Hier die "freie" westliche Presse, dort die Propaganda-Organe des Kremls, Chinas, des Iran oder sonst irgendeines Staates, dessen Politik nicht den Erwartungen und Wünschen der "Wertegemeinschaft" entspricht. Die Medien dieser "Schurkenstaaten" betreiben einseitige Desinformation. Westliche Medien hingegen sind dem Profit verpflichtet und daher vollkommen unabhängig in ihrer Berichterstattung. So lautet in aller Kürze und Unvollständigkeit die in sich bereits unschlüssige Saga der "freien Medien".
Als deren Flaggschiff gilt vor allem auch die New York Times (NYT). Auch durch etliche Hollywood-Erzeugnisse gefördert, umweht die Journalisten der Times das Image der unbeugsamen und radikal-investigativen Ausnahmejournalisten, die sich ein ums andere Mal ohne Rücksicht auf Verluste mit den Mächtigen anlegen. Am Ende obsiegt dann stets die Feder über die perfiden Versuche, die wackeren Verfechter von Wahrheit und journalistischer Pflicht an die Leine zu legen.
Wenn die NYT dann selbst wie selbstverständlich und daher beiläufig erwähnt, dass sie den einen oder anderen Artikel vor Veröffentlichung von staatlichen Stellen "prüfen" lässt, ist das eben Zeichen von besonderer journalistischer Sorgfalt. So geschehen zuletzt am 15. Juni, als die NYT über die eskalierenden Cyberangriffe der US-Regierung gegen das russische Stromnetz berichtete. In dem Artikel heißt es, dass die "Trump-Regierung neue Befugnisse nutzt, um Cyberwerkzeuge aggressiver einzusetzen". Dies sei Teil eines größeren "digitalen Kalten Krieges zwischen Washington und Moskau".
Nach Veröffentlichung griff Trump die Times auf seinem bevorzugten Kommunikationsweg Twitter frontal an und bezeichnete den Inhalt des Artikels "als Akt des Verrats". Das PR-Büro der New York Times antwortete Trump über seinen offiziellen Twitter-Account aus und verteidigte die Veröffentlichung mit dem Hinweis, dass sie schließlich vorab von der US-Regierung abgesegnet worden sei.
Die Presse des Verrats zu beschuldigen ist gefährlich", konterte das Kommunikationsteam der Times. "Wir haben den Artikel vor Veröffentlichung der Regierung gegenüber beschrieben.
Und weiter:
Wie unsere Geschichte [Artikel, Anm. d. Red.] festhält, sagten die nationalen Sicherheitsbeamten von Präsident Trump, dass es keine Bedenken gebe", ergänzte das PR-Team.
Dass der US-Präsident mutmaßlich nicht über alle Vorgänge innerhalb seines engsten Zirkels auf dem Laufenden gehalten wird, ist die eine Sache, eine andere ist es, wenn sich ein renommiertes Medienerzeugnis die eigenen Artikel vorher von staatlichen Stellen absegnen lässt. Ganz zu schweigen davon, dass dies offensichtlich alles andere als ein unübliches Vorgehen ist.
Vielmehr handelte es sich beim Vorgehen der Times um eine sorgenvolle Rückversicherung, denn bereits der Bericht über die eskalierenden Cyberangriffe auf Russland wurde seitens des Medienunternehmens "aktuellen und ehemaligen [US-] Regierungsbeamten" zugeschrieben.
Der Knüller [scoop, Anm. d. Red.] kam tatsächlich von diesen Apparatschiks, nicht von einer undichten Stelle oder der hartnäckigen Untersuchung eines unerschrockenen Reporters", heißt es dazu bei dem investigativen Nachrichtenportal The Greyzone.
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Über einen Aufschrei der Medienkonkurrenz oder gar der Öffentlichkeit ist zumindest nichts bekannt. Im Gegenteil: Es war Trump, der nach seiner alles andere als ungewöhnlichen Kritik ein weiteres Mal als "Putins Puppe" kritisiert wurde und nicht etwa die NYT aufgrund ihres symbiotischen Verhältnisses zur US-Regierung. Dies ist kein Zufall, sondern folgt einem speziellen Verständnis journalistischer Ethik.
