von Wladislaw Sankin
Der Moderator Josef Janning von der paneuropäischen Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) stellt auf einem Podium in Berlin-Mitte den nächsten Redner vor: den britischen Banker und antirussischen Aktivisten Bill Browder. Browder erwirkte 2012 das Gesetz, dem zufolge die US-Regierung russische Beamte verfolgen kann. Formaler Grund: angebliche Menschenrechtsverletzungen durch russische Vollzugsorgane beim Tod von Browders Steuerprüfer Sergei Magnitski. Seit Jahren ist Browder aktiv dabei, auch in der EU ein "Magnitski-Gesetz" zu erwirken.
Nun übernahm er bei einer Debatte des Medienunternehmens "Intelligence Squared" zusammen mit einer britischen Journalistin und Buchautorin den Part des Putin-Kritikers. Die Veranstaltung fand am 26. November im Kaiserin-Friedrich-Haus in Berlin unter dem Titel statt: "The West Should Make Amends With Putin" ("Der Westen sollte sich mit Putin versöhnen").
Das Pikante dabei ist: Wenige Tage zuvor hat Der Spiegel in seiner Samstagsausgabe einen investigativen Artikel über Bill Browder veröffentlicht. Das Spiegel-Longread stellt Browder im Grunde als Blender dar, der die Öffentlichkeit für seine persönliche Fehde mit Wladimir Putin täuscht. Zumindest lässt er an Browders tausendfach verbreiteter und in die Gesetzgebung eingeflossener Story stark zweifeln. Bleibt das von Moderator unerwähnt?
Nein. Gleich zu Anfang erwähnt Janning den Spiegel-Artikel, bezeichnet ihn als Browder-kritisch. An dem überraschenden Bericht eines Mainstreammediums, der mit dem gängigen Narrativ zum Magnitski-Fall bricht, kommt der Veranstalter nicht vorbei. Die weitere Ankündigung des "Experten" Browder hat daher etwas Entschuldigendes. Moderator Janning nennt ihn "Aktivist" und sagt, Browder werde auf dem Podium über seine vielseitige Erfahrung mit Russland sprechen.
Bill Browder lächelt. Er kennt den Artikel, denn die Spiegel-Autoren haben ihn im Zuge ihrer Recherchen vier Stunden lang in seinem Büro ausgefragt. Das Gespräch hat ihren Verdacht gegen Browder bestärkt. Trotzdem, sein Blick, den er der Menge zuwirft, wirkt fast triumphierend: Sie bleibt wohlwollend, lacht und spendet den Rednern auf dem Podium regelmäßig Applaus.
Browder war in der Tat seit Mitte der 1990er-Jahren als Investmentbanker und Finanzjongleur in Russland tätig, als sich die kapitalistische Oligarchie auf den Trümmern des Sozialismus bildete. Als sich Präsident Putin auf die Seite der Ermittler gegen Yukos-Chef Michail Chodorkowski stellte, unterstützte Browder ihn und schrieb für westliche Medien einen Pro-Putin-Artikel. Das blieb so, bis ihm die russischen Behörden Steuerhinterziehung vorgeworfen haben.
Seit 2005 hat der "Russland-Kenner" ein Einreiseverbot nach Russland, im Juli 2017 wurde er in Abwesenheit wegen vorgetäuschter Insolvenz und Steuerhinterziehung zu neun Jahren Haft verurteilt.
Diese Umstände blieben vom Moderator unerwähnt. Russland sei ja sowieso ein "Mafia-Staat", wie gut 200 Zuschauer wenige Minute zuvor von seiner "Teamkollegin" Carole Cadwalladr auf dem Podium hörten, wen sollte dann das Urteil gegen Browder interessieren? Die britische Guardian-Journalistin Cadwalladr, die den Skandal um Cambridge Analytics aufgedeckt hat und dafür den Pulitzer-Preis erhielt, und Browder sind die eigentlichen Stars der Veranstaltung. Mit ihren Namen hat die Diskussionsplattform Intelligence Squared die Veranstaltung im Netz massiv beworben.
Diese Diskussionsplattform veranstaltet in europäischen Hauptstädten Debatten im "Oxford-Stil". Es treten zwei Teams mit je zwei Sprechern gegeneinander auf, die das Publikum jeweils von ihrem Standpunkt überzeugen müssen. Gleich zu Beginn wird per Online-Abstimmung gemessen, welcher Standpunkt beim Publikum besser ankommt. Gegen Cadwalladr und Browder stellen sich zwei angesehene, international vernetzte Professoren – Politikwissenschaftler und Autoren zahlreicher Bücher.
Beide, der Franzose Dominique Moïsi und der Brite Richard Sakwa, plädieren leidenschaftlich für den Ausgleich mit Russland. Die Vorababstimmung zeigt: Für ihre Position würden nur 19 Prozent der Zuschauer votieren, 60 Prozent lehnen sie ab. Wie viele Zuschauer sie mit ihren Argumenten überzeugen können, wird die Endabstimmung zeigen.
