von Bernd Murawski
Nach 30 Jahren Abwesenheit ist der Begriff "Systemwettbewerb" wieder allerorts präsent. Diesmal heißt der Kontrahent nicht Sowjetunion, sondern China. Das Land wird als größere Herausforderung für die westlichen Demokratien angesehen als seinerzeit das Sowjetimperium. Der Hauptgrund ist das bedeutendere Wirtschaftspotenzial bei gleichzeitig starker Verflechtung mit den westlichen Volkswirtschaften. Während das US-amerikanische Bruttosozialprodukt das sowjetische Mitte der 80er-Jahre um den Faktor drei übertraf, wird China noch in dieser Dekade zu den USA aufschließen. Nach Kaufkraftparität ist die chinesische Wirtschaftsleistung bereits jetzt größer. Ebenfalls befindet sich die Infrastruktur in einem weitaus besseren Zustand, dasselbe wird von der Innovationskraft angenommen.
Im Westen ist die Auffassung verbreitet, dass die immensen wirtschaftlichen Fortschritte Chinas nicht nur auf dem Rücken der Bürger, sondern auch durch Anwendung von Zwang erreicht wurden. Berichte über extreme Ausbeutung in Exportproduktionsstätten, eine gewaltige Zahl an Wanderarbeitern, massive Umsiedlungen im Zuge von Staudammprojekten und unerträgliche Umweltbedingungen erschienen während der letzten Jahrzehnte wiederholt in den Medien. Das Bild drangsalierter chinesischer Bürger deckt sich jedoch nicht mit den Ergebnissen internationaler Vergleichsstudien: Nach dem Edelman Trust Barometer vertrauen 90 Prozent der Landesbewohner ihrer Regierung. Für Deutschland wird ein Wert von 45 Prozent angegeben, für die USA 39 Prozent und für Großbritannien nur 36 Prozent. Den höchsten Betrag eines westlichen Staats erreichen die Niederlande mit 59 Prozent.
Nicht nur der hohe Zufriedenheitsgrad der Bevölkerung stellt westliche Narrative in Frage. Wer sich heute in China bewegt, wird ein Entwicklungsniveau vorfinden, das mit jenem südeuropäischer Länder vergleichbar ist. Der Unterschied zu Indien – ich habe beide Staaten während der letzten Jahre bereist – ist gewaltig: keine Slumgürtel um die Großstädte, keine unterernährten, in Lumpen gekleideten Kinder und Greise an den Straßenrändern, geordnete Verkehrsverhältnisse mit ausgebautem öffentlichen Netz, attraktive Grünviertel anstelle der in Indien allerorts vorfindbaren Müllberge. Die Schadstoffbelastung der Luft ist in chinesischen Großstädten deutlich gesenkt worden, während sie bei meinem Aufenthalt in Neu-Delhi unerträglich war. Hierbei ist hervorzuheben, dass sich beide Länder noch vor 30 Jahren auf einem ähnlichen Entwicklungsniveau befanden und ebenso Indien wirtschaftlich aufgeholt hat.
Es ist naheliegend anzunehmen, dass es diktatorischer Vollmachten einer Regierung bedarf, um Hunderte Millionen Menschen innerhalb weniger Dekaden aus der Armut zu führen, eine wachsende Mittelschicht zu generieren und ein Land zu einem wirtschaftlichen Powerzentrum umzuformen. Wer tiefer in die chinesische Geschichte und Kultur eindringt, findet eine weitaus differenziertere Erklärung. Um die Unterschiede zum westlichen politischen System zu begreifen, seien dessen Prinzipien kurz skizziert.
Das unterschiedliche Menschenbild
Unsere abendländische Zivilisation stellt das Individuum in den Mittelpunkt. Der Staat erscheint als Gegenspieler, der als Verwalter des Allgemeininteresses geneigt ist, den Entfaltungsspielraum der Bürger zu beschneiden. Das Rechtssystem inklusive der Unabhängigkeit der Gerichte dient daher nicht nur dem Schutz vor kriminellen Akteuren, sondern auch vor der Übermacht des Staates.
