von Dagmar Henn
Semlikan Changoschwili war alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Der Georgier hatte am zweiten Tschetschenienkrieg teilgenommen, an der Seite berüchtigter Terroristen wie Bassajew. Aber auch seine Tätigkeit in Georgien war höchst suspekt.
Dreh- und Angelpunkt ist hierbei der sogenannte Lopota-Zwischenfall. Oft wird von diesem so erzählt, als hätte eine Gruppe von Islamisten plötzlich beschlossen, örtliche Bewohner als Geiseln zu nehmen, und Changoschwili sei nur an der Lösung beteiligt gewesen. Die Geschichte ist aber komplizierter und weit abgründiger.
Nach Ermittlungen des georgischen Menschenrechtsanwalts Ucha Nanuaschwili hatte die Regierung Saakaschwili 2012 eine Truppe von 120 Kisten (das sind georgische Tschetschen) und anderer islamistischer Kaukasier versammelt, um sie militärisch auszubilden und dann als Terroristen ins benachbarte Dagestan zu schicken. Organisiert wurde diese Ausbildung durch die Anti-Terrorabteilung des georgischen Innenministeriums, für die Changoschwili tätig war. Wenn die Erkenntnisse Nanuaschwilis zutreffen, der immerhin einen Bericht von 800 Seiten über den Vorfall verfasst hat, war Changoschwili einer der Ausbilder dieser Truppen. Die Aussagen von Angehörigen bestätigen, dass die Angeworbenen unter Betreuung des georgischen Innenministeriums längere Zeit vor dem Vorfall dort waren und keinesfalls unmittelbar vor dem Lopota-Zwischenfall aus Dagestan nach Georgien eingedrungen waren, wie das georgische Innenministerium später behauptete.
Der geplante Einsatz wurde allerdings abgesagt, was nicht bei allen Beteiligten auf Begeisterung stieß. Einige von ihnen wollten sich auf eigene Faust auf den Weg nach Dagestan machen und nahmen örtliche Anwohner als Geiseln, um einen sicheren Übergang über die Grenze zu erzwingen.
Das amerikanische Boulevardblatt The Daily Beast brachte 2019 einen längeren Artikel über Changoschwili, in dem auch sein ehemaliger Vorgesetzter im georgischen Innenministerium interviewt wurde, der nur unter dem Decknamen Lewan auftaucht. Lewan war zu diesem Zeitpunkt selbst, im Austausch gegen die Zivilisten, Geisel der Terroristen. Changoschwili überredet die Gruppe, an einen Ort zu gehen, an dem der Handyempfang besser sei.
"Zwei der bewaffneten Tschetschenen folgten uns an einen Platz, von dem aus wir anrufen konnten," erzählte Lewan. (…) "Er brachte sie dazu, ihren Abstand von mir ständig zu erhöhen. Sie kamen hinterher. In etwa hundert Metern Entfernung war eine Position georgischer Spezialeinheiten. Semlikan lockte sie direkt in einen Hinterhalt."
Der Grund, warum ihm diese Terroristen folgten, war das Ansehen, das er unter den wahhabitischen Tschetschenen besaß. Eine russische Journalistin, Marina Perewoskina, zitiert den Vater eines der Beteiligten des Lopota-Zwischenfalls, der Changoschwili in die Falle gegangen war:
"Er ist der Anführer der Wahhabiten."
Die Wahhabiten sind in diesem Fall jene aus der kleinen Volksgruppe der Kisten in Georgien, die der Saudi-Arabischen Auslegung des Islam folgen. Die Kisten leben im Pankissi-Tal in Georgien; es sind nur etwa 7.000 Personen, aber über hundert von ihnen gingen nach Syrien und schlossen sich dem IS an. Während des zweiten Tschetschenienkrieges diente das Pankissi-Tal als Rückzugsgebiet für tschetschenische Islamisten; auch dabei dürfte Changoschwili bereits eine entscheidende Rolle gespielt haben.
Aber Changoschwili arbeitete nicht nur für das georgische Innenministerium, er hatte noch andere Auftraggeber. Zumindest, wenn man dem Daily Beast folgt, das geradezu Vorwürfe macht, Changoschwili sei schäbig behandelt worden, nachdem er Georgien verlassen hatte:
"Changoschwilis sechs Jahre dauernder Einsatz als wertvoller Agent für einen europäischen Nachrichtendienst und als indirekter Informant für einen amerikanischen zählte nicht."
