von Dagmar Henn
Irgendetwas muss ich falsch gemacht haben. Denn es muss noch ein ganz anderes Deutschland geben, als das, in dem ich die letzten 18 Monate verbracht habe. Da haben sich die Leute von Unteilbar versteckt, die jetzt am 4. September wieder in Berlin demonstrieren wollen.
Und die das höchstwahrscheinlich auch dürfen – womit wir gleich beim ersten Problem wären: Das Stichwort "demokratische Rechte" sucht man in dem Aufruf nämlich vergeblich. Gerade so, als wäre in dieser Hinsicht nichts passiert, als gäbe es keinen höchst selektiven Umgang mit Versammlungen, der mittlerweile aus dem Versammlungsrecht eine Versammlungsgnade gemacht hat. Sicherlich, "Unteilbar" war immer eine pastorale Bestätigung des Wahren, Guten und Schönen, ganz so, wie es der westliche Linksliberale sieht. Aber es ist schon erschütternd, wenn Organisationen auf der Unterzeichnerliste stehen, wie etwa die Vereinigung demokratischer Juristen, und dennoch nicht die leiseste Kritik am Umgang mit den demokratischen Rechten der Bürger geübt wird.
Aus dem Aufbruch ins Ungefähre im Jahre 2018 wurde inzwischen eine Art Reenactment einer Bundesrepublik, die es in der Wirklichkeit so längst nicht mehr gibt. Immerhin leben wir unter einem Notstandsregime, das uns sogar vorschreibt, wie viele Menschen wir privat treffen dürfen. Die normale Begegnung von Angesicht zu Angesicht, die Möglichkeit, sich über unterschiedliche Positionen auszutauschen und sie auszudiskutieren – die ganz gewöhnliche soziale Grundlage des politischen Seins – ist seit achtzehn Monaten weitgehend auf Eis gelegt. Nicht aber für "Unteilbar". Wie gesagt, sie müssen die Zeit in einem anderen Land verbracht haben.
Die Beschreibung des Zustands dieser Nation bleibt bei den gewohnten Gemeinplätzchen. "Auch in Deutschland sind immer mehr Menschen von Armut betroffen und haben Existenzängste." Corona-Maßnahmen irgendwo, irgendwer? Da gibt es doch eine Regierung, die viel Zeit damit verbracht hat, Milliarden an diverse Konzerne auszuschütten, und gleichzeitig Hilfen an jene, die ihre Berufe nicht mehr ausüben durften, in einem bürokratischen Moloch versenkt hat. Klar, wenn die Lufthansa AG oder die Daimler AG Geld brauchen, dann ist das ja nur eine Adresse und also viel praktischer und simpler; diese vielen einzelnen Menschen und kleinen Läden, das ist dagegen ein enormer Aufwand. Wo man doch so schwer beschäftigt ist, auf verschiedenste Weise Geld zu verdienen… Nein, ich will nicht zynisch werden.
"In der Coronakrise wird der Abstand zwischen Wohlstand und Armut noch größer. Menschen im Niedriglohnsektor, in prekärer Beschäftigung und ohne Einkommen werden nicht nur sozial und wirtschaftlich härter von der Krise getroffen." Man kann das mit der unsichtbaren Hand auch übertreiben. Noch haben wir eine Regierung in diesem Land. Mag sein, sie tut wenig von dem, was eine Regierung tun sollte, oder sie tut nur noch das, was eine Regierung im Interesse des Kapitals tun sollte. Aber sie tut etwas und ist für etwas verantwortlich.
Witzigerweise stehen dieses Mal gar keine Parteien unter dem Aufruf, während der erste im Jahre 2018 so eine Art Rot-Rot-Grün mit Beilagen war. Das mag dem Wahlkampf geschuldet sein; aber dann hätte es doch möglich sein müssen, die Verantwortlichen zu benennen. Aber vielleicht gibt es ja in dem Parallelland von "Unteilbar" wirklich keine Regierung, kein Parlament, das Gesetze verabschiedet, und keine Verwaltung, die sie mehr oder weniger umsetzt, und Armut und Reichtum ergeben sich irgendwie aus einem Naturgesetz.