Die Existenz von Interessendivergenzen führt zur Gründung von Parteien und Verbänden, die sich um Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse bemühen. Es besteht nun aber die Gefahr, dass führende Mitglieder jener Organisationen im Verbund mit mächtigen Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur Sonderinteressen verfolgen. Da das Postulat maximaler persönlicher Entfaltung nach westlichem Werteverständnis einen höheren Rang besitzt als gesamtgesellschaftliche Verantwortung, kann es als Vehikel dienen, eine elitäre Position zum eigenen Vorteil zu nutzen und abzusichern. Damit dieser Fall nicht eintritt, verfügen die westlichen Gesellschaftssysteme über Instrumente, die den Aktionsspielraum der Eliten beschränken und eine demokratische Entscheidungsfindung gewährleisten: ein allgemeines Wahlrecht, öffentliche Meinungsfreiheit, das Recht zur Gründung politischer Vereinigungen, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenrechte.
Dagegen ist die chinesische Denkweise durch das konfuzianische Weltbild geprägt, das harmonische zwischenmenschliche Beziehungen zum Leitziel erhebt. Vom Individuum wird ein Höchstmaß an Rücksichtnahme auf seine Mitbürger verlangt. Der Einzelne wird aufgefordert, von Begierden und Interessen Abstand zu nehmen, die dem Allgemeinwohl schaden. Besondere Erwartungen richten sich an Personen, die sich in einer einflussreichen Position befinden. Korruption, Steuerhinterziehung und andere Bereicherungsformen zulasten der Gemeinschaft gelten als schweres Delikt und werden im Extremfall mit dem Tod bestraft. In der Allgegenwart des Korruptionsthemas spiegelt sich mehr ein hoher moralischer Anspruch als ein tatsächliches gesellschaftliches Problem wider. Dies wird durch westliche Vergleichsstudien bestätigt, die ein relativ geringes Ausmaß an Korruption in China konstatieren, obwohl die verwendeten Beurteilungskriterien eine prowestliche Interpretation begünstigen.
Wie weit persönliche Freiheitsrechte im gesellschaftlichen Gesamtinteresse zu beschneiden sind, legt in letzter Instanz die kommunistische Führung fest. Sie übernimmt damit die historische Rolle von kaiserlicher Exekutive und konfuzianischen Gelehrten. Es wird ein Menschenrechtsbegriff als Basis unterlegt, der die sozioökonomischen Rechte der Grundversorgung (Nahrung, Kleidung, Wohnung, medizinische Behandlung) und des Zugangs zu Bildung und Kultur favorisiert. Andere in der UN-Menschenrechtskonvention enthaltenen Rechte und Freiheiten werden den Bürgern so weit zugestanden, wie sie in Einklang mit gesellschaftlichen Interessen und Erfordernissen stehen.
Strukturen und Mechanismen, mittels derer im Westen die freie Entfaltung der Individuen organisiert und in gemeinsames politisches Handeln überführt wird, erscheinen im gesellschaftlichen Umfeld Chinas als unnötig und sind daher kaum entwickelt. Der Hauptort politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung ist die kommunistischen Partei, der immerhin rund zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung angehören. Laut Parteistatut wird ein offener Meinungsaustausch angestrebt, ebenso wird das Einbringen abweichender Sichtweisen als wünschenswert deklariert. Wenn diese Gelegenheit unzureichend genutzt wird, dann weniger, weil Repressalien durch höhere Instanzen befürchtet werden. Der wohl gewichtigste Grund ist das große Vertrauen in die Kompetenz und moralische Integrität der Parteielite, was zu einer passiven Haltung verleitet.
Historischer Wandel in China und im Westen
Seit dem Bestehen der Volksrepublik China war die Vertrauensbasis mehrfach gestört. Im Zuge der Konsolidierung administrativer Strukturen breiteten sich Korruption und Selbstgefälligkeit aus, was zu wachsender Unzufriedenheit und sinkender Leistungsbereitschaft der Bürger führte und die wirtschaftliche Entwicklung bremste. Die "Revolutionäre der ersten Stunde" mit Mao Tsetung an der Spitze sahen sich aufgefordert, ihre Autorität einzusetzen und Korrekturmaßnahmen zu ergreifen. Sowohl der "Große Sprung nach vorn" Ende der 50er-Jahre als auch die Kulturrevolution von 1966 bis 1976 zielten vornehmlich auf die Wiederherstellung der moralischen Integrität der politischen Elite ab. Wegen der damit einhergehenden wirtschaftlichen Rückschläge bedurfte es bald einer weiteren Korrektur mit pragmatischem Gehalt, um das Vertrauen der Bürger wiederzuerlangen.
