von Karin Leukefeld
Im Jemen herrschen Krieg und unvorstellbare Armut. Die Vereinigten Arabischen Emirate kämpfen mit der Corona-Pandemie. Der Irak ist erneut in einen inneren Machtkampf verwickelt. In den Nordirak ist die Türkei einmarschiert, um die kurdische Arbeiterpartei PKK zu "eliminieren". Syrien steckt in einer massiven Wirtschaftskrise, die sich sowohl durch EU- und US-Sanktionen als auch durch die Folgen des Krieges täglich verschärft. Teile Syriens werden von der Türkei und der US-geführten Anti-IS-Allianz besetzt gehalten. Jordanien hat gerade eine Palastrevolte überstanden, Saudi-Arabien bereitet sich auf den Thronnachfolger vor, der Libanon erlebt ein politisches sowie wirtschaftliches Chaos und die Palästinenser sind weiterhin Provokationen der israelischen Streitkräfte ausgesetzt. Ohne Aussicht auf Rückkehr in ihre Heimat leben Millionen Menschen in ihren eigenen Ländern oder im benachbarten Ausland in Lagern. Die Arbeitslosigkeit in der Region ist groß, wer kann, verlässt sein Land und sucht Arbeit in anderen Teilen der Welt.
Auch wenn zukünftig möglicherweise in Teheran harschere Töne angeschlagen werden mögen, ist in der iranischen Politik für die Region kaum eine Kursänderung zu erwarten. Iran wird seine Interessensphären behaupten. Er ist und wird eine islamische Republik bleiben, die – wie alle Staaten der Region – ernste wirtschaftliche Probleme zu bewältigen hat. Seit sich der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman entschieden hat, mit Iran einen Dialog zu führen, hofft man in der Region auf Entspannung zwischen den beiden Regionalmächten.
Das politische Machtzentrum Irans liegt nur bedingt im Präsidialamt, sondern hauptsächlich beim religiösen Führer Ayatollah Ali Chamenei. Insbesondere bei der regionalen Außenpolitik verfügen die Revolutionsgarden über eigenen Spielraum und Einfluss. Ihr wichtigstes Ziel ist es, die US-Truppen aus der persischen Golfregion zu vertreiben. Die USA bereiten tatsächlich eine Reduzierung ihrer militärischen Präsenz im Nahen Osten vor, um die Truppen weiter gen Osten, Richtung China, zu verlegen.
Iranische Interessensphäre
Seit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der von den USA geführten Allianz in den Irak (2003) konnte Iran seine regionalen Interessensphären ausweiten. Russland hat Iran als einen seiner wichtigsten Partner im Syrienkrieg bezeichnet und baut wirtschaftliche sowie militärische Beziehungen zu Teheran aus. Die langjährigen Beziehungen zwischen Iran und China wurden kürzlich mit einem bilateralen Wirtschaftsabkommen für 25 Jahre in Höhe von etwa 400 Milliarden US-Dollar weiter gefestigt. Nicht zuletzt unter dem Druck des Westens und der jahrzehntelangen US-Sanktionen hat Iran seine ursprüngliche Devise "nicht Ost und nicht West" aufgegeben und wendet sich dem Osten zu. All das geschieht mit Zustimmung des obersten Revolutionsführers Ali Chamenei und es ist unwahrscheinlich, dass der neue Präsident Ebrahim Raissi sich davon abwenden könnte. Für den dogmatischen Kleriker Raissi könnte das Amt des Präsidenten nur ein Zwischenschritt sein, um eines Tages den Platz von Ali Chamenei einzunehmen, sollte dieser sterben.
Angesichts vieler innenpolitischer und vor allem wirtschaftlicher Probleme ist Iran nicht an einer weiteren Verschärfung der Lage im Nahen Osten interessiert. Seit 2018 betreibt das Land eine intensive Friedenspolitik in der Region. Würden die Staaten der Region ihre unterschiedlichen Interessen durch Verhandlungen über Sicherheit und Zusammenarbeit und mit bilateralen sowie regionalen Wirtschafts- und Sicherheitsabkommen ausgleichen, wäre der Region eine bessere und vor allem friedlichere Zukunft gewiss. Das aber wird seit dem Ende des Ersten Weltkriegs verhindert, weil die USA und ihre Partner in Europa sowie Israel die Kontrolle über die geostrategisch wichtige Region und die Ressourcen beanspruchen.