"Viele Menschen müssen in zu kleinen Wohnungen oder in Gemeinschaftsunterkünften wohnen. Geflüchtete müssen in Lagern leben." Tja, das war absehbar. Seit vielen Jahren. Aber wenn man 2015 auch nur erwähnt hat, dass sich das Wohnungsproblem weiter verschärfen wird, gab es aus den Reihen der "Unteilbar"-Klientel nur den Vorwurf, man wolle Arme und Flüchtlinge gegeneinander ausspielen, gefolgt vom sofortigen Vorwurf des Rassismus. Damals hätte es massiven politischen Einsatz für eine Wohnungsbauoffensive gebraucht. Den hat es nicht gegeben. Und auch den 2015 so großspurig Eingeladenen nützt es nichts, wenn man vor Bedauern über die Tatsache, dass sie immer noch in Gemeinschaftsunterkünften oder auf Parkbänken hausen dürfen, eine Träne aus dem Auge drückt und dann zum Alltag übergeht. Aber mit den konkreten Forderungen hatte es "Unteilbar" noch nie. Das würde ja zu erkennen geben, dass irgendjemand nicht das Wahre, Gute und Schöne umgesetzt hat.
"Der große Personalmangel im Gesundheits- und Pflegebereich und, damit verbunden, die nicht hinnehmbaren Arbeitsbedingungen sind Folgen jahrzehntelanger Kommerzialisierung." Aha. Die Kommerzialisierung muss ja irgendwie passiert sein. Etwa so ganz ohne Handelnde? Und natürlich kann man daraus auch keine konkrete Forderung ableiten, wie etwa eine Vergesellschaftung der Krankenhäuser. Statt dessen landet im "Forderungsteil" ein ganz vages "Menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen, Bildung, Gesundheitsversorgung und Wohnraum dürfen nicht dem Markt überlassen werden!", eine Formulierung, die rein grammatikalisch noch so tut, als wären sie das nicht schon längst; was bei allen genannten Punkten – mit Ausnahme der Bildung – allerdings leider der Fall ist.
"Die Auswirkungen dieser Politik sind für uns alle spürbar: Sie verstärkt Ungleichheit und spaltet unsere Gesellschaft. Rassistische, antifeministische und antisemitische Gewalt nehmen zu." Ganz ehrlich, wenn ich das Land, in dem ich lebe, in dem inzwischen tiefe Gräben zwischen Geimpften und Ungeimpften ausgehoben werden, in dem die leiseste Kritik an den menschenfeindlichen Corona-Maßnahmen sogleich mit Existenzvernichtung sanktioniert wird, wie im Falle der Schauspieler-Videos, in dem Kinder im Interesse eines deutschen Milliardenunternehmens zur Impfung gezwungen werden, gegen das Land tauschen könnte, in dem "nur" die rassistische, antifeministische und antisemitische Gewalt zunehmen, ich würde das wohl tun. Mal abgesehen davon, dass es sich bei der letzten Behauptung ohnehin um Fake-News handelt; die Musik spielt ganz woanders, es ist vor allem die staatlich ausgeübte Gewalt, die ungeahnte Höhenflüge erlebt. Geradezu erheiternd liest sich da die Forderung nach einer Gesellschaft, "die allen Kindern ein kindgerechtes Aufwachsen ermöglicht". Mit Masken auf ewig und Abstand halten, vermutlich.
"Die wachsende Ungleichheit zeigt sich auch auf internationaler Ebene: Statt Impfstoffe zu globalen öffentlichen Gütern zu machen – wie im letzten Jahr versprochen –, haben sich die reichsten Länder den Löwenanteil gesichert und die Patente bleiben in den Händen weniger Großunternehmen." Nur keine Namen nennen. Es waren nicht "die reichsten Länder", die die Aufhebung der Patente blockiert haben. Es war die "Europäische Union", und in dieser EU ganz explizit Deutschland. Ohne den massiven Widerstand Berlins wären die Patentrechte längst aufgehoben. Aber das wäre ja wieder viel zu konkret für "Unteilbar". Da könnten ja Teilnehmer böse werden. Und das ist doch eine Veranstaltung unter dem Motto "wir haben uns alle lieb".