Ebenso wenig blieb der Westen von gesellschaftlichen Verkrustungserscheinungen verschont. Deren Aufbrechen durch die Protestbewegung der 60er- und 70er-Jahre erfolgte jedoch im Rahmen der vorgegebenen politischen Strukturen und mündete schließlich im "Marsch durch die Institutionen". Im Gegensatz zu China gab es weder umfangreiche Säuberungen noch wirtschaftliche Kollateralschäden. Dies wurde berechtigterweise als Ausdruck der Überlegenheit des westlichen Systems begriffen.
Während der 80er-Jahre entschied sich nicht nur die chinesische Führung für eine grundlegende wirtschaftspolitische Neuausrichtung, sondern ebenfalls die Regierungen der westlichen Welt. Die jeweiligen Wertesysteme blieben zwar in ihren Grundfesten erhalten, sie wurden jedoch auf die neuen Herausforderungen hin justiert. Während die Umorientierung Chinas eine Vielzahl positiver Impulse brachte, war die im Westen vollzogene neoliberale Wende das Startsignal für wirtschaftliche Stagnation und eine wachsende Unzufriedenheit der Bürger.
Gemäß der Annahme von Adam Smith, dass der wirtschaftliche Erfolg Einzelner den allgemeinen Wohlstand anhebe, überließen die Führungen der westlichen Staaten der "unsichtbaren Hand" des Marktes und der Privatinitiative ein immer größeres Wirkungsfeld. Zwingend folgte ein Machtverlust politischer Instanzen. Staaten gerieten in Konkurrenz zueinander und sahen sich veranlasst, potenzielle Investoren durch Vorleistungen, Steuerermäßigungen, günstige Kredite und Bürgschaften zu ködern. Damit Großsteuerzahler nicht Vermögenswerte in Steueroasen verschieben, wurden sie durch geringere Steuersätze und Verzicht auf Vermögensbesteuerung günstig gestimmt.
Ein Wachstum der Einkommens- und Vermögensunterschiede war die unausweichliche Folge. Da reiche Privathaushalte ihr Konsumvolumen nicht steigerten, weil dieses ja bereits ein maximales Niveau erreicht hatte, führte die Umverteilung von Arm zu Reich zu einem tendenziellen Nachfrageschwund der Endverbraucher. Eine Ausweitung der Produktion lohnte sich immer weniger, sodass Investitionen vorrangig dem Zweck von Kosteneinsparungen dienten, was die Lage weiter verschärfte. Die Wirtschaft begann zu stagnieren, die Mittelschicht erodierte, öffentliche Haushalte gerieten unter wachsenden Finanzdruck und gesellschaftliche Leistungen wurden reduziert, was an den Grundlagen des westlichen Gesellschaftsmodells nagte.
Der Gelbwesten-Aufstand in Frankreich, die Querdenker-Demonstrationen in Deutschland und vielfältige Proteste in der gesamten westlichen Welt signalisieren neben dem Vormarsch rechtspopulistischer Parteien eine wachsende Unzufriedenheit. Zu den am härtesten betroffenen Staaten gehören bezeichnenderweise die Wegbereiter des Neoliberalismus unter dem Gespann Reagan-Thatcher: Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und die Brexit-Entscheidung der britischen Bürger sind ein unverkennbares Zeugnis.
Chinas wirtschaftlicher Aufstieg
Die chinesische Führung hat das Heft des Handelns in keiner Phase aus der Hand gegeben, wenn sie auch nach der wirtschaftlichen Öffnung mit neuen Partnern kooperieren musste. Der Aufstieg des Landes begann mittels einer ausgeprägten Exportorientierung nach dem Vorbild der "asiatischen Tiger". Diese stützte sich wesentlich auf die geschäftlichen Kontakte und Marketing-Erfahrungen chinesischstämmiger Experten aus Hongkong, Taiwan und Singapur. Nur allmählich gelang es Festlandchinesen, Einfluss auf die Exportproduktion und die Handelsbeziehungen zu bekommen.