Der Blick "der Welt" auf die Region
Zahlreiche Medien befassen sich folgerichtig in Kolumnen, Meinungsstücken oder Analysen eher mit der Frage, was die Wahl des Klerikers Ebrahim Raissi für "die Welt" bedeuten mag, wobei "die Welt" als Umschreibung für die USA und deren Partner in der EU zu verstehen ist. Gemeint ist auch Israel, das als westlicher "Hammer" in der Region fungiert.
Das westliche Staatenbündnis und Israel sorgen mit ihren Interessen sowie Drohungen in bzw. gegen Iran auch bei seinem arabischen Nachbarn in der persischen Golfregion für Unruhe sowie Spannungen. Das hat zu zahlreichen Kriegen und bewaffneten Konflikten geführt. Für das US-geführte westliche Staatenbündnis ist die Region wichtig wegen der Straße von Hormus und dem Bab al-Mandab, dem Zugang zum Roten Meer sowie dem Suezkanal. Die Kriege im Jemen, Libyen, im Irak und zuletzt in Syrien haben die gesamte arabische Region destabilisiert. Nicht zu vergessen, der anhaltende bewaffnete Konflikt zwischen den israelischen Streitkräften und palästinensischen Organisationen wie Hamas sowie Islamischer Dschihad. Zudem kommt die hartnäckige Weigerung Israels, den Palästinensern ihr Land und eine staatliche, souveräne Entwicklung zuzugestehen.
Neue Drohungen aus Israel
Israel wird von allen Großmächten unterstützt, die im UN-Sicherheitsrat über ein Vetorecht verfügen: von den USA über Großbritannien, Frankreich, Russland und China, die auch als die "P5" bezeichnet werden. Die Unterstützung Israels geht allerdings weit über die P5 hinaus, wobei an erster Stelle Deutschland zu nennen ist, das die deutsche Staatsräson eng mit dem Existenzrecht Israels verknüpft hat. Die Rechte der Palästinenser, die in zahlreichen UN-Resolutionen und Entscheidungen des UN-Sicherheitsrates festgeschrieben sind, werden zumindest verbal ebenso von allen Vetomächten im UN-Sicherheitsrat unterstützt. Militärisch steht Iran hinter den bewaffneten Gruppen der Hamas und dem Islamischen Dschihad.
Israel sprach nach den Präsidentschaftswahlen in Iran umgehend neue Drohungen gegen das Land aus. Ebrahim Raissi werde vermutlich die "Hardliner-Ansichten" des Obersten Revolutionsführers in Iran, Ayatollah Ali Chamenei, übernehmen. So hieß es u. a. bei Ynet News, der Onlineausgabe der israelischen Zeitung (Yedioht Ahronot). Das gelte vor allem für das Nuklearabkommen, das möglicherweise nach Amtsantritt von Raissi (August 2021) wieder in Kraft treten werde. Bis dahin werde Iran vermutlich weiter Uran anreichern. Daher gebe es "keine Alternative als Angriffspläne gegen das iranische Atomprogramm" vorzubereiten, wurde eine namentlich nicht genannte israelische Quelle zitiert. Verteidigungsminister Benny Gantz erklärte nach Angaben der Times of Israel, "alle Optionen liegen auf dem Tisch".
Der neue israelische Ministerpräsident Naftali Bennett meinte, "ein Regime von brutalen Henkern darf niemals über Massenvernichtungswaffen verfügen". Der "extremistische Konservative", der zum nächsten iranischen Präsidenten gewählt worden sei, stelle einen "Weckruf" für die Weltmächte dar, um den wahren Charakter des "Regimes in Teheran" zu verstehen. Das Atomabkommen dürfe nicht wieder in Kraft gesetzt werden.