Was bei der Debatte im vornehmen Berliner Kaiserin-Friedrich-Haus passiert, kann man als ungleichen Meinungskampf bezeichnen. Die ausgewogene Sicht Moïsis und Sakwas auf das Verhältnis zu Russland, die unter Berücksichtigung von Geschichte, Geopolitik und Kultur zustande kommt, wird von den Vorwürfen der Putin-Gegner torpediert. Kein Ausgleich, härter soll mit Putin umgegangen werden.
Das Bild, das Browder und Cadwalladr zeichnen, besteht aus Behauptungen der Mainstreampresse, die durch ständige Wiederholung zu vermeintlichen Gewissheiten geworden sind: Russland habe sich massiv in Wahlprozesse in den USA und Europa eingemischt, Desinformation gestreut und Meinungen manipuliert, um die Demokratien zu gefährden. Außerdem habe Putin auf britischem bzw. europäischem Boden seine Gegner brutal ermorden lassen.
Browder führt weiter aus: Russland betreibe im großen Stil Staatsdoping, verschiebe gewaltsam seine Grenzen, bombardiere Krankenhäuser und Schulen in Syrien und habe bereits 15.000 ukrainische Soldaten getötet.
Eine Quelle für diese Zahlen nennt Browder nicht. Er lügt nachweislich: Laut UNO gibt es etwa 4.000 tote ukrainische Soldaten, die im Kampf gegen die Rebellen der selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk gestorben sind, den Rest der insgesamt 13.000 Todesopfer des Krieges machen Kämpfer der Gegenseite und Zivilisten aus.
Seine Kontrahenten auf dem Podium sind liberale Intellektuelle mit einer langen akademischen Karriere. Für Moïsi liegt das Entgegenkommen an Russland im pragmatischen Interesse. "Lasst uns Russland einbeziehen, wenn wir können, und es eindämmen, wenn wir müssen", sagt er. Da Trump derzeit für den Westen gefährlicher sei, sei Putin einzubinden, zumal er noch fünf Jahre in Russland an der Macht bleiben wird. "So lange mit Trump schaffen wir nicht."
Mit den USA verbinden uns Werte, mit Russland Geschichte und Geographie", sagt Moïsi und verweist darauf, dass das Wertebündnis mit den USA unter Trump derzeit am Zerbröckeln ist.
Der Experte sieht auch keinen Gegensatz zwischen Putin und dem russischen Volk – eine These, die die britische Journalistin aufgestellt hat: Wir hätten es mit einem "kollektivem Putin" zu tun. Dennoch, Putin persönlich hält Moisi für einen "schlechten Typ" ("Putin is bad").
Der britische Experte Richard Sakwa, der lange an der Moskauer High School of Economics gelehrt und mehrere Bücher über Putin geschrieben hat, nimmt auf dem Podium die Rolle des Verteidigers Russlands ein. Es sei nicht alles so schlecht in Russland. Auch von dem Vorwurf, in Russland herrsche eine Kleptokratie, hält er nicht viel und verweist auf derzeit in Russland laufende nationale Projekte wie etwa eine Gesundheitsreform. Für ihn gibt es keinen Zweifel, dass Russland zu Europa gehört.
Gegen Ende, als wieder einmal der Vorwurf der Desinformation erhoben wird, entgegnet Sakwa, er gebe kein Gesetz, das dieses übliche Mittel der Politik verbietet. Nach der Diskussion kommen wir ins Gespräch. Über seine Kontrahenten sagt er auf Russisch: "Es ist wahnsinnig (бред), was sie da sagen!" Er habe aus dem Publikum wenigstens eine kritische Frage an Browder erwartet.
Wie unterschiedlich das intellektuelle Niveau des "Pro-" und des "Kontra"-Duos auch gewesen sein mag, bei der zweiten Abstimmung am Ende der Debatte konnten die Professoren nur fünf Prozent von sich überzeugen: Nun waren es 24 Prozent von knapp hundert "Wählern", die für eine Annäherung an Russland gestimmt haben, während 59 Prozent die Konfrontation mit Russland vorziehen. Die anwesenden Gäste – gefühlt die Hälfte englischsprachig – kommen offenbar aus dem Umfeld der internationalen westlich-liberalen Thinktanks. Auf die Frage der Veranstalter, ob es "im Interesse Europas [liege], Macrons Führung zu folgen und zu versuchen, Putin wieder in Richtung Westen zu drehen", haben sie also mit einem klaren "Nein" geantwortet.
Die Abstimmung war nur ein Gedankenspiel, aber sie zeigte eines: Bill Browder kann in Berlin auch nach dem kritischen Artikel unbeschadet in Ruhm baden. Seine Geschichte vom "bösen Russland" scheint nach wie vor gefragt zu sein. Ihr Wahrheitsgehalt interessiert nur die Wenigsten.
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