China konnte sich fortan dem Druck global agierender Kapitalgesellschaften weitgehend entziehen. Als 1997 die Asien-Krise ausbrach, war das Land dank hoher Devisenreserven nur wenig betroffen und konnte in der Folgezeit die Exporte wesentlich steigern. Einen weiteren Schub bewirkte der Eintritt in die Welthandelsorganisation im Jahr 2001. Der wachsende Mittelzufluss ermöglichte die Realisierung ehrgeiziger Infrastrukturvorhaben, was ausländische Investoren trotz Auflagen und Restriktionen zu einem verstärkten Engagement animierte. Einheimische Unternehmen wuchsen zu Kapitalriesen und erschlossen neue Wirtschaftsbereiche, Technologieparks wurden errichtet, Produktionsstätten wurden ins chinesische Hinterland verlagert.
Der "Turbokapitalismus" war nicht mehr zu stoppen. Die damit einhergehenden immensen Belastungen für die Bürger wurden von der kommunistischen Führung für unvermeidlich gehalten, da es sich nach ihrem Verständnis um eine notwendige Zwischenetappe handelte: Aus marxistischer Sicht galt es, die "ursprüngliche Kapitalakkumulation" nachzuholen. Linke Kritik am "Sozialismus chinesischer Prägung" wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass gleichwohl im Frühstadium des Kapitalismus feudale Strukturen weiterexistierten.
Wolfram Elsner ist in seiner Beurteilung zuzustimmen, dass sich China letztlich keine Alternative bot, um den Vorsprung des Westens aufzuholen und die Grundlage für eine prosperierende Gesellschaft zu schaffen. Aus Sicht der politischen Elite war Eile erforderlich, da die westliche Kooperationsbereitschaft mit der Hoffnung verbunden war, den dominanten Einfluss der kommunistischen Partei zurückzudrängen. Hierbei kommt den Ereignissen im Jahr 1989, die fälschlicherweise als "Tian'anmen-Massaker" tituliert werden, eine Schlüsselbedeutung zu.
Aus später veröffentlichten Dokumenten geht hervor, dass die damaligen Protestaktionen vom Westen nicht nur unterstützt und propagandistisch begleitet, sondern auch gesteuert wurden. Zu diesem Zweck wurden die historisch ersten NGOs ins Leben gerufen, die sich auf das von Gene Sharp entwickelte Konzept "friedlicher Revolutionen" und "gewaltfreien Widerstands" stützten. In einem zentralistisch organisierten Staat galt die Einnahme der Landeshauptstadt als entscheidender Schritt für einen Regierungssturz. Was in China misslang, wurde anderswo erfolgreich umgesetzt, zuletzt im Jahr 2014 in der Ukraine.
Der Übergang vom Turbokapitalismus zum Sozialstaat
In seinem Werk "Das chinesische Jahrhundert" verweist Elsner auf eine vor etwa zehn Jahren begonnene Korrektur, mit der die negativen Begleiterscheinungen der wirtschaftlichen Aufbauphase eliminiert und zugleich das neue Potenzial genutzt werden sollen. Innerhalb einer halben Dekade wurde ein flächendeckendes Rentensystem aus dem Boden gestampft, das es zuvor nicht ansatzweise gab. Ferner wurden die rechtliche Position der Arbeitnehmer gestärkt und die Rechtssicherheit für Privatpersonen und Unternehmen erhöht, wobei westliche Modelle als Vorlage dienten. Ebenso wurden die Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssysteme beträchtlich ausgebaut. Meist ging eine Testphase in verschiedenen Landesteilen voraus, nach der die Erfahrungen gebündelt und in Gesetze und allgemeine Richtlinien überführt wurden.
Sowohl die ungebrochene wirtschaftliche Dynamik als auch die hohe Zufriedenheit der Bürger beruhen zu einem wesentlichen Teil auf dieser Neuorientierung. Vor dem Hintergrund des gestärkten Vertrauens wurde das 2014 beschlossene Sozialkreditsystem überwiegend positiv aufgenommen. Die kritische Positionierung im Westen verstellt den Blick auf den Tatbestand, dass es sich aktuell in der Erprobungsphase befindet und zunehmend Zweifel an einer späteren Realisierung geäußert werden. Zudem sind die Hauptadressaten nicht einfache Bürger, sondern Unternehmen, administrative Einheiten und Parteiorganisationen. Mancherorts wird angenommen, dass das System eher zum Zweck einer moralischen Renaissance lanciert worden ist. Diese Vermutung wird dadurch untermauert, dass seit einiger Zeit von offizieller Seite vermehrt eine Rückbesinnung auf "konfuzianische Tugenden" angemahnt wird.