Iran als Feind …
Viele englischsprachige Medien in den arabischen Golfstaaten – darunter Al Arabiya, Arab News, Al Jazeera – veröffentlichten Analysen und Kommentare von Journalisten oder Regionalexperten aus Think Tanks in den USA, England, Frankreich oder auch aus Deutschland. Ein Präsident Raissi werde die Lage in der Region verschärfen, iranische und andere Milizen aufrüsten und die arabischen Länder destabilisieren, hieß es. Innenpolitisch habe die iranische Bevölkerung durch die hohe Nichtbeteiligung an der Wahl ihre Ablehnung gezeigt, die religiöse Führung sei weiter isoliert.
Im Wesentlichen spiegeln diese Medien die Sichtweise der westlichen Verbündeten der arabischen Golfstaaten wider. Gewarnt wird vor der Wiedereinsetzung des Atomabkommens und der damit verbundenen Aufhebung von Sanktionen. Das werde Raissi und "die Hardliner" stärken. Die internationalen Verhandlungspartner für das Atomabkommen mit Iran müssten in jedem Fall durchsetzen, dass auch das iranische Raketenprogramm heruntergehandelt werden kann. Iran lehnt das kategorisch ab.
Der atomare Wettlauf ist derweil im Gange. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate haben mit US-amerikanischer und südkoreanischer Hilfe mittlerweile selbst Atomanlagen geplant oder gebaut. In den Emiraten ging das erste Atomkraftwerk 2020 ans Netz.
… oder als politischer Akteur
Die reale Politik abseits medialer Schlagzeilen sieht anders aus. Die Vereinigten Arabischen Emirate unterhalten ebenso wie das Golfemirat Katar einen regelmäßigen politischen Austausch mit Iran. Seit Anfang des Jahres 2021 führt Saudi-Arabien Gespräche mit Iran, die in Bagdad stattfinden. Auch in Syrien befinden sich die Golfstaaten – bis auf Katar – auf einem Annäherungskurs an Präsident Baschar al-Assad, einen Verbündeten Irans. Botschaften werden wiedereröffnet, Hilfe für den Wiederaufbau wird in Aussicht gestellt – Syrien könnte bald als Mitglied in die Arabische Liga zurückkehren.
Dabei sind sich die Emirate und Saudi-Arabien bewusst, dass sie von Damaskus nicht fordern können, Iran aus Syrien auszuweisen. Angestrebt wird ein Interessensausgleich, der durch Russland vermittelt werden könnte. Auch die US-Administration hat Saudi-Arabien und den Emiraten signalisiert, die regionale Konfrontation zurückzunehmen oder zumindest auszusetzen. Die Staaten konzentrieren sich auf eine neue Front gegen China und Kräfte aus dem Nahen Osten abzuziehen.
Die Annäherung an Damaskus seitens der Golfstaaten hat auch mit der Expansion der Türkei zu tun, die nicht nur in Syrien, sondern ebenso im Nordirak und im Libanon zu beobachten ist. Die arabischen Golfstaaten wollen Ankaras Eindringen auf arabischen Boden stoppen. Das hat nicht zuletzt mit der Muslimbruderschaft zu tun, die von Ankara unterstützt wird. In den meisten arabischen Staaten – außer in Katar – wird die Muslimbruderschaft innenpolitisch als Gefahr gesehen und ist verboten.
Der Annäherungskurs unterliegt Bedingungen, über die allerdings nicht offen gesprochen wird. Iran könnte bedingt Entgegenkommen zeigen, wenn im Gegenzug iranische Interessen berücksichtigt werden. Sanktionen müssten zurückgenommen, der US-israelische Schattenkrieg gegen Iran und Bedrohungen im Persischen Golf eingestellt werden. Ein erster Schritt zeichnet sich – auch unter Vermittlung der USA – im Jemen ab. Die Emirate und Saudi-Arabien scheinen zu einem Ende des Krieges gegen die Huthis unter Bedingungen bereit zu sein.
Europa im Libanon
Es war vermutlich kein Zufall, dass der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell einen Tag nach den iranischen Präsidentschaftswahlen in Beirut eintraf. Brüssel will im Libanon gegenüber Iran, Russland und China westliche Präsenz zeigen.
