Syrien: Streit im UN-Sicherheitsrat um grenzüberschreitende Hilfe

Karin Leukefeld

Eine Abstimmung im UN-Sicherheitsrat (UNSR) über die Verlängerung von grenzüberschreitenden Hilfsmaßnahmen nach Idlib wurde am Donnerstag verschoben. Man wolle noch Zeit für Verhandlungen geben, hieß es aus namentlich nicht genannten diplomatischen Kreisen in New York.

von Karin Leukefeld, Beirut

Zwei Resolutionen stehen zur Abstimmung. Irland und Norwegen legten in Abstimmung mit den westlichen Veto-Mächten (P3) USA, Großbritannien und Frankreich einen Entwurf vor, der die Öffnung des türkisch-syrischen Grenzüberganges Bab al-Hawa nach Idlib um ein weiteres Jahr verlängert. Die ursprünglich geforderte zusätzliche Öffnung des irakisch-syrischen Grenzüberganges al-Yaroubiyah im Nordosten Syriens wurde zurückgenommen.

Die P3-Mächte hatten ursprünglich mit Estland die Öffnung von drei Grenzübergängen für ein weiteres Jahr gefordert: Bab al-Hawa, Bab al-Salameh (nördlich von Azaz) und al-Yaroubiyah.

China, Indien und Russland kritisieren, dass keiner dieser Vorschläge die Notwendigkeit und den Ausbau von "frontüberschreitenden" Hilfslieferungen vorsieht. Danach soll Hilfe innerhalb Syriens in Gebiete unter ganzer oder teilweiser Kontrolle bewaffneter Regierungsgegner verteilt werden. Zudem müssten die negativen Auswirkungen von einseitigen Sanktionen (seitens der EU und der USA) auf die humanitäre und Versorgungslage in Syrien benannt werden.

Der russische UN-Botschafter Vassily Nebenzya hatte am 30. Juni vor Journalisten klargemacht, dass Russland eine Verlängerung der grenzüberschreitenden Hilfslieferungen nicht zustimmen wolle. "Wir müssen sicherstellen, dass die Lieferungen stabil über die Frontlinien innerhalb Syriens verteilt werden", sagte er. Die Öffnung von weiteren Grenzübergängen nannte Nebenzya einen "Rohrkrepierer" (englisches Original: non-starter). Der russische Außenminister Sergei Lawrow kritisierte am gleichen Tag, der von Irland und Norwegen vorgelegte Resolutionsentwurf ignoriere völlig zahlreiche Punkte, die Russland für die schwierige humanitäre Lage in Syrien benannt habe. Lawrow nannte konkret die Auswirkungen der einseitigen von der EU und den USA gegen Syrien verhängten Sanktionen und dass "einige Sicherheitsratsmitglieder sich weigern, Hilfslieferungen internationaler Organisationen über Damaskus und die Frontlinien abzusichern", so der russische Außenminister.

Nachdem die für den 8. Juli vorgesehene Abstimmung um einen Tag verschoben wurde, hat Russland nun einen Entwurf vorgelegt. Demnach soll der Grenzübergang Bab al-Hawa noch lediglich sechs Monate geöffnet bleiben. Zudem sollen zahlreiche Änderungen an dem bestehenden Kontrollmechanismus der Hilfslieferungen vorgenommen werden. Nach Ablauf der sechs Monate sollen – wie es das humanitäre Völkerrecht vorsieht – alle Hilfsgüter für Idlib und ganz Syrien über die Regierung in Damaskus koordiniert werden. Der Entwurf sieht auch "frühzeitige Erholungsprojekte" vor, mit denen "die Versorgung mit Wasser, sanitären Maßnahmen, im Gesundheitsbereich, bei der Bildung und dem Wohnen" gefördert werden sollen. Der UN-Generalsekretär solle die Umsetzung solcher Projekte in seinen regelmäßigen Bericht aufnehmen.

Kritiker sehen solche Projekte als Wiederaufbauhilfe, die sie für Syrien unter Präsident Baschar al-Assad ablehnen. Die Außenminister der G-7-Staaten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, USA) hatten bei einem Treffen Anfang Mai in einer Syrien-Erklärung festgehalten, dass es Wiederaufbauhilfe für Syrien erst dann in Erwägung gezogen werde, wenn ein "glaubwürdiger politischer Prozess" im Sinne der UN-Sicherheitsratsresolution 2254 im Gange sei.

"Weißhelme" fordern eine Lebensader für Idlib …

Hunderte Mitarbeiter syrischer oppositioneller und internationaler Hilfsorganisationen bildeten am 2. Juli eine Menschenkette zum türkisch-syrischen Grenzübergang Bab al-Hawa. Unter ihnen – das zeigen Filmaufnahmen – waren Dutzende "Weißhelme", ein von europäischen Staaten und Kanada finanzierten Zivilschutz der bewaffneten Opposition. Mit der Aktion "Lifeline", Lebensader, forderten sie die Verlängerung des UNSR-Mandates, um den Grenzübergang offen zu halten.

Das oppositionelle "Syrische Netzwerk für Menschenrechte" (SNHR) erklärte derweil, die "UN-Hilfe für Nordsyrien, die neutral und absolut notwendig" sei und die "mit der Genehmigung der kontrollierenden Kräfte" verteilt werde, gar "keine Genehmigung vom UN-Sicherheitsrat" brauche. Dem "syrischen Regime, das beschuldigt wird zu stehlen und humanitäre Hilfe zu plündern, behindert den Zugang zu vielen Gebieten", die es belagere und aushungere, so SNHR. Man könne ihm nicht vertrauen.