Man könnte die Volksgemeinschaft der Wohlgesonnenen als banale Zurschaustellung der politischen Verblödung zu den Akten legen, gäbe es nicht diesen einen Satz, der die ganze Veranstaltung tatsächlich ins Bösartige wendet: "Wir setzen uns ein für die Menschenrechte aller, für das Recht auf Schutz und Asyl und für eine gerechte Bewältigung der Klimakrise – vor Ort und weltweit. Menschenrechte sind #unteilbar!" Das mit der Unteilbarkeit der Menschenrechte bekam man schon öfter und in anderen Situationen zu hören. Fürs Brunnenbohren in Afghanistan durch die Bundeswehr zum Beispiel. Oder bei jeder anderen Gelegenheit, bei der westliche geopolitische Interessen – auch irgendwo in der Ferne – mit mehr oder weniger Gewalt durchgesetzt werden sollten. Für unteilbare Menschenrechte fielen einst die Bomben auf Belgrad. Mitten in der Wohlfühl-Plörre findet sich, ganz abrupt und ohne Vorwarnung, ein offenes Bekenntnis zu imperialistischer Aggression.
Da passt es natürlich, dass die Truppe in Bezug auf das, was unter "Klimaschutz" läuft, ebenfalls nicht begreift, wessen Interessen da wie verwirklicht werden. "Obwohl der Klimawandel ungebrochen voranschreitet, wird der dringend notwendige sozial-ökologische Umbau nationalen Egoismen und kurzfristigen Profitinteressen geopfert."Tatsächlich erweist sich doch die Erzählung vom Klimawandel als hervorragende Ausrede für weitere Umverteilungen von unten nach oben. Global gesehen dient die Beendigung einer Finanzierung der Förderung von fossilen Energieträgern vor allem der Erhaltung der bestehenden Macht- und Wohlstandsverhältnisse. Entwicklungsländer, die noch um den Aufbau verlässlicher Energieversorgung ringen, dazu zu nötigen, kreditfinanziert auf eine Energieversorgung zu setzen, deren Technologie teuer importiert werden muss, damit sie dann für weitere Jahrzehnte unter der Fuchtel des IWF stehen, das ist ordinäre Kolonialpolitik. Nur die Ausrede Klima ist blendend und neu; das könnte etwas damit zu tun haben, dass die Bekämpfung der Sklaverei, die Verbreitung des Christentums und der westlichen Zivilisation und so weiter und so fort nicht mehr so richtig ziehen. Sag "Klima" und "Menschenrechte" – und der westliche Liberale steht schon Gewehr bei Fuß, um die Pfründen der Konzerne zu verteidigen, damit die "bösen" Afrikaner nicht etwa durch eine Entwicklung ihrer Länder den Untergang der ganzen Menschheit herbeiführen könnten.
Klar, nachdem unsere lieben "Unteilbaren" schon die Verhältnisse im eigenen Land bevorzugt mit ganz viel Weichzeichner betrachten, kann man nicht erwarten, dass sie die globalen Verhältnisse mit größerer Scharfsichtigkeit in den Blick nehmen. Zu begreifen, dass unteilbare Menschenrechte und Bekämpfung des Klimawandels in ihrer konkreten Ausprägung nur die aktuelle Tarnkappe für neuerliche ödeste Ausplünderung sind, wäre wirklich zu viel verlangt von unseren Edelmütigen.
Also wird die Konformitätsmesse gefeiert werden, brav mit Masken unter freiem Himmel, unbelästigt von der Berliner Polizei, deren Versammlungsgnadenampel in diesem Fall auf grün stehen wird, und das staunende Publikum wird sich nur fragen, warum man sich nicht all die Zeilen des Aufrufs sparen konnte, um sie durch ein schlichtes "Ja!" zu ersetzen.
Aber das ging vermutlich nicht. Für "Ja!" hat schon Rewe die Markenrechte.
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