Ein Kommentar von Damian Wilson
Seit er im Jahr 2007 sein hohes Amt als britischer Premierminister verlassen hat, gibt es wirklich kein Thema auf der Welt, zu dem Tony Blair sich nicht äußern möchte. Getragen von einem unverwüstlichen Selbstbewusstsein und einer scheinbar völligen Abwesenheit von Eigenwahrnehmung.
Blair ist überzeugt, dass an seinen neuesten Denkereien riesiges Interesse besteht. Dass der französische Präsident Emmanuel Macron dringend seine Hilfe bei der Bewältigung des radikalen Islamismus in der Sahelzone braucht. Dass US-Präsident Joe Biden nachts wach liegt und sich fragt: "Was würde Tony tun?". Und dass die britische Öffentlichkeit vergessen hat, dass er das Land in einen katastrophalen Krieg gegen Irak führte, den sowohl die Vereinten Nationen als auch die Untersuchungen seiner eigenen Regierung für illegal erklärten.
Seine Zustimmung zum Angriff auf Saddam Hussein brachte Blair die US-Freiheitsmedaille von George Bush und 20 Jahre Schmähungen durch die britische Öffentlichkeit ein, die im Laufe der Jahre genauso zunahmen, wie sein eigener immenser persönlicher Reichtum. Eine Umfrage aus dem Jahr 2017 ergab, dass ein Drittel der britischen Öffentlichkeit Blair gerne als Kriegsverbrecher vor Gericht sehen würde.
Aber das ist nichts, worauf Blair sich gerne einlässt. So gab es in seiner Rede vor dem Royal United Services Institute (RUSI) fast 20 Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September keine Erwähnung über das, was auf die Anschläge folgte: Zwielichtige Dossiers, die einen Kriegsgrund konstruierten, irakische Massenvernichtungswaffen, die nie gefunden wurden, oder das vorsätzliche Belügen des britischen Volkes zur Rechtfertigung des Krieges gegen Irak. Anstatt aus der jüngeren Geschichte irgendwelche Lehren zu ziehen, etwa wann man einen Krieg führen sollte und wann nicht, scheint Blairs Appetit auf Krieg unvermindert. So beklagte er:
"Westliche Gesellschaften und ihre politischen Führer sind verständlicherweise zutiefst abgeneigt gegen Verluste unter ihren Streitkräften."
Dies ist seiner Ansicht nach zu einer "überwältigenden politischen Einschränkung für jedes Engagement mit Soldaten vor Ort geworden, mit Ausnahme von Spezialeinheiten". Anscheinend ist alles Bidens Schuld. Blair erklärte:
"Es ist jetzt – wenn nicht schon zuvor – klar geworden, dass Amerika entschieden hat, dass es auf absehbare Zeit einen sehr begrenzten Appetit auf militärisches Engagement haben wird."
Nun ja, Herr ehemaliger Premierminister, es ist wahr, dass die Amerikaner keinen Hehl daraus gemacht haben, dass sie es satthaben, ewig Kriege zu führen. Aber wir Briten mögen es auch nicht, wenn die Leben junger Männer und Frauen, die sich für den Dienst an ihrem Landes gemeldet haben, auf dem Altar der politischen Selbstherrlichkeit geopfert werden. Wir sind jetzt ein bisschen weniger leichtgläubig, ein bisschen weniger zuvorkommend, wenn es darum geht, nicht zu gewinnende, endlose Schlachten zu schlagen, und etwas misstrauischer gegenüber unseren nach Ruhm strebenden politischen Führern. Und das liegt größtenteils an einer Person. An Ihnen.
Es ist seltsam, dass Blair dies nicht erkennen will. Eines ist sicher: Er kennt seine Geopolitik. Ja zur Hölle, er hat sogar sein eigenes gleichnamiges "Blair Institute für globalen Wandel", in dem sich unzählige Forscher, Akademiker und führende Experten tummeln, die ihm sagen, was er zu den Schlüsselthemen unserer Zeit denken und sagen soll. Mit einer Ausnahme: Erwähne. Nicht. Den. Irak.
Das Ausblenden dieses Landes aus jedem Gespräch hat System. Darauf beharrend, dass Großbritannien in militärischen Belangen ein Teil Europas ist, ob es nun gefällt oder nicht, erklärte Blair mit Blick auf die Zukunft, dass Europa durch die Destabilisierung der Sahelzone einer unmittelbaren Herausforderung gegenüberstehe und "bereits mit den Folgen von Libyen, Syrien und anderen Teilen im Nahen Osten konfrontiert" sei. Äh … könnte Blair mit "anderen Teilen im Nahen Osten" möglicherweise Irak meinen? Wahrscheinlich. Aber lassen sie uns ein angenehmes Gespräch bloß nicht verderben.
Angesichts dieser wahrgenommenen Bedrohung in der Sahelzone, die bisher weitgehend von Frankreich gehandhabt wurde, fragte Blair: "Wie entwickeln Europa und die NATO eine Handlungsfähigkeit, wenn Amerika nicht willens ist?" Blair sieht militärische Aktionen eindeutig als zwingend erforderlich an. Ich bin nicht sicher, ob alle anderen zustimmen, aber er ist auch der Meinung, dass die Fähigkeit der westlichen Politiker, strategisch zu denken, wiederbelebt werden muss.
Diesbezüglich sagte Blair: "Für mich war eine der alarmierendsten Entwicklungen der letzten Zeit das Gefühl, dass dem Westen die Fähigkeit fehlt, Strategien zu formulieren. Dass seine kurzfristigen politischen Imperative den Raum für langfristiges Denken eingeschränkt haben. Dies macht unseren Verbündeten mehr als alles andere Angst und gibt unseren Gegnern den Glauben, dass unsere Zeit vorbei ist."
Jetzt wird das Bild klarer. Während westliche Regierungen vom Krieg führen abgelenkt sind, weil sie sich auf den Wiederaufbau ihrer Volkswirtschaften und den Kampf gegen die weltweite Gesundheitskrise konzentrieren müssen und wegen der scheinbar ewigen Wahlzyklen, die ihr langfristiges Denken behindern, brauchen sie große Vordenker. Sie brauchen hochkarätige Staatsmänner und globale Schwergewichte, um zu verstehen, wie man mit Drohnen die Bürger weit entfernter Orte in Vergessenheit bomben kann. Wie man eine skeptische Öffentlichkeit davon überzeugen kann, dass es eine gute Idee ist, Soldatinnen und Soldaten in den Tod zu schicken und vor allem, wie man den richtigen Medienrummel rund um diese Entscheidungen erzeugt, damit sich jeder dabei wohlfühlt.
Diese westlichen Regierungen brauchen Männer wie Tony Blair. Er hat an den meisten Nachmittagen frei, falls jemand ein Zoom-Gespräch mit ihm planen möchte. Man sollte nur nicht den Krieg gegen Irak erwähnen.
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Damian Wilson ist ein britischer Journalist, ehemaliger Herausgeber in der Fleet Street, Berater der Finanzbranche und Sonderberater für politische Kommunikation in Großbritannien sowie der EU. Übersetzt aus dem Englischen.
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