Borrell kam vom Diplomatischen Forum in Antalya, wo er tags zuvor mit dem iranischen Außenminister Mohammed Dschawad Sarif zusammengetroffen war. Libanon sei "Nachbar und enger, langjähriger Partner der EU", machte Borrell vor Journalisten in Beirut klar. Die EU sei bereit, das libanesische Volk zu unterstützen, sei aber "sehr besorgt über die politischen Autoritäten".
Allein 2020 habe die EU den Libanon mit 333 Millionen Euro unterstützt, rechnete Borrell vor, das seien "fast eine Millionen Euro pro Tag". Um die Unterstützungsmechanismen der EU für den Libanon in Bewegung zu setzen, müsse die innerlibanesische Blockade – der politischen Eliten – beendet und "notwendige Reformen" eingeleitet werden. Sobald der Internationale Währungsfonds sein Programm für den Libanon bewilligt habe, werde die EU das mit Handelsvereinbarungen, Mikrofinanzprogrammen und Krediten ergänzen. Andernfalls müssten die politisch Verantwortlichen mit Sanktionen seitens der EU rechnen, so Borrell weiter.
Hilfsgüter für die libanesischen Streitkräfte
Dem Besuch Borrells war eine Zusage von 20 Staaten vorausgegangen, die libanesische Armee mit Hilfsgütern und Medikamenten zu unterstützen. Auf Einladung Frankreichs einigten sich die USA, Russland, China, europäische und einige Golfstaaten, der "leidenden und hungrigen" libanesischen Armee humanitär unter die Arme zu greifen. Die Hilfe sei nicht zuletzt eine Antwort auf den drohenden Zusammenbruch staatlicher Institutionen im Libanon.
Die anhaltenden Straßenblockaden könnten im Libanon zu Hungeraufständen führen, schrieb das schweizerische Forschungsinstitut Insecurity Insight. Die Streitkräfte müssten dafür gerüstet sein. In einem kürzlich (17.06.2021) bekannt gewordenen internen UN-Dokument wurden die UN-Mitarbeiter aufgefordert, sich grundlegende Vorräte für mindestens zwei Wochen zurückzulegen.
Die EU-Staaten und die Weltmächte fürchten, die Kontrolle im Libanon und Ansprechpartner zu verlieren. Seit dem Ende des Bürgerkrieges gilt die libanesische Armee als wichtiges Spiegelbild der Gesellschaft. Jetzt Hilfsgüter an die Soldaten zu liefern ist gleichwohl eine herablassende Geste angesichts der Tatsache, dass wirkliche militärische Stärke der libanesischen Armee von der westlichen Staatenallianz nicht gewollt ist. Die libanesische Armee verfügt nicht einmal über Waffensysteme wie eine Luftabwehr, um sich gegen die ständigen Provokationen der israelischen Streitkräfte zu See, zu Land und in der Luft wehren zu können.
Die massive Wirtschaftskrise könnte mehr Libanesen zwingen, das Land zu verlassen. Polizei- und Sicherheitskräfte und nicht zuletzt die Armee könnten sich absetzen. In der EU und den USA will man größeren Einfluss der Hisbollah verhindern, dabei ist es die Hisbollah, die immer wieder die zerstrittenen Seiten zu einer umgehenden Regierungsbildung aufruft. Der Auftritt Borrells wirkte auch wie eine Versicherung an Nichtregierungsorganisationen und die UN, ihre Arbeit im Libanon fortzusetzen, in die Brüssel Millionen Euro investiert hat.
Der Libanon ist nur einer von vielen regionalen Konflikten, der jederzeit zu einer offenen bewaffneten Konfrontation werden könnte. Ohne Dialog mit Iran und anderen regionalen Akteuren wird es weder zwischen Israel und den Palästinensern noch im Libanon, in Syrien, Jemen oder im Irak und in der Golfkriegsregion Stabilität geben. Arabische Staaten haben erkannt, dass sie nur in Kooperation mit Iran Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung in der Region sichern können.
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