von Dagmar Henn
Wer von jenen, die heute den Fernsehsender Arte einschalten, denkt dabei noch an "Die Wacht am Rhein" oder den Vertrag von Versailles? Hundert Jahre lang wurde Frankreich in Deutschland von dem, was man heute Mainstream nennen würde, als "Erbfeind" betitelt, und noch das Foto von Mitterand und Kohl, händchenhaltend, war eine große Nachricht.
Arte ist ein Sender, der zur Hälfte aus Frankreich, zur Hälfte aus Deutschland bestückt wird – bis in die Nachrichten – und sein gesamtes Programm in beiden Sprachen sendet. Dabei kommt es durchaus vor, dass die deutsche und die französische Nachrichtenredaktion ein und dasselbe Ereignis völlig unterschiedlich darstellen. Aus Libyen beispielsweise, wo die beiden Regierungen unterschiedliche Seiten des selben Bürgerkriegs unterstützen.
Frankreich war im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg Opfer der deutschen Aggression, und in beiden letztlich auf Seiten der Sieger. Nur – nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Bundesrepublik viel Aufwand getrieben, die beiden Nachbarn einander anzunähern. Dazu wurden viele Mittel genutzt. Der Sprachunterricht an den Schulen beispielsweise. Dafür wurde 1963 extra ein Vertrag geschlossen, der Elysée-Vertrag, in dem sich beide Staaten verpflichteten, "konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die Zahl der französischen Schüler, die Deutsch lernen, und die der deutschen Schüler, die Französisch lernen, zu erhöhen." Weiter ins Paket gehörten Jugendaustausch, Erleichterungen im Grenzverkehr (vor Schengen), Stipendien. Der Grund ist simpel. Wenn man mit jemandem reden kann, direkt und persönlich, wenn man seine Kultur selbst erleben kann, schlicht, wenn man das Gegenüber als Menschen und nicht als Klischee wahrnimmt, sieht man es eher nicht mehr als Feind.
Diese Politik, die unter dem Etikett der "deutsch-französischen Aussöhnung" lief, und die angesichts der Naziverbrechen in Frankreich nicht von günstigen Voraussetzungen ausging, war im Großen und Ganzen erfolgreich. Es wäre heute zumindest mühsam, unsere westlichen Nachbarn wieder als "Froschfresser" und "welsche Weichlinge" zu verkaufen.
In Richtung Osten hat es in der Bundesrepublik keinerlei entsprechende Bemühungen gegeben. Da wurde im Kalten Krieg bruchlos auf der Goebbelsschen Propaganda aufgebaut. Nur in der DDR wurde Russisch gelernt, gab es den Jugendaustausch und die Studienprogramme. Erst in der Zeit zwischen 1981 und 1989 nahm die Zahl westdeutscher Städte mit Partnerstädten in der Sowjetunion nennenswert zu, und es zeigten sich erste zarte Ansätze, an einer Verständigung zu arbeiten. Und dann war es sehr schnell wieder vorbei damit. Das, was in der DDR bestanden hatte, wurde bei dieser Gelegenheit gleich mit abgewickelt, der Russischunterricht ebenso wie der akademische Austausch.
Dabei wären Anstrengungen in diese Richtung seitens Deutschlands noch weit angebrachter als gegenüber Frankreich. An der russischen Bereitschaft wäre dies nicht gescheitert, obwohl die Verheerungen, die deutsches Handeln dort angerichtet hat, jene in Frankreich noch weit übertrafen. Eine Einrichtung wie Arte, ein Sender, in dem eine russische Sicht völlig gleichberechtigt neben der deutschen steht, wäre völlig undenkbar.
Auf der alltäglichen, der menschlichen Ebene war diese Politik Frankreich gegenüber erfolgreich. Klar, es gibt unterschiedliche Interessen; nicht nur in Libyen, auch in möglichen Konflikten zwischen Griechenland und der Türkei würden sich die Bundesregierung und die französische auf unterschiedlichen Seiten befinden. Die deutsche Dominanz in der EU stößt ebenfalls auf wenig Begeisterung. Aber das erzeugt kein bis in den Alltag reichendes Gegeneinander der Bevölkerungen mehr.
Verständigung verhindert keine harten Kollisionen, aber sie macht sie weniger wahrscheinlich. Differenzen sind dann verhandel- und lösbar, wenn sie auf das nüchterne Feld unterschiedlicher Interessen zurückgeführt und nicht auf dem Feld absoluter Wahrheiten geführt werden. Voraussetzung dafür (und für jede Diplomatie) ist, das Gegenüber zum einen zu kennen, und zum anderen erst einmal so zu akzeptieren, wie es ist. Wunschvorstellungen oder gar Forderungen an die andere Seite hingegen sind konfliktverschärfend.
Wenn man davon ausginge, die deutsche Politik wünsche eine Versöhnung mit Russland, dann müsste sie die Arbeit eines Senders wie RT DE begrüßen. Und zwar auch dann, wenn die dargestellte Sicht nicht mit ihrer eigenen übereinstimmt; mehr noch, gerade dann. Weil das Wissen um diese Sicht, und zwar nicht begrenzt auf enge, elitäre Zirkel, grundsätzlich dazu beiträgt, eventuelle Konflikte auf dem Feld der Interessen zu halten und damit den Spielraum für Verhandlungen erweitert und den Abstand zwischen Krieg und Frieden erhöht.