Im Mai erklärte der neokonservative Kolumnist der Washington Post, Marc Thiessen – ein ehemaliger Redenschreiber von Präsident George W. Bush –, dass der WikiLeaks-Gründer, der nach wie vor in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis einsitzt, ein "Spion" sei, der "Gefängnis verdient" habe. Selbst "den Teufel" wollte Thiessen einst in Assange erkannt haben. Dies ist etwas sehr weit hergeholt, könnte man vermuten. Das sieht Thiessen anders.
Im Gegensatz zu "seriösen Nachrichtenorganisationen gab Assange der US-Regierung keine Gelegenheit, die geheimen Informationen zu überprüfen, die WikiLeaks veröffentlichen wollte, damit sie Einwände aufgrund der nationalen Sicherheit erheben konnten", schrieb Thiessen.
Auf diese Weise haben verantwortungsbewusste Journalisten nichts zu befürchten", so Thiessen weiter.
Erst die Zusammenarbeit mit der Regierung also und die Zensur der eigenen Berichterstattung zum Wohl der sogenannten "nationalen Sicherheit" unterscheidet einen unseriösen von einem verantwortungsbewussten Journalisten. Im Jahr 2018 veröffentlichte der ehemalige Reporter der New York Times, James Risen, in The Intercept einen Artikel, der weitere Einblicke in die erwähnte symbiotische Beziehung gewährt.
Risen erläuterte, wie seine Redakteure "durchaus bereit waren, mit der Regierung zusammenzuarbeiten". Es gebe eine "informelle Vereinbarung" zwischen dem Staat und der Presse, die darauf basiere, dass US-Regierungsbeamte "regelmäßig leise Verhandlungen mit der Presse führten, um zu versuchen, die Veröffentlichung sensibler Geschichten zur nationalen Sicherheit zu stoppen".
Damals habe ich mich normalerweise diesen Verhandlungen angeschlossen", erklärte der ehemalige Times-Reporter.
So habe er vor den Anschlägen vom 11. September 2001 einen Artikel über Afghanistan schreiben wollen. Doch er hatte die Rechnung ohne den damaligen CIA-Direktor George Tenet gemacht. Dieser rief Risen persönlich an, um ihn darum zu bitten, den Artikel doch besser nicht zu veröffentlichen.
Er sagte zu mir, dass die Offenlegung [der Geschehnisse, Anm. d. Red.] die Sicherheit der CIA-Offiziere in Afghanistan gefährden würde. Ich habe zugestimmt", räumt Risen ein.
Laut Risen habe er sich später gefragt, ob dies die richtige Entscheidung gewesen sei oder nicht.
Wenn ich die Geschichte vor dem 11. September gebracht hätte, wäre die CIA wütend gewesen, aber es hätte zu einer öffentlichen Debatte darüber geführt, ob die Vereinigten Staaten genug taten, um bin Laden zu fangen oder zu töten. Diese öffentliche Debatte hätte die CIA dazu gezwungen, sich mehr dabei zu bemühen, bin Laden zu kriegen.
Dieses Dilemma veranlasste Risen nach eigener Aussage dazu, zu überdenken, ob er weiterhin den Forderungen der US-Regierung, Artikel zu zensieren, entsprechen wolle.
Und das brachte mich letztendlich auf Kollisionskurs mit den Redakteuren der New York Times", so Risen weiter.
Seiner Ansicht nach handelte es sich bei der "nationalen Sicherheit" als Argumentationsgrundlage ohnehin nur um einen Vorwand.
Nach den Anschlägen vom 11. September begann die Bush-Regierung verstärkt damit, die Presse zu bitten, Geschichten zu unterdrücken [to kill stories, Anm. d. Red.]. Sie taten es so oft, dass ich am Ende überzeugt war, dass die Regierung die nationale Sicherheit anrief, um Geschichten zu zerstören, die nur politisch peinlich waren.
Im Vorfeld des Irak-Krieges eckte Risen nach eigener Aussage häufig bei den Redakteuren der Times an, weil er es wagte, das, was sich später als Lügen der US-Regierung herausstellte, zu hinterfragen. Artikel, die Fragen über die Geheimdienste aufwarfen, insbesondere was die Behauptungen der Regierung auf eine Verbindung zwischen dem Irak und Al-Qaida anbelangte, wurden abgewürgt, begraben oder ganz aus der Zeitung gehalten", erläutert Risen.
Seinen Erfahrungen nach bevorzugte der Chefredakteur der New York Times, Howell Raines, "Geschichten, die den Kriegsfall unterstützten". Die Regierung von US-Präsident Barack Obama habe den "Krieg gegen die Presse" dann noch weiter verschärft.