.. auch ohne die UNO

Ähnlich äußerte sich in einem Interview im Deutschlandfunk die ehemalige ARD-Hörfunk-Korrespondentin in Syrien Kristin Helberg. Sie sagte, dass 90 Prozent der humanitären Hilfe für Syrien von Deutschland und den USA bezahlt werde. Dieses Geld müsse notfalls auch ohne UNO-Mandat eingesetzt werden, um zu helfen.

Sollte Russland die Fortsetzung der grenzüberschreitenden Hilfe per Veto verhindern, solle Deutschland zeigen, dass es gewillt sei, „im Zweifelsfall auch ohne die UN diesen Grenzübergang Bab al-Hawa zu benutzen. Das ist im Übrigen die Forderung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sagen, die Bundesregierung hat die Verpflichtung, ihr eigenes Geld so anzuwenden, dass den Menschen in Idlib weiterhin geholfen wird." Ohne die UNO könne man das Geld an "große internationale Agenturen" geben, möglicherweise an "die GIZ, die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, die ja vor Ort ein großer logistischer Partner ist und die so etwas im Zweifelsfall auch leisten könnte mit anderen".

Der deutsche Minister für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit Gerd Müller reihte sich in die Front derjenigen ein, die dafür eintreten, dass Bab al-Hawa jenseits syrischer staatlicher Kontrolle für grenzüberschreitende Lieferungen offenbleiben soll. Müller warnte Russland, kein Veto dagegen im UN-Sicherheitsrat einzureichen, eine Blockade sei "inakzeptabel", sagte er der Augsburger Allgemeinen Zeitung am 8. Juli 2021. Eine Schließung des Grenzüberganges "wäre desaströs in einer Situation, in der COVID-19 in Syrien wütet", so Müller. "Anstatt den einzig verbleibenden Grenzübergang zu schließen, benötigen wir mindestens zwei Übergänge."

Auch die EU warnte vor einer "Katastrophe", sollte Bab al-Hawa, der letzte von einst vier Grenzübergängen nach Syrien, ebenso geschlossen werden. "Eine Nicht-Erneuerung dieser Lebensader über Bab al-Hawa würde enorme dramatische Konsequenzen haben für Millionen von Menschen", sagte EU-Kommissar Janez Lenarčič am Donnerstag im türkischen Ort Reyhanli, der nahe der syrischen Grenze liegt. "Dieser Übergang muss erhalten bleiben."

Zuvor hatte Lenarčič Bab al-Hawa einen Besuch abgestattet, wo er erklärte, es gebe keine "realisierbare Alternative" zu dem Grenzübergang. "Er könnte sicherlich nicht vollständig ersetzt werden, weil es sich um eine riesige Operation handelt, die derzeit über die Grenzen (!) von der Türkei nach Nordwestsyrien gelangen", sagte er. "Es ist eine riesige Operation, rund 1.000 Lastwagen überqueren monatlich die Grenze." Im Juni waren es nach UN-Angaben 1.160 Lastwagen, die aus der Türkei über Bab al-Hawa nach Idlib fuhren.

Wohin geht die Hilfe?

Die von ihnen verteilten Hilfsgüter aus den Bereichen Lebensmittel, Bildung, Gesundheit, Hygiene/Wasser, Unterkunft und Landwirtschaft erreichten nicht nur Idlib, sondern auch die Bezirke Afrin, Azaz und Jbeil Saman, die alle zu Aleppo gehören. Afrin ist seit Januar 2018 von der Türkei und einer Armee aus Dschihadisten besetzt, die zuvor Krieg gegen Syrien in Aleppo, Homs und Damaskus geführt hatten. Bevor diese Truppen in Afrin einfielen, lebten in Afrin und den umliegenden Dörfern bis zu 300.000 syrische Kurden. Heute leben sie als Inlandsvertriebene in Lagern von Tell Rifaat oder in Scheich Maksud, einem kurdischen Viertel unter Selbstverwaltung im Norden der Stadt Aleppo.

Azaz ist seit Beginn des Krieges Basis für westliche Intervention im Namen der Humanität. Inzwischen gilt Azaz als  Hauptquartier der vom Westen unterstützten "Exilregierung", die vom Nationalrat für revolutionäre und oppositionelle Kräfte Syriens (Etilaf) mit Sitz in Istanbul ins Leben gerufen wurde.

Die USA und ihre Partner in Europa, Israel und am arabischen Golf unterstützen in Idlib Kräfte, die einen "Islamischen Staat" gründen wollen. Im Nordosten Syriens fördern sie eine "Euphrat-Provinz", die vom syrischen Öl, Weizen, Wasser und der Baumwolle profitieren soll. Der NATO-Partner Türkei kolonisiert derweil Teile Nordsyriens und bildet mit Dschihadisten eine neue Armee.

Das alles geschieht im Rahmen einer humanitären Intervention, die der UN-Sicherheitsrat zur Hochzeit des Krieges in Syrien 2014 per Resolution legitimierte. Längst hat sich die Lage im Land beruhigt, doch die Architekten der Intervention wollen, dass sie weitergeht. In keinem anderen Land der Welt wird die Souveränität und territoriale Integrität eines Staates so anhaltend verletzt wie in Syrien.

Russland und Syrien fordern, die Maßnahme zu beenden, weil sie dem Land die Kontrolle über große Teile Syriens und der sich dort befindlichen nationalen Ressourcen wie Oliven, Wasser, Weizen, Gas und Öl entzieht. "Humanitäre Korridore" aus einem Land in ein anderes sind eine befristete Ausnahmeregelung und müssen vom UN-Sicherheitsrat regelmäßig neu beschlossen werden.

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