Einer neuen Generation von US-Lehrern gilt Shakespeare weniger als Ikone der Literatur und mehr als Werkzeug imperialer Unterdrückung, schreibt die konservative US-Zeitung Washington Times.
Vor allem im Hinblick auf die sogenannten Gleichstellungsfragen gilt die Weltsicht des Klassikers als problematisch. "Hier geht es um weiße Vorherrschaft und Kolonialisierung", erklärte eine Gruppe von Hochschullehrern, die den Blog #DisruptTexts gründete. Die Blog-Autoren beteiligen sich an zahlreichen Twitter-Diskussionen und besprechen alternative Lehrpläne, wonach die Stücke des Originals in verwässerter Version mit ergänzenden Texten präsentiert werden sollen. Einige wollen Shakespeare sogar ganz aus den Lehrplänen streichen.
Der Kampf gegen Shakespeare begann nicht im Jahr 2021 oder gar 2020. Im Dezember sei es fünf Jahre her, dass Studenten der University of Pennsylvania ein Porträt des englischen Barden aus ihren Ivy-League-Hallen entfernten. Laut der Washington Times brachten die Organisatoren hinter #DisruptTexts Shakespeare bereits im Oktober 2018 ins Fadenkreuz ihrer Kritik.
Doch wenn Shakespeare-Kritik bis vor Kurzem eher die Sache einiger Aktivisten war, erreichte das Umdenken inzwischen angesehene Literatur-Periodika. Das School Library Journal (SLJ), das sich selbst als "die führende Publikation für Bibliothekare und Informationsspezialisten, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten" beschreibt, schloss sich in diesem Jahr dem Trend an und bot Romane für junge Erwachsene als Alternativen zu Shakespeares Klassikern wie "Hamlet", "Macbeth" und "King Lear" an.
"Eine wachsende Zahl von Pädagogen (...) kommt zu dem Schluss, dass es an der Zeit ist, Shakespeare beiseitezulegen oder zu vernachlässigen, um Platz für moderne, vielfältige und inklusive Stimmen zu schaffen", heißt es in dem Aufsatz desSLJ mit dem Titel "To Teach or Not to Teach: Is Shakespeare Still Relevant to Today's Students?"
Entgegen der Vorstellung, dass Shakespeare die Literatur "für alle Zeiten" schuf, entgegnete die Autorin, dass er sehr wohl Kind seiner Zeit gewesen sei: "Shakespeares Werke sind voller problematischer, veralteter Ideen, mit viel Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Homophobie, Klassismus, Antisemitismus und Misogynie. Was die Frage aufwirft: Ist Shakespeare wertvoller oder relevanter als unzählige andere Autoren, die in den letzten rund 400 Jahren meisterhaft über Angst, Liebe, Geschichte, Komödie und Menschlichkeit geschrieben haben?"
Der Artikel stellt zahlreiche Pädagogen vor, die Shakespeares Werk hinterfragen und "Alternativen für die Aktualisierung und Verbesserung von Lehrplänen anbieten". Eine Englischlehrerin der Twin Cities Academy in St. Paul, Minnesota erzählte dem SLJ, dass sie ihren Schülern marxistische Theorie vermittelt, wenn sie über Shakespeares Tragödie "Coriolanus" über den römischen Anführer unterrichtet. Eine andere Pädagogin erzählte dem Journal, dass sie ihren Schülern bei der Lektüre von "Romeo und Julia" an der High Technology High School in Lincroft, New Jersey eine "toxische Männlichkeitsanalyse" vermittelt.
"Wir glauben, dass Shakespeare nicht mehr und nicht weniger literarische Verdienste als jeder andere Dramatiker hat", schrieb Lorena German, eine Lehrerin, die den Hashtag #DisruptingShakespeare ins Leben rief.
"Er ist nicht 'universell' in einer Weise, wie es andere Autoren nicht sind. Er ist nicht 'zeitloser' als jeder andere."
Shakespeare-kritischen Lehrern wird dringend empfohlen, zeitgenössische Jugendromane als Ersatz oder Ergänzung hinzuzuziehen. Dazu gehören "The Hunger Games" und "Poet X", in dem es um einen jungen schwarz-hispanischen Teenager in Harlem geht, der gegen die religiöse Erziehung seiner Mutter rebelliert und sich in Slam Poetry wiederfindet. Angeboten werden können auch "Nacherzählungen von Macbeth für die #MeToo-Generation" oder Bücher, die sich mit dem Thema Rasse und "queeren" oder "lesbischen" Geschichten beschäftigen, heißt es in einem Artikel des SLJ.
Nach Ansicht der Kritiker ist der Trend nichts anderes als ein weiterer Ausdruck der sogenannten Cancel Culture, die statt Bildung "aktivistisches Denken" vermittelt. "Es ist eine neue Version der Stornokultur", sagte Peter Wood, Präsident der konservativen National Association of Scholars, der Washington Times. "Sie haben wenig Wertschätzung für die großen Bücher."
Neue Ansätze seien eng zugeschnitten, um Teile der Schülerschaft anzusprechen, tun aber den angehenden Studenten Unrecht und seien vor allem dazu da, ihnen radikale politische Konzepte zu vermitteln, so Wood.
"Es ist ein Wettlauf nach unten mit schlechten Ideen", sagte er. "Sie präsentieren sich als die allwissenden Gurus der Weisheit, und an den meisten Universitäten haben sie bereits gewonnen."
Der britische Buchautor und LiteraturkritikerAlexander Adams beobachtet dieselben Tendenzen auch an den britischen Hochschulen. Auch dort schreitet mancherorts die "Entsorgung der Klassiker" voran, schreibt er in einem Artikel. Diese Tendenz könne zu einer Spaltung des Bildungssystems führen, indem die Anglistikstudenten, die sich eine traditionelle Ausbildung wünschen, sich künftig an konservativere Institutionen wenden. Ein Abschluss an einer von "Diversity-Inclusion-Equity" geprägten Universität würde dagegen potenziellen Arbeitgeber bereits im Vorfeld signalisieren, dass ihre Absolventen von Gerechtigkeitsaktivismus durchdrungen sein könnten. Solche Absolventen sind laut Adams unterdurchschnittlich gebildet und überdurchschnittlich rechthaberisch.
"Alles durch die Linse der angeblichen 'Rassen' zu betrachten, schränkt unser Verständnis und unsere Empathie ein. Es zwingt uns dazu, 'Stammesloyalitäten' über persönliche Affinitäten zu stellen. Generationen der Weisheit unserer Menschheitsgeschichte zu entsorgen, ist ein Rezept für eine Zukunft, die von Ignoranz, Intoleranz und Spaltung geprägt wäre. Jeder, der die Klassiker gelesen hat, hätte uns das sagen können", schreibt Adams.
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