Chinas gewaltige Fortschritte beruhen nicht allein auf staatlichen Entscheidungen, sondern sind gleichermaßen Resultat eines hohen Engagements der Bürger. Ohne den Einsatz Zehntausender Freiwilliger wäre die Eindämmung des SARS-CoV-2-Virus vor einem Jahr in Wuhan und Umgebung nicht gelungen. Breit angelegte Kampagnen gab es bereits zuvor, wie etwa die Unterweisung der Landbevölkerung im Gebrauch neuer Technologien durch Millionen Studenten, die einen Teil ihrer Semesterferien in den Dörfern verbrachten. Voraussetzung waren jeweils umfangreiche Planung und Logistik, aber auch gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein, das Helfer und Adressaten zu einer aktiven Teilnahme veranlasste. Westliche Unterstellungen einer Anwendung von Zwang entspringen eher den Erfahrungen aus der eigenen Umgebung, wo vergleichbare Initiativen auf allseitigen Widerstand treffen würden.
Ein wichtiger Garant für das hohe Entwicklungstempo Chinas ist das konstruktive Zusammenspiel von Wirtschaft und Staat. Unverkennbar sind Parallelen zum "Rheinischen Kapitalismus" der 50er-Jahre, als in der Bundesrepublik Deutschland das Primat der Politik noch Bestand hatte. Mit diesem Bezug wird zugleich die zu Beginn aufgeworfene Frage, ob eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik diktatorischer Vollmachten bedürfe, negativ beschieden. Um jedoch Zukunftsvisionen entwickeln und glaubhaft ansteuern zu können, bedarf es eines angemessenen politischen Handlungsspielraums, der im Westen aufgrund neoliberaler Sachzwänge nicht mehr existiert. Die unreflektierte Übertragung des Freiheitspostulats auf die Wirtschaftspolitik hat sich nicht nur als ausgesprochen schädlich erwiesen, sondern erscheint angesichts der veränderten Interessenkonstellationen und Machtverhältnisse als kaum korrigierbar.
Die Strategie der dualen Kreisläufe
Die im Herbst letzten Jahres beschlossene Strategie der "dualen Kreisläufe" ist eine konsequente Fortsetzung der chinesischen Politik, wobei zwei Aspekte in den Fokus gerückt werden: die Nutzung des vorhandenen wirtschaftlichen Potenzials zur Steigerung der Lebensqualität und die Abwehr externer Bedrohungen. Den Schwerpunkt des inländischen Kreislaufs bilden die Anhebung der privaten Einkommen und die Entwicklung zurückgebliebener Landesregionen. Die Kluft zwischen Arm und Reich soll bis Ende der Dekade auf europäisches Niveau reduziert werden. Als weitere wichtige Aufgabe wird der ökologische Umbau der Wirtschaft betrachtet, wobei bis zum Jahr 2060 Klimaneutralität erreicht werden soll.
Mit dem Konzept des internationalen Kreislaufs wird das Ziel verfolgt, die Importabhängigkeit von unverzichtbaren Vorprodukten wie Halbleitern zu senken und die Exportlastigkeit der Wirtschaft zu vermindern, die sich in gewaltigen Handelsüberschüssen niederschlägt. Dahinter steht die Angst vor einem weiteren Drehen an der Sanktionsspirale durch die USA. Die Aktivitäten dürften sich gleichwohl auf eine Sicherung der Handelswege erstrecken, was den Argwohn einer zunehmenden Einflussnahme auf die Staaten entlang der Handelsrouten wie auch eines wachsenden militärischen Engagements schürt. Das von China reklamierte Postulat der Nichteinmischung wird damit auf die Probe gestellt.