Es gab auch im deutsch-französischen Verhältnis nach 1945 harte Konflikte. Da gab es beispielsweise den Sozialdemokraten Hans-Jürgen Wischnewski (damals auch als "Ben Wisch" bekannt), der Koffer voller Geld zur algerischen FLN brachte, während Frankreich in Algerien einen blutigen Krieg führte, um diese Kolonie zu halten. Dennoch wurde ein grundlegendes Niveau wechselseitiger Akzeptanz nie mehr unterschritten. Auch in den Jahren nicht, als Frankreich nicht Mitglied der NATO war. Mitarbeiter französischer Medien zu beschimpfen, an der Arbeit zu hindern – völlig undenkbar. Und das, obwohl in Frankreich die Schwesterpartei der in der Bundesrepublik verbotenen KPD öfter mit in der Regierung saß.
Es ist also Einiges möglich, so man denn will. Und was sagt das im Umkehrschluss? Wenn es nicht möglich ist, dann deshalb, weil es nicht gewollt wird.
Dabei ist das ganze laute Geschrei über "Fake News" und "Desinformation" nur ein Theater zur Ablenkung der Öffentlichkeit. Schließlich sind die bundesdeutschen Medien gelegentlich alles andere als sorgfältig im Umgang mit Fakten. Ein halbes Jahr lang wurde verbreitet, es gebe von Mariupol eine Landbrücke zur Krim. Ständig wird wiederholt, Russland solle die Minsker Vereinbarungen einhalten, obwohl es nicht Partei dieser Vereinbarungen ist und der Text dieser Vereinbarungen im Internet schnell und jederzeit zu finden ist. Die Liste ist problemlos erweiterbar. Und diese mindestens zweifelhaften Positionen werden nicht nur verbreitet, sie sind auch noch Grundlage staatlichen Handelns. Auf Grundlage des Vorwurfs, die Minsker Vereinbarungen nicht umzusetzen, wurden sogar Sanktionen gegen Russland verhängt. Obwohl der Vorwurf das Etikett "Fake News" mit Fug und Recht verdient hätte.
Vielleicht sollte man als Erstes daran erinnern, was im Völkerrecht an erster Stelle steht, seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. Das ist der Frieden. Alles andere ist dem untergeordnet. Ob staatliches Handeln aus der Sicht des Völkerrechts gut oder schlecht ist, hängt davon ab, ob es den Frieden fördert oder ihn gefährdet.
Dabei gibt es im Handlungsfeld des Friedens, in dem die Diplomatie dominiert, keine Frage der Wahrheit. Warum? Weil unterschiedliche Interessen naturgegeben unterschiedliche Positionen erzeugen. Die Beschäftigten haben ein Interesse an höheren Löhnen, die Unternehmer an niedrigeren. Ist deshalb eine Seite wahr und die andere falsch? Interessen lassen sich nach diesem Kriterium nicht bewerten, denn beide Aussagen sind wahr.
Der Kern zwischenstaatlicher Konflikte liegt immer im Bereich der Interessen, entzieht sich also einer Bewertung nach "wahr" oder "falsch". Die Arbeit der Diplomatie besteht darin, diese Interessen ihrer Verhüllungen zu entkleiden, um sie dadurch verhandelbar zu machen. Das ist der Umgang, der den Frieden fördert.
Wenn das Handlungsfeld des Friedens verlassen wird, also ein erklärter oder unerklärter Kriegszustand besteht, dann geschieht das Gegenteil, zumindest auf Seiten des Aggressors. Die eigene Position (und die eigenen Interessen) werden absolut gesetzt, zur "Wahrheit" erklärt, und jenseits dieser Wahrheit beginnt das Gebiet des Feindes. Schritte, die auf Verhandlung und Versöhnung abzielen, schwächen die eigene Front und führen in Richtung des unerwünschten Friedenszustands.
Schon die Verwendung des Begriffs "Desinformation" lässt den mentalen Kriegszustand erkennen. Die eigentliche Bedeutung des Begriffs ist eine völlig andere und stammt aus der Welt der Spionage. Desinformation dient dabei immer dazu, eine Information zu verhüllen. Also den Gegner zu täuschen, indem aufblasbare Panzer aufgestellt werden, oder die eigenen Mitteilungen an Agenten mit völlig anderen Informationen zu umgeben, um sie im Rauschen verschwinden zu lassen. Es ist kein Begriff aus der Welt der Medien. Ziel von Desinformation sind die Entscheidungszentralen des Gegners, nicht die breiten Massen.
Aber die Verwendung von Begriffen wie "Feindsender" wäre zu durchschaubar. Sie weckt unmittelbar die Assoziationen zum Krieg. Was in Deutschland in den letzten Jahren passiert ist, ist der Versuch, die Bevölkerung in einen Kriegszustand zu versetzen, ohne ihn erkennbar werden zu lassen. Das Verschwinden von Interessen und aus diesen resultierenden Konflikten hinter einer ganzen Festung aus "Werten" dient genau diesem Zweck. So wird nach innen kaschiert, dass das eigene Handeln das Feld des Friedens längst verlassen hat.
Während für eine auf Frieden ausgerichtete Politik die Darstellung der Positionen anderer Länder selbst an den schmerzhaftesten Punkten grundsätzlich begrüßenswert ist, ist sie für eine auf Krieg ausgerichtete selbst an den banalsten schädlich.
Wenn man vor diesem Hintergrund RT DE und die hysterischen Reaktionen der deutschen Politik und der deutschen Medien betrachtet, kommt man zu folgendem überraschenden Schluss: Während Existenz und Aufbau des Senders belegen, dass Russland nach wie vor nach den Regeln des Friedenszustands agiert und Schritte unternimmt, die ihrer Natur nach der Verständigung dienen, ist es die deutsche Reaktion darauf, die den Regeln des Krieges folgt und nach Kräften versucht, Konflikt zu schüren und Verständigung zu verhindern.
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