Changoschwili verließ Georgien mit dem Sturz der Regierung Saakaschwili. Er folgte ihm auch in die Ukraine, und kam von dort aus nach Deutschland. Sein Asylantrag wurde 2017 abgelehnt. Allerdings sind in diesem Zusammenhang einige Fragen offen. 2016 soll Georgien gegen ihn einen internationalen Haftbefehl erlassen haben. 2019 hatte ich bei der georgischen Botschaft nachgefragt, ob sie das bestätigen könnte, erhielt aber keine Antwort. Gegen seinen damaligen Dienstherren Saakaschwili hat allerdings nicht nur ein Haftbefehl bestanden, er sitzt mittlerweile in Georgien im Gefängnis. Es ist also höchst wahrscheinlich, dass auch gegen Changoschwili ein Haftbefehl bestand.
2017 wurde sein Asylantrag in Deutschland abgelehnt. Warum befand er sich dann 2019 überhaupt noch in Deutschland und nicht in Georgien? Hätte er nicht nach der Ablehnung seines Antrags ausgeliefert werden müssen? Das ist die Frage, die nicht gestellt wird. Und für welchen europäischen Dienst war er sechs Jahre lang tätig? Das muss den Zeitraum des Lopota-Zwischenfalls umfassen, wenn diese sechs Jahre vor seiner Abreise aus Georgien 2015 liegen. Und wenn er 2012, während er den Terrortrupp in Georgien ausbildete, für einen europäischen Nachrichtendienst gearbeitet hat, wie weit war dieser an den Plänen, Terroristen nach Dagestan zu schicken, beteiligt?
Zitieren wir noch einmal das Daily Beast dazu, um was für eine Truppe es sich dort handelte: "Die Leute, die die Grenze überqueren wollten, waren alles andere als eine Sammlung von Wochenendkriegern. Ahmed Tschatajew, einer der Überlebenden des Lopota-Zwischenfalls und russischer Staatsbürger, wurde festgenommen, aber vom Gericht freigelassen. Dann tauchte er 2015 als Chef eines ISIS-Elitebataillons in Syrien auf. Ein Jahr später leitete er den Selbstmordangriff der Terrorgruppe auf den Internationalen Flughafen Atatürk in Istanbul, ein Verbrechen, bei dem 45 getötet wurden, ehe er Ende 2017 nach 20-stündiger Belagerung von georgischen Spezialeinheiten in Tiflis getötet wurde."
In einem anderen Artikel kommt Marina Perewoskina zu einer genaueren Theorie, wie es zu dem Lopota-Zwischenfall kam. Die Truppe war mit dem Versprechen geködert worden, über Dagestan nach Tschetschenien zu kommen. Nachdem sich aber nichts getan hatte, hatten sich die meisten bereits wieder abgesetzt, nur eine Gruppe von 17 Mann aus den ursprünglichen 120 war geblieben. Sie sollten plötzlich gegen eine Wahlkampfveranstaltung eines Gegners von Saakaschwili eingesetzt werden, mit dem Versprechen, danach über die Grenze gebracht zu werden, weigerten sich aber. Tatsächlich wurden die meisten, abgesehen von jenen, die Changoschwili in die Falle lockte, im Schlaf erschossen.
Es war klar, dass Changoschwili danach Georgien verlassen musste, sobald Saakaschwili seine schützende Hand nicht mehr über ihn halten konnte. Im Pankissi-Tal wird noch immer Blutrache praktiziert, und mindestens elf Familien waren hinter ihm her. Aber welches Interesse hatte die Bundesrepublik an ihm? Im Artikel des Daily Beast wird süffisant darauf verwiesen, dass Changoschwili nach Auskunft des Spiegel-Reporters Maik Baumgartner in einem Hotel gegenüber der BND-Zentrale wohnte. Wenige Wochen vor seinem Tod löschte das LKA Berlin ihn von der Liste der islamistischen Gefährder.
Es ist nachvollziehbar, dass man die Weste dieser dubiosen Gestalt so weiß wie möglich wäscht, wenn man seinen Tod für Angriffe gegen Russland nutzen will. Aber wenn man die Geschichte von Semlikan Changoschwili betrachtet, bleiben einige Fragen offen.
Die wirklichen Hintergründe werden wir wohl frühestens in einem Vierteljahrhundert kennen, falls die neue Bundesregierung tatsächlich auch die Akten deutscher Geheimdienste nach dieser Frist freigibt. Bis dahin bleibt die Geschichte unvollständig. Klar ist nur, Staatsterrorismus wird sich darin unter anderen Adressen finden.
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