bzw. Inbetriebnahme des geplanten Raketenabwehrsystems mit seinen Modulen in Rumänien und Rückzug der russischen Iskander-Raketen aus dem Kaliningrader Oblast. Anschließend könnte eine große "Konferenz zur gemeinsamen Sicherheit in Europa und der Welt" durchgeführt werden. Würde die NATO hier die Beitrittsperspektive für die Ukraine und Georgien zurücknehmen, so könnte Russland seinerseits einer Stationierung internationaler Friedenstruppen unter UN-Mandat im Donbass zustimmen. Denkbar wären zudem Verhandlungen über einen Rückzug der Truppen von NATO und USA aus Polen und dem Baltikum, wenn Russland bereit wäre, zugleich seine grenznahen Truppen aus den westlichen Militärbezirken und dem Kaliningrader Oblast zurückzuverlegen.
Für das heikle Thema "Krim" schlägt Krone-Schmalz eine Regelung analog zum Saarland nach dem Ersten Weltkrieg vor: Die Krim würde zum Mandatsgebiet der UN erklärt. Sie bliebe völkerrechtlich bei der Ukraine, Russland jedoch wäre mit der Verwaltung betraut. Nach einer zu vereinbarenden Frist würde unter UN-Aufsicht ein erneuter Volksentscheid der Krimbevölkerung über deren staatliche Zugehörigkeit durchgeführt, der dann international anerkannt und bindend wäre.
Flankierend könnte ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Eurasischen Zollunion abgeschlossen werden, auch um die Ukraine aus dem Spannungsfeld zwischen dem Westen und Russland zu entlassen. Schließlich solle sich der Westen jeglicher "Regimechange-Versuche" gegenüber Russland enthalten.
Zugegeben: Fast alle Schritte sind (noch) Zukunftsmusik – utopisch sind sie aber keineswegs! Es gibt Alternativen zur gegenwärtigen Eskalationspolitik, sie müssen allerdings wieder aufs Tapet gebracht werden und es bedarf einer wiedererstarkten Friedensbewegung, die in diese Richtung Druck 'von unten' ausübt. Nach wie vor gilt: Der Frieden ist zu wichtig, um ihn nur den Politikern und Generälen zu überlassen!
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