Tatsächlich hat die chinesische Führung in den letzten Jahren die wirtschaftliche Machtposition des Landes mehrmals genutzt, um Druck auf andere Staaten und Unternehmen auszuüben. So wurde der Güterimport aus Australien gedrosselt, nachdem dessen Regierung Huawei beim 5G-Netzausbau ausgeschlossen und wiederholt Vorwürfe einer Vertuschung des SARS-CoV-2-Ursprungs erhoben hatte. Seit vorletzter Woche werden mehrere Textilwarenhersteller auf dem chinesischen Markt schikaniert, weil sie ihre Baumwollimporte aus Xinjiang stoppten und dies mit vermeintlicher Zwangsarbeit in den Anbauregionen begründeten. Besonders harsch wird auf abweichende Interpretationen des Status von Hongkong, Taiwan und einigen dem Festland vorgelagerten Inselgruppen reagiert.
Aus chinesischer Sicht handelt es sich bei den eigenen Maßnahmen um reine Vergeltung für unfaire und unrechtmäßige Handlungen der Gegenseite. Nun gibt es aber unterschiedliche Auffassungen, etwa die territorialen Ansprüche betreffend. Auch wäre angesichts der schwächeren Position mancher Kontrahenten zu hinterfragen, ob die Gegenschläge angemessen sind.
Chinesische Globalpolitik
China kann schon deshalb nicht auf eigenen Machtgebrauch verzichten, weil es zunehmend von den USA herausgefordert wird. Dennoch sind keine Ambitionen erkennbar, anderen Ländern das eigene System aufzuoktroyieren. Damit unterscheidet sich die chinesische Außenpolitik sowohl von der sowjetischen Praxis des "Revolutionsexports" als auch von westlichen Strategien des "Regime-Change" und "humaner Interventionen".
Ebenso maßt sich die chinesische Führung nicht an, über die Menschenrechtslage in anderen Staaten zu urteilen und Bedingungen zu stellen. Diese Haltung wird mit der Anerkennung eines Wertepluralismus erklärt, wonach jedes Land einzigartige historisch-kulturelle Besonderheiten aufweist. Indem deren Respektierung verlangt wird, verschafft sich China zugleich eine argumentative Grundlage, ausländische Kritik als Einmischung in innere Angelegenheiten zurückzuweisen. Über die Bereitschaft, anderen Kulturen und Wertvorstellungen unvoreingenommen zu begegnen, eröffnet sich Chinesen gleichermaßen ein tieferer Einblick, den sie aktiv nutzen, um von den Erfahrungen anderer Länder zu lernen.
Dementgegen ist das bevölkerungsreichste Land der Erde den westlichen Bürgern weitgehend fremd geblieben. Eine eurozentrische Brille, verbunden mit einem hohes Maß an Überheblichkeit, macht es vielfach unmöglich, das Verhalten und die Motive einfacher chinesischer Bürger wie auch ihrer Regierung korrekt zu deuten. Befürchtungen, dass im Zuge eines "Great Reset" chinesische Entscheidungsstrukturen auf den Westen übertragen werden könnten, mögen berechtigt sein, sie werden jedoch keineswegs durch Äußerungen der dortigen Führung genährt. Die vielbeschworene mediale Einflussnahme Chinas beschränkt sich weitgehend auf Selbstdarstellung und eine Zurückweisung erhobener Vorwürfe. Anders als westliche und russische Medien mit vornehmlich ausländischem Publikum fungieren chinesische Informationsdienste nicht als Bühne für oppositionelle Kräfte jener Länder.
Strebt China eine globale Dominanz an, oder beschränkt sich das Land darauf, Win-win-Konstellationen zu nutzen? Die USA proklamieren ihren Führungsanspruch explizit, mal begründet als oberster Hüter der Menschenrechte, mal als "God's Own Country". Auch Hitler verhehlte nicht seine Pläne einer "Eroberung von Lebensraum", und das britische Königreich bezweckte mit der Erweiterung des Kolonialbesitzes erklärtermaßen die Festigung seiner internationalen Herrschaftsposition. Gleichfalls wurden bei den Feldzügen des Mittelalters und der Antike imperiale Intentionen offen ausgesprochen. Dagegen bekundet die chinesische Führung wiederholt, nur Teil einer multipolaren Welt sein zu wollen. Sollte dies reine Augenwischerei sein, hinter der sich ein globaler Machtanspruch verbirgt, dann handelte es sich um ein geschichtliches